@Martin Bergmann. Ich habe die Webseite der zwei Bewohner von Fergus falls gelesen, wo sie Punkt für Punkt den Lügen Relotius mit Fakten entgegentraten. Ist es wirklich wahr, dass der Spiegel, just an dem Tag, an dem die Seite online ging, sein “Geständnis” veröffentlichte? Das wäre ja der Hammer! Dann müsste man ja quasi davon ausgehen, dass der Spiegel niemals vorhatte auszupacken, solange man die Sache noch verschweigen kann.
Es wäre doch eigentlich ganz einfach: Jeder Geisteswissenschaftler weiss, was er in einer wissenschaftlichen Arbeit darf und was nicht. Ein seriöser Journalist geht mit einem wissenschaftlichen Anspruch an seine Arbeit, was nicht heisst, dass er wie jeder geisteswissenschaftlichen Arbeit immanent seine Themen nach persönlichen Interessen auswählt und aufgrund der Fragestellung bereits grob vorspurt, in welche Richtung das Thema gelenkt wird und was schlussendlich dargestellt, bzw. bewiesen werden soll. Eine Objektivität bzw. Neutralität in diesem Sinne gibt es in der Tat nicht, was aber kein Problem darstellt, solange man sich an die geisteswissenschaftlichen Vorgaben zum Verfassen einer seriösen Arbeit hält. Relotius hat sich nicht an diese grundlegