Ob Angela Merkel, wenn sie so in die Runde ihres frisch gekürten vierten Kabinetts schaut, das eine oder andere vertraute Gesicht vermissen wird? Etwa den lästigen, aber leicht zurechtzuweisenden Fahnenwedler? Oder den Innenminister, der den infantilen Untertanen keine beunruhigenden Informationen zumuten konnte? Aber gut, der ist immerhin durch einen „Null-Toleranz“-und-Masterplan-für-Abschiebungen-Mann ersetzt. (Meldungen, ein Nachrichtenkonsument habe sich aufgrund dieser Ankündigungen des neuen Ministers zu Tode gelacht, wurden inzwischen als Fake-News entlarvt.)
Neben dem Ausscheiden weiterer beliebter Minister schmerzt die Kanzlerin (und einen beträchtlichen Teil der deutschen Öffentlichkeit) aber wohl insbesondere die Tatsache, dass der Sozialdemokrat Sigmar Gabriel nicht mehr am Kabinettstisch sitzen darf. Immerhin handelte es sich doch um den zumindest in den letzten Monaten allerbeliebtesten deutschen Politiker. Und für so einen ist kein Platz mehr? Eine Schande.
Bevor Sigmar Gabriel im Januar 2017 zum Bundesminister des Auswärtigen ernannt wurde, übte er eine Vielzahl von Ämtern aus. Und bei jeder dieser Aufgaben war ihm die Freude und Lust daran förmlich ins Gesicht gemeißelt.
Die niedersächsische Landespolitik spülte ihn 1999 in der Fast-Nachfolge Gerhard Schröders (nach dem Kurzauftritt des glücklosen Gerhard Glogowski) in das Amt des Ministerpräsidenten. Damals war Gabriel noch nicht ganz so beliebt, 2003 verlor er die Landesvaterschaft an Christian Wulff (dem seinerseits noch eine blendende Karriere bevorstehen sollte). Ob der nun freien Kapazitäten wurde Gabriel innerhalb seiner Partei „Beauftragter für Popkultur und Popdiskurs“. Nur unreife, pubertäre Seelen, bar jeder Kenntnis der Alltagmühen der politischen Arbeit, verzogen insbesondere bei der Kurzform „Popbeauftragter“ die Mundwinkel nach oben. Unfair gegenüber der guten, alten Sozialdemokratie, die sich immer wieder bemüht, möglichst alle Bevölkerungsteile (früher: Teile des Volkes) einbindend anzusprechen.
Der Gipfel für Gabriel
Als ausgewiesener Sachkenner wurde Gabriel in der ersten Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel 2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, nach vierjährigem Intermezzo (Merkel führte zwischenzeitlich eine Ehe mit der FDP, weshalb ein SPD-Parteibuch einem Ministeramt hinderlich war) dann Bundesminister für Wirtschaft und Energie. Besagtes Intermezzo setzte Kapazitäten frei. Gabriel übernahm 2009 den Parteivorsitz der SPD. Einmal in Übung konnte er das Amt, trotz wiedereinsetzender ministerieller Belastung bis Anfang 2017 ausüben. Eine Abwägung fällt mitunter schwer, Ministerpräsident ist schon recht gut, immerhin ein Landesfürst.
Aber schließlich gilt das Auswärtige Amt doch als das Ministerium schlechthin. (Ein äußerliches Kennzeichen ist übrigens, dass es formell eben nicht als „Ministerium“ fungiert, sondern die aus tiefsten Kaiserzeiten stammende Bezeichnung „Auswärtiges Amt“ beibehalten hat.) In der Prestigeträchtigkeit ist diese Position unmittelbar hinter dem Bundeskanzler zu verorten. Man kann also durchaus behaupten, dass Gabriel, bekanntlich polyglott und auf internationalem Parkett sicher agierend, hier auf einem Gipfelpunkt angelangt war. Hinzu kam das Amt des Vizekanzlers, welches er bereits seit 2013 innehatte.
Es sollen Stimmen laut geworden sein, die nach dem Grund von Gabriels Beliebtheit fragten. Dabei ist Zweifeln doch so leicht mit einem einfachen Gedankenexperiment zu begegnen. Wären alle Positionen statt Gabriels Amtsführung dauervakant gewesen: Was würde nicht alles fehlen? Welche Aufgaben wären nicht liegengeblieben? Welche Lösungen und Weiterentwicklungen, welche Fortschritte wären uns nicht vorenthalten worden?
Bei so viel Leistung zum Wohle des Landes: Was stört es da, wenn er bösen Demonstranten am liebsten beide Finger zeigen würde, manchmal aber nur eine Hand frei hat? Auch das Wort „Pack“ ist ab und an ganz passabel. Von einem Bundesminister und Vizekanzler erwarten nun wirklich nur noch ausgemusterte Oberlehrer einen gewissen Benimm- und Vorbildstandard, und zwar gegenüber jedermann. (Dies war früher das Ergebnis von Erziehung, sollte es hier Defizite gegeben haben, war auch ein Nachholen mittels Bildung und Ausbildung möglich. Aber wie gesagt, graue Vorzeit).
Auch dass der Bundesminister des Auswärtigen wichtige Amtstermine absagt, als sich erste Anzeichen wahrnehmen ließen, dass das Postenkarussell der neuen Bundesregierung möglicherweise ohne ihn Fahrt aufnehmen würde und sich in sein Goslarer Refugium zurückzog, ist völlig verständlich. Eben ein Job wie jeder andere. Zudem war Gabriel in der niedersächsischen Heimat als Mann ohne Haare im Gesicht willkommen.
Die Traumergebnisse des abtretenden Genossen
Dabei hatte er erst kurz zuvor ein diplomatisches Meisterstück vollbracht: Die Freilassung des mehr als ein Jahr in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel – und zwar gänzlich ohne Gegenleistung. Auch von dem unverdient ungerechten Bundestags-Wahlergebnis für die SPD vom 24. September 2017 (20,5 Prozent) hätte er sich nicht abhalten lassen, weiter ein Ministeramt zu bekleiden, vorzugsweise eben im Auswärtigen Amt. Schließlich hatte er das Wahlergebnis nicht zu verantworten, unter seinem Vorsitz hatte die SPD 2013 wesentlich bessere Werte (25,7 Prozent) und verglichen mit den Umfragen dieser Tage (Allensbach, „Sonntagsfrage“ vom 11. März 2018: 17,5 Prozent) ein nahezu traumhaftes Ergebnis erreicht.
Staatsmännisch souverän bescheinigte Gabriel seinem Nachfolger Heiko Maas (der noch nicht ganz so beliebt ist wie Gabriel, aber das kommt sicher bald), dass er bei dieser Personalie ein „ausgesprochen gutes Gefühl habe“, Maas werde „das exzellent machen“. Gabriel selbst gehe es gut. Warum überhaupt eine derartige Frage aus dem Journalistenpulk aufkam, ist unverständlich, man sehe sich die Anfangsminuten der Tagesschau vom 8. März mit diesen Szenen ruhig noch einmal an.
Denn zu tun hat Gabriel immer, worauf er ja nun wirklich schon deutlich hingewiesen hat. An der Volkshochschule Niedersachsen gebe es noch einen ruhenden Arbeitsvertrag, Deutsch für Ausländer habe er dort bereits einmal unterrichtet. Wohlan! Oder wie es der ausgemusterte Oberlehrer etwas umständlicher, aber gleichbedeutend sagen würde: Hic Rhodus, hic salta!
Das wird die Zeit von Sigmar Gabriel allerdings kaum ausfüllen. Ein weiteres, sich nahezu aufdrängendes Vorhaben ist nahezu klassisch: Ein Buch. Ein Titel für das Memoirenwerk, der sowohl der Enttäuschung, trotz exorbitanter Beliebtheit in Frührente geschickt zu werden, als auch dem bevorzugten Duktus des Bundesministers des Auswärtigen a.D. Sigmar Gabriel (und anderer SPD-Führungskräfte) gerecht wird, wäre schnell zur Hand: „Schnauze voll“.