Marcus Ermler / 08.10.2023 / 15:00 / Foto: Frank Schwichtenberg / 7 / Seite ausdrucken

Punk unter falscher Flagge

Die US-Punkband Anti-Flag wollte in diesem Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum im musikalischen Kampf gegen Kapitalismus, Krieg und Patriarchat feiern. Doch stattdessen hat sich die Band aufgelöst, da ihrem Frontsänger sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung vorgeworfen werden.

Während in Deutschland die Causa Rammstein um angebliche sexuelle Übergriffe des Bandsängers Till Lindemann Ende August 2023 von der Staatsanwaltschaft Berlin zu den Akten gelegt worden ist, weil die Auswertung der ihr vorliegenden Beweise keinen hinreichenden Tatverdacht ergeben habe, kocht in der Punkrock-Welt derweil ein Skandal hoch, der das weithin hochgehaltene progressive Selbstverständnis von Antidiskriminierung, Antisexismus und Feminismus bis ins anarchistische Mark erschüttert.

Ausgerechnet die US-amerikanische Punkband Anti-Flag, die sich einst für eine Kinderschutzorganisation in ihrem Song „Feminism Is For Everybody (With A Beating Heart And A Functioning Brain)“ ausdrücklich im Einsatz für Feminismus und gegen Kindesmissbrauch exponierte, steht im Mittelpunkt von Vorwürfen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung, bei denen die mutmaßlichen Opfer sogar teils minderjährig gewesen sein könnten. So ist ihr Leadsänger und Songwriter Justin Sane (mit bürgerlichem Namen Justin Geever) Mitte Juli 2023 zunächst in einem Podcast indirekt dieser Taten beschuldigt worden.

Leadsänger weist Anschuldigung zurück

In Deutschland machte zuvor bereits Jan Gorkow, Frontmann der Punkband Feine Sahne Fischfilet, Schlagzeilen durch gegen ihn erhobene Vorwürfe wegen sexualisierter Gewalt. Die Internetseite „Niemand muss Täter sein“, die Gewalt gegen insgesamt elf Personen dokumentiert wissen wollte, blieb dabei indes so diffus, dass das Landgericht Stralsund die Beschuldigungen als Verleumdung einstufte. „Wenn sich jemand scheiße behandelt fühlt, dann sind wir ansprechbar. Aber wir lassen uns nicht mehr im Internet einfach die ganze Zeit mit Scheiße vollkippen“, erklärte Gorkow dazu, warum die Band den Rechtsweg beschritt.

Die Reaktion von Anti-Flag war indes eine ganz andere. Nach Bekanntwerden der Anschuldigungen gegen Sänger Geever löste sich die Band zunächst ohne nähere Begründung − und deswegen für ihre Fans ziemlich überraschend − umgehend auf, und das, obwohl sie gerade erst ein neues Album herausgebracht hatte, unter anderem mit einem Gastbeitrag von Toten-Hosen-Frontmann Campino. Ihre aktuelle Tour, bei der in Deutschland Gigs mit der Celtic-Punk-Band Dropkick Murphys (bekannt für „I'm Shipping Up to Boston“ aus Martin Scorseses Film „The Departed“) geplant waren, brachen sie ebenfalls ab.

Später erklärten die ehemaligen Kollegen von Geever, es sei „ein zentraler Grundsatz der Band Anti-Flag […], allen Überlebenden von sexueller Gewalt und Missbrauch zuzuhören und ihnen zu glauben. Die jüngsten Anschuldigungen gegen Justin stehen in direktem Widerspruch zu diesem Grundsatz. Daher sahen wir die einzige unmittelbare Möglichkeit darin, uns aufzulösen“. Geever selbst dementierte die Vorwürfe dezidiert als „kategorisch falsch“. Weiter äußerte er: „Ich bin noch nie eine sexuelle Beziehung eingegangen, die nicht einvernehmlich war, und ich bin auch noch nie von einer Frau nach einer sexuellen Begegnung angesprochen worden und habe gesagt bekommen, ich hätte in irgendeiner Weise ohne ihre Zustimmung gehandelt oder sie in irgendeiner Weise verletzt.“

Sieben der mutmaßlichen Opfer wohl Teenager

Doch damit der Affäre nicht genug. Der Rolling Stone fand im Rahmen einer am 5. September 2023 veröffentlichen investigativen Recherche dann mehr als ein Dutzend mutmaßlicher Opfer, deren Fälle bis in die 1990er Jahre zurückreichen sollen. Sieben davon waren wohl Teenager zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Geever; ein achtes sogar erst zwölf Jahre alt. Eine Betroffene berichtete ihren Fall später der britischen Polizei, die diesen allerdings nicht weiter verfolgte. Der Grund: Sie habe nicht ausdrücklich „Nein“ zu Geever gesagt. „Justin, wir glauben, dass du sehr krank bist und ernsthafte professionelle Hilfe brauchst“, schrieben Geevers vormalige Bandkollegen danach. „Fick dich dafür, dass du die Arbeit der Band und die vielen Menschen, die mit ihr in Verbindung stehen, so lange ausgenutzt hast“, heißt es weiter in ihrem gemeinsamen Statement.

Jedoch machte der Rolling Stone auch kritische Stimmen zur Rolle von Geevers Kollegen in dieser Angelegenheit publik. So behaupteten drei Frauen, dass einige der anderen Bandmitglieder anwesend gewesen wären, wenn Geever sie als Teenager beziehungsweise junge Frauen hinter die Bühne oder in den Tourbus gebracht hätte. „Sie wussten, wie jung alle waren“, so ein Vorwurf. Ebenfalls dokumentierte der Rolling Stone, dass der Künstler Sammy Kay, der erst Anfang des Jahres beim von Anti-Flag gegründeten Plattenlabel A-F Records unterschrieben hatte, dieses wieder verlassen habe, da ihm die Anschuldigungen und die mangelnde Transparenz der Band keine andere Wahl gelassen haben sollen. Wie könnte er bleiben, „wenn das, was sie auf der Bühne predigen und in der Welt verbreiten, nicht mit dem übereinstimmt, was [ihr] Alltag ist“, so Kay.

Ein bitteres Ende nach 30 Jahren

Für die gerne linksaktivistischen Anhänger von Anti-Flag ist ihre Auflösung ein bitteres Ende nach 30 Jahren. Denn die 1993 gegründete Band ist, neben ihrer bis hierhin in der Punkrock-Szene als glaubwürdig geltenden feministischen Attitüde, bekannt gewesen für Antikapitalismus, Antirassismus und Globalisierungskritik, ihre aktuelle Gegnerschaft zum Trumpismus wie für die damalige Befürwortung eines Impeachment gegen George W. Bush (so ausführlich im Booklet des 2006er Album „For Blood and Empire“ nachzulesen) und ebenso für den Einsatz für Tierrechte sowie insbesondere den musikalischen Kampf gegen Krieg.

„Anti-Flag bedeutet nicht Anti-Amerikanisch. Anti-Flag bedeutet Anti-Krieg“, erläuterte die Band ihre Etymologie, deren erste bekannte Antikriegs-Hymne „You've Gotta Die for the Government“ aus dem Jahr 1996 stammt. Der heute beschuldigte Frontsänger Geever erwähnte im Compilation-Album „A Document of Dissent: 1993–2013“ den Ersten Irakkrieg als Initialzündung zur Bandgründung: „Ich habe fahnenschwenkende Medien gesehen, die bei diesem Betrug als Werkzeug eingesetzt wurden, und wollte die ganze hässliche Sauerei entlarven. Anti-Flag war geboren.“ 

Im Besonderen setzten sie sich später − dabei auf Kundgebungen gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Michael Moore (Fahrenheit 9/11Bowling for Columbine) − daher prominent gegen den Zweiten Irakkrieg der Bush-Administration ein. Zur Amtszeit des Republikaners war die Band ohnehin ein politischer Aktivposten. Auf Initiative von Fat Mike, Sänger des Punkrock-Veterans NOFX, beteiligte sich Anti-Flag neben Punkgrößen wie The OffspringGreen DayPennywise und Bad Religion auch an der Kampagne „Rock Against Bush“, die sich musikalisch durch Live-Konzerte und Compilation-Albums gegen die Wiederwahlkampagne von George W. Bush im Jahr 2004 positionierte.

 

Dr. Dr. Marcus Ermler, geboren 1983, ist Mathematiker sowie Informatiker und beschäftigt sich in seiner Forschung mit Logik, Graph Rewriting und Topologie. Darüber hinaus publiziert er über Antisemitismus und Antiamerikanismus jeder politischen Färbung, bisher u.a. für „Audiatur-Online“, die „Jüdische Rundschau“ und „Mena-Watch“.

Foto: Frank Schwichtenberg CC BY 4.0 via Wikimedia Commons

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Dietmar Herrmann / 08.10.2023

Offenbar ein weiteres Beispiel dafür, wie vermeindliche Gutmenschen ihr Image nutzen , um sich an die Opfer heranzuwanzen. Hier ist es feministisch-woker Lifestyle-Bolschewismus, man kann aber auch unter der Flagge von Kinderschutz, Flüchtlingshilfe, Seelsorge oder Sportförderung segeln. Immer in Kombination mit Anti-Rääächz. Je höher die soziale oder politische Position , desto geringer die Angreifbarkeit, siehe exemplarisch die klerikalen Kinderschänder.

sybille eden / 08.10.2023

Politische Bands finde ich zum kotzen. Die können von mir aus weg, und zwar alle.

