Chaim Noll / 02.04.2020 / 06:26 / Foto: Freud / 86 / Seite ausdrucken

„Sie werden uns ihre Freiheit zu Füßen legen“

In Dostojewskijs letztem Roman Die Brüder Karamasow von 1880 gibt es eine seltsame Textpassage, scheinbar ohne Zusammenhang zur eigentlichen Handlung, eingeschaltet als mündliche Erzählung eines der Protagonisten. Im spanischen Sevilla des 16. Jahrhunderts erscheint ein Mann, der bei seinen öffentlichen Reden großen Zulauf hat und den viele für Jesus halten. Er wird beobachtet, denunziert und von der Inquisition verhaftet, der Großinquisitor selbst verhört ihn des Nachts in seiner Zelle. Das Gespräch kreist um Jesu berühmten Wüstenaufenthalt und die Versuchung durch den Satan, die Jesus von sich wies, ferner um die Konzepte „Sicherheit“ und „Freiheit“, wobei „Sicherheit“ hier durch die Brote symbolisiert wird, die Jesus aus Steinen hervorzaubern sollte.

Der Großinquisitor erklärt, Jesus hätte die Menschen überfordert, indem er ihnen die Freiheit zutraute. Doch die Freiheit könnten sie nicht lange ertragen, sie sei für die meisten von ihnen eine viel zu schwere Last. In Notzeiten vor die Entscheidung gestellt, ob sie lieber in Sicherheit oder in Freiheit leben wollten, würden sie sich für die Sicherheit entscheiden, für das Brot. „So wird es denn damit enden“, sagt der Großinquisitor, „dass sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und sagen: 'Knechtet uns, aber macht uns satt'.“ Beziehungsweise – Sättigung als Metapher für Sicherheit gesetzt – „gebt uns Sicherheit“.

Dostojewskijs Skepsis gegenüber der Haltbarkeit eines auf persönlicher Freiheit basierenden, demokratischen Systems gründete sich nicht nur auf die in den Evangelien überlieferte deprimierende Menschenkenntnis des Satan, sondern auch auf die schon früher, im biblischen Buch Samuel, beschriebene Transformation der proto-demokratischen Regierungsform der Israeliten in eine autoritäre Alleinherrschaft. Die Israeliten wurden in den ersten Jahrhunderten nach Eintritt ins „Gelobte Land“ von Juristen („Richtern“) regiert, die ihrerseits von einem Parlament („Ältestenrat“) gewählt waren, neben der judikativen und legislativen Gewalt gab es als dritte Säule die Priesterschaft, die allerdings ohne weltliche Macht blieb, da ihr nach dem Mosaischen Gesetz der Landbesitz versagt war.

Populäre Sehnsucht nach einer stärkeren Staatsform

Dieses früheste System der Gewaltenteilung zeigte jedoch Schwächen in Zeiten von Kriegen, Krisen und Katastrophen, woraus eine populäre Sehnsucht nach einer stärkeren Staatsform erwuchs. Eine auffällige Parallele zu unseren Tagen bestand darin, dass sich der Wechsel der Herrschaftsform in ein und der selben Person vollzog, in der Verwandlung des letzten gewählten Richters Saul in einen Monarchen mit allen angemaßten autoritären Rechten, die der biblische Gott seinem Volk warnend, jedoch vergeblich vor Augen hielt (1 Samuel 8,10 ff.): der neue Moloch werde sie mit Steuern bedrücken, sie wirtschaftlich ruinieren, „und ihr müsst seine Knechte sein“ etc.

Dostojewskij war seit seiner Verbannung in Sibirien ein aufmerksamer, ständiger Leser der Bibel. Und er studierte mit großem Interesse den griechischen Philosophen Platon, der in seiner um 380 v.u.Z. entstandenen Schrift Politeia („Der Staat“) das gleiche beschrieben hatte: die Neigung der Demokratien zur Selbstzerstörung. Platon gibt als einen der Gründe für die Preisgabe der Freiheit an: Furcht. Genauer: „Todesfurcht“. Wo diese einsetzt, verliert der Wert Freiheit für die meisten Menschen seine Bedeutung, die Sehnsucht nach einem „starken Staat“ nimmt überhand, die Bereitschaft, die subtilen Strukturen der Demokratie zu zerstören und sich einer Stärke verheißenden Tyrannis zu unterwerfen.

