Dass linke Organisationen den Holocaust gerne für ihre ganz eigenen Erzählungen missbrauchen, ist keine neue Erkenntnis. Besonders augenscheinlich wird das in ihrem Kampf gegen die vermeintliche „israelische Apartheid“, bei dem die Gleichsetzung von Israel mit dem NS-Regime immer nur einen Artikel eines BDS-Verteidigers, einen Vortrag eines Hamas-Verstehers oder einen Ship-To-Gaza-Konvoi weit entfernt ist.
Erinnert sei auch an die Aussagen von Roger Hallam, des Gründers von „Extinction Rebellion“, dass der Holocaust „nur ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte“ sei und dass „der Klimawandel […] nur das Rohr [sei], durch das Gas in die Gaskammer fließt“.
Den Vogel schießt aktuell jedoch die Flüchtlingsorganisation „Seebrücke“ ab, die es in zwei Texten vom 12. März 2020 schafft, die europäische Migrationskrise im Mittelmeerraum in einen Zusammenhang mit dem Holocaust zu bringen. Die Einwanderung und Flucht nach Europa wird so zum Abbild der faschistischen Höllenmaschinerie von Auschwitz und Treblinka. Ungeheuerlich, aber völlig ernst gemeint!
Zunächst sollte man wissen, dass sich das Bündnis „Seebrücke“ als „internationale Bewegung“, beschreibt, „getragen von verschiedenen Bündnissen und Akteur*innen der Zivilgesellschaft“. Die Bewegung solidarisiert sich „mit allen Menschen auf der Flucht“ und erwartet „von der deutschen und europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege“. Was heißt:
„Eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind – kurz: Weg von Abschiebung und Abschottung und hin zu Bewegungsfreiheit für alle Menschen.“
„Das Leben von Angehörigen bestimmter Gruppen weniger schützenswert“
Die „Seebrücke“ umschreibt die Menschenunwürdigkeit der europäischen Politik in ihrem ersten Text vom 12. März 2020 als das „Sterben zehntausender Menschen an den Außengrenzen Europas“, als das „Aussetzen des Rechts auf Asyl“ sowie in der „pauschalen Inhaftierung und kollektiven Abschiebung geflüchteter Menschen“. Daher stellt die „Seebrücke“ dieses „tausendfache Sterben von Menschen auf der Flucht“ in den historischen Kontext des industriellen Judenmords:
„1938 trafen sich bei der Konferenz von Évian 32 Staaten, um über den Umgang mit den aus Deutschland fliehenden Jüd*innen zu sprechen. Eine Evakuierung möglichst vieler Jüd*innen aus Deutschland scheiterte an der fehlenden Aufnahmebereitschaft der meisten Staaten. Zehn Jahre später blickte man bei der Generalversammlung der UN in Paris auf das größte, unfassbarste Verbrechen der Menschheitsgeschichte zurück, auf ein zerstörtes Europa, auf Millionen ermordete und Millionen vertriebene Menschen.“
Jedoch wolle man „die aktuelle Zeit nicht leichtfertig mit den 1930er und 40er Jahren vergleichen“, was die „Seebrücke“ dann dennoch tut, wenn sie schreibt, dass „das Leben von vermeintlichen Angehörigen bestimmter Gruppen“ jedoch „als prinzipiell weniger schützenswert“ gölte und diese Aussage so konkretisiert, dass das:
„Was wir jedoch erleben ist, dass das Leben von Menschen aus bestimmten Regionen, das Leben von vermeintlichen Angehörigen bestimmter Gruppen, als prinzipiell weniger schützenswert, die Grundwerte dieser Menschen als verzichtbar betrachtet werden.“
„Seebrücke Oldenburg“ relativiert Holocaust
Der Oldenburg Blog „Ferne Welten“, der zum israelsolidarischen Teil kommunistischer Gruppierungen gehört, weist auf eine erweiterte Fassung dieses Textes der „Seebrücke Oldenburg“ hin, bei der das Zusammenbringen der Shoah mit der europäischen Migrationskrise deutlich wird:
„Zehn Jahre später blickte man […] auf monströses Verbrechen in der Menschheitsgeschichte – auf ein zerstörtes Europa, auf Millionen ermordete und Millionen vertriebene Menschen, auf Millionen toter Soldat*innen und Zivilist*innen in und außerhalb Europas. […] Wir wollen die aktuelle Zeit nicht leichtfertig mit den 30er und 40er Jahren vergleichen. Was wir jedoch aktuell erleben ist, dass […] das Leben von Menschen bestimmter […] Gruppen, als prinzipiell weniger schützenswert betrachtet wird [sic!]. In der konsequenten Vollendung dieser Logik wird das Leben bestimmter Menschen selbst als verzichtbar angesehen [sic!] […] Die amerikanische Philosophin Judith Butler fragt hinsichtlich gegenwärtiger Kriege und der Abschottung von Nationen: ‚Wessen Leben gilt bereits nicht mehr als Leben oder gilt nur teilweise als Leben oder gilt schon als tot und verschwunden, noch bevor es ausdrücklich zerstört oder aufgegeben würde?‘“
Was klingt wie eine grenzenlose Verharmlosung der Schrecken des Holocaust („das Leben bestimmter Menschen selbst [wird] als verzichtbar angesehen“), ist dabei völlig ernstgemeint, da die „Seebrücke Oldenburg“ trotz mehrfacher Kritik – nachzulesen in der Kommentarspalte ihres Facebook-Posts – nur marginale Änderungen vornahm, die die wesentlichen Aussagen keinen Deut veränderten. Eher noch verschlimmern. So heißt es dort jetzt:
„Was wir jedoch aktuell erleben ist, dass das Leben von Menschen aus bestimmten Regionen, das Leben von Menschen bestimmter (vermeintlicher) Gruppen, als prinzipiell weniger schützenswert betrachtet wird. In der konsequenten Vollendung dieser Logik wird das Leben bestimmter Menschen selbst als verzichtbar angesehen [sic!] – und scheint für viele nicht einmal betrauerbar.“
Liste der Unterstützer lang wie szenetypisch
Die Liste der Unterstützer der „Seebrücke“ ist übrigens lang wie szenetypisch. Darunter findet man so prominente linke Vertreter wie die „Interventionistische Linke“, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“, „Pro Asyl“, sogar den „Chaos Computer Club Berlin e.V.“ und den „AWO Bezirksverband Niederrhein e.V.“.
Auch die Linkspartei, verschiedene Kirchengemeinden, Jan Böhmermann und nunmehr 140 „Sichere Häfen in Deutschland“ (Städte, Gemeinden und Kommunen), darunter eben auch Oldenburg, solidarisieren sich mit der „Seebrücke“. In Oldenburg erfährt die „Seebrücke Oldenburg“ politische Unterstützung von der SPD, den Grünen und der Linkspartei. Die Oldenburger Grünen schrieben Anfang Februar 2020 hierzu in einem Beitrag „#WirHabenPlatz“:
„Die Ratsfraktion Bündnis 90/Die GRÜNEN unterstützt den Offenen Brief von Seebrücke Oldenburg, in dem die Aufnahme unbegleiteter geflüchteter Kinder und Jugendlicher gefordert wird, die sich unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern auf griechischen Inseln aufhalten […] Diese menschenunwürdige Situation in den Lagern ist das direkte Ergebnis jahrelanger europäischer Politik des Wegsehens.“
Ob die genannten Parteien und Gruppierungen, insbesondere die Oldenburger Grünen, ihre Solidarität gegenüber der „Seebrücke“ nach diesen die Shoah relativierenden Texten noch immer so hochhalten?