Lutz Herrmann / 08.10.2023

Punk ist mit John Cummings gestorben.

Karsten Dörre / 08.10.2023

Leichen-im-Keller kann jede/r haben. Wer kennt in Deutschland Anti-Flag, mit Ausnahme des in die Jahre gekommenen Campino, der in Anzug und Pomade aussieht, als müsste er den schlechten Geschmack verteidigen.

Marcel Seiler / 08.10.2023

Schwierig. Einerseits freut es mich um jeden, dessen heuchlerische Hypermoral auffliegt. Andererseits weiß ich auch, dass die US-Kultur individualistischer ist als die deutsche. Während in Deutschland Freunde und Geschäftspartner (hier also Bandmitglieder) oft geneigt sind, einen Beschuldigten, den sie für unschuldig halten, in Schutz zu nehmen, ist man in den USA leichter geneigt, sich selbst “in Sicherheit zu bringen”, indem man sich vom Beschuldigten distanziert und ihn fallen lässt, wenn die Faktenlage unklar ist. Die Distanzierung der Bandmitglieder von Herrn Geever bedeutet für mich also nicht automatisch, dass er schuldig ist. Dazu kommt die viel striktere US-Rechtslage, bei der auch einvernehmlicher Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen als “Vergewaltigung von Rechts wegen” (statutory rape) gewertet wird oder werden kann. Da trägt der Mann dann auch das Risiko gefälschter Altersnachweise. Ich rate also zur Zurückhaltung, bevor man hier in ein Freudenfest der Selbstgerechtigkeit ausbricht. (Ich kenne die Band Anti-Flag nicht und habe für niemanden von denen Sympathien oder Anitpathien.)

Thomas Szabó / 08.10.2023

Ich verstehe die Aufregung nicht. Diese Guten Menschen haben sich so enthusiastisch gegen sexuellen Missbrauch engagiert, dass sie das Privileg genießen sollten sexuell missbräuchlich tätig sein zu dürfen. Guten Menschen sollten ihre guten Taten als mildernde Umstände angerechnet werden. Denken wir an den seligen Herrn Epstein, dessen woke Freunde Bill Gates & Bill Clinton alleine seine Heiligsprechung rechtfertigen. Wer sich besonders im Kampf für den Schutz des Klimas einsetzt, sollte als Privatperson mehr Dreck als andere produzieren dürfen. Wahrlich, ein herzloser Heuchler, der die Guten Menschen um ihre wohlverdiente Belohnung bringt. Wer, wenn nicht Luisa Neubauer würde es verdienen mit einer fliegenden Yacht über die deutschen Landen zu schweben und mit ihrer hellen kristallenen Stimme den Bürgern Moral & Enthaltsamkeit zu predigen?

Volker Kleinophorst / 08.10.2023

Punk ist tot. Campino singt auf deren neuer Scheibe (immerhin bis auf Platz 6 der Albumcharts in D gekommen) mit? “VICTORY OR DEATH (WE GAVE ‘EM HELL)”. War wohl bevor er bei King Charles den Bückling machte. Mir war diese Truppe jedenfalls völlig unbekannt, obwohl ich mich im Musikbereich ganz gut auskenne. Reingehört: Die Musik ist jedenfalls nicht so grauenhaft wie z.B die Dead Kennedys. Hat wirklich Ähnlichkeit mit dem Kirmespunk der Toten Hosen. PS.: Immer wieder beeindruckend wie viele angebliche Vergewaltiger es gibt, bei genau den Menschen (Musiker, Schauspieler, Filmproduzenten, Fußballstars…), denen die Frauen nachrennen wie bekloppt. (Außer bei Grokow, denn “Dicke sind nicht angesagt”.) Aber gut, das die “Opfer” jetzt gegenüber dem investigativen (wohl eher woken) Rolling Stone (oder ist das ein Witz) teilweise nach Jahrzehnten ihr Schweigen brechen. Trau den Frauen. PS.2: Wenn allerdings nichts davon stimmt, wie ja der Sänger sagt, warum löst man dann die Band auf? Die Texte quellen übrigens vor linksradikaler Hetze und Aufrufen zur Gewalt. Man tritt allerdings gegen Islamfeindlichkeit auf. Das ist ja das Wichtigste. Und natürlich der Kampf gegen den Trumpismus.

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