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E Ekat / 02.04.2020

Die Todesfurcht wird schon sehr viel länger instrumentalisiert. Die Welt gehe unter, sofern wir nicht den geringen, aber durch Menschen verursachten CO2-Anteil der Atmosphäre reduzieren. Dazu muß unsere Technologie, unsere Art des Wirtschaftens inkls. unsers Fleischkonsums beendet werden. Global. Macht gefälligst, was die Grünen sagen. Orientiert Euch an der kommunistischen,  dennoch erfolgreichen Staatsplanwirtschaft Chinas, Da muß  es hingehen. Mit den USA, unter Clinton bzw. nachfolgenden Sozialisten.  Gerne Sanders. Niemals mit Nichtsozialisten, egal wo sie sich an der Macht befinden. Und natürlich die EU, die genau wie aufgestellt ist? Demokratisch, weil sie ein Parlament vorhält ? Man frage die Grünen, die ergrünte CDU, die SPD sowieso, die Linken braucht man nicht erst zu fragen. Es geht um den Sozialismus ohe Alternative. Also global. Angst regiert nun mal die Welt. Kauft e-Autos, Das e steht nicht für Emotion. Die SI - gibts offiziell nicht mehr - will das so. GEZ schauen, schließlich bezahlen wir die ja, vom obersten Gericht als Demokratie-relevant abgesegnet. Der Corona- Virus ist nur ein zufälliger Brandbeschleuniger im Ringen um die gleitende Preisgabe bestehender Rechte. Gewährte Freiheit ist keine Freiheit. Diese muß man fordern, und die Forderung durchsetzen. Das ist der Hintergrund des amerikanischen Rechts, Waffen zu tragen, um den Staat in seine Grenzen verweisen zu können. Von dieser Haltung ist ein Deutscher Lichtjahre entfernt. Also: Gleichschritt, Genossen. Bald gibt es wieder Kunstsahne. Auch irgendwie lecker.

Hans Reinhardt / 02.04.2020

Täglich belästigen sie uns mit dem Tod. Ich ertrage es nicht mehr, es interessiert mich auch nicht, wie viele täglich in Spanien und Italien sterben. Man tut gerade so, als wäre in diesen Länder vor Corona nicht gestorben worden. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass man uns praktisch stündlich mit den Todesfällen in diesen Ländern auf dem Laufenden gehalten hat. Es interessiert mich auch nicht, wer vorrangig daran stirbt; ob es hauptsächlich Alte oder doch auch Junge sind, ob das Virus eine Präferenz für katholische Junggesellen oder eher für Leute hegt, deren Nachname mit M anfängt. Was mich stattdessen entsetzt, ist die Bereitschaft von Grossteilen der Bevölkerung ihre Freiheit freudig zu entsorgen, ganz wie ein Kleidungsstück, welches aus der Mode gekommen ist. Es ist der vorauseilende Gehorsam, mit dem man sich nutzlose Masken vor das Gesicht bindet, der mich an Teilen der Menschheit verzweifeln lässt. Es ist die Sorge um all die Selbständigen, die kleinen Betriebe, die Restaurants und Hotels, deren Existenz unser Leben erst lebenswert macht, die mich nachts nicht schlafen lässt. Wollen wir wirklich so leben? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen.

Dr. Ralph Buitoni / 02.04.2020

@Werner Arning - Vielen Dank für diesen wirklich großartigen Kommentarbeitrag! Genau darum geht in diesem säkularen Kampf - die sozialistische Versuchung ist nur die neuzeitlichste Variante des ewigen großen Verführers zur Knechtschaft, dessen Meistertrick darin bestand, den “modernen” Menschen davon zu überzeugen, dass es ihn ja gar nicht gäbe.

Gertraude Wenz / 02.04.2020

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich halte Demokratie umd Meinungsfreiheit für die höchsten gesellschaftlichen Güter und bin deshalb genauso entsetzt wie alle hier, dass sie nach und nach abgebaut werden. Ich sage meine Meinung immer noch recht frei heraus und habe auch keine Angst vorm Anecken. Obwohl ich immer versuche, freundlich zu bleiben, können manche Zeitgenossen nicht mit einer abweichenden Meinung umgehen. Daher ist mein Freundeskreis sehr überschaubar geworden, was hier auch viele schon erlebt und berichtet haben. Wie weit ich für Freiheit und Demokratie kämpfen würde, auch wenn’s richtig brenzlig würde, kann ich nicht sagen. Ich fürchte, mit meinem Mut wäre es nicht weit her. Eine Sophie Scholl bin ich sicherlich nicht…

Angela Seegers / 02.04.2020

Freiheit ist ein wunderbarer Zustand, der durch Bewusstsein, Wissen und Verzicht gut ausbalanciert werden kann. Gefühle wie Gier, Neid, Selbstüberschätzung/-überhöhung sind zu vernachlässigen, da sie eine destruktive Kraft entwickeln, wenn sie Oberhand gewinnen.

Frank Pressler / 02.04.2020

Todesfurcht? Und wessen Tod geht es denn? Nur um den eignen? Auch um den derer, die einem nahe sind? Gar um den fremder Menschen? Welche Situation haben wir? Wir haben ein neues Virus, das – im Gegensatz zum Klimagedöns – real tötet; in Spanien in den letzten 24 Stunden 950mal. Gegen dieses Virus gib es noch keinen Impfschutz. Und jetzt sagen Virologen und Epidemiologen (= keine „Klimawissenschaftler“) auf der ganzen Welt, dass wir zwar noch nicht so viel über dieses Virus wissen, aber dass wir aufgrund unseres Expertenwissens dringend dazu raten, dass jeder und somit die ganze Gesellschaft sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten hat, um die Anzahl der Virusopfer signifikant zu senken, weil jeder einzelne für den anderen schon durch seine Nähe zur Todesgefahr werden kann. Wie handelt also ein freier Mensch in einer solchen Situation? Aus Furcht vor wessen Tod frei / unfrei?

Annelies Kumbroch / 02.04.2020

Sehr geehrter Herr Noll, vielen Dank für diese mutige und zutreffende Analyse. Zum stückweisen Einführen des Totalitären wird die menschliche Psyche langsam weichgemacht. Angst, Panik und die moralische Keule tun, was gewünscht wird. Viele sehen sich aufgefordert, der Menschheit mitzuteilen wie gut sie sich schon angepasst haben,, um “gemeinsam” gegen das Virus zu kämpfen. Was Ozonloch, Feinstaub, Klima immer noch nicht ganz schafften, jede existenzielle Not heraufzubeschwören, das Virus schafft es. Die Menschen werden gegeneinander getrieben und getrennt. Wer hier Kritik äußert ist “unsolidarisch”.  Wie die neue Werbung für die Bundeswehr überall für den Eintritt dort postet: Freiheit ist Freiwilligkeit. Wer dann nicht so gerne freiwillig seine Grundrechte abgibt, kann damit rechnen von den vielen “Guten”, “Freiwilligen” verpfiffen zu werden, die die Notwendigkeit ihrer Selbstentfreiheitlichung “erkannt haben”. Gerade will man uns eine Tracking-Software gut reden, auch Frau Merkel sei davon überzeugt… ganz freiwillig. Mit zunehmeden Verlustängsten seiner Existenz sowie der Brandmarkung der Nichtfreiwilligen sowie die Bankrotisierung ganzer Bevölkerungsgruppen wird der Druck immer mehr zunehmen, bis nach dem Heilsbringer geschriehen wird. Genau das steht in der Bibel, sowohl im Alten wie im neuen Testament. Natürlich macht das sehr betroffen, aber andererseits zeigt es auch, dass das stimmt! Allmählich begreift man auch den Sündenfall, die Frucht wirkt immer noch. Ich habe vor einigen Tagen zufällig mal “Stolperstein-Biographien” gelesen, nachrecherchiert wie es in vielen Städten zur Reichsprogromnacht kam. Die vielen anständigen Bürger, die sich nun dazu berufen sahen, Juden, Sinti und Roma, Geistig oder körperlich Behinderte, Politisch Andersdenkende zum Volksheil und ganz freiwillig der Folter, der Enteignung, der Entbürgerlichung, den Lagern, der Heimatlosikeit und dem Tode zu übereignen, fanden sich ganz toll.

Bernd Klingemann / 02.04.2020

@Dr. Lucas: Die Westdeutschen haben die Freiheit geschenkt bekommen, die Ostdeutschen haben sie sich zuletzt “erkämpft”. Daher sind erstere lageorientiert und letztere handlungsorientiert. Die Folge sind innere Spannungen, die die aktuellen äußeren noch verschärfen werden. Der Kampf wird so oder so nur auf der Straße geführt und entschieden.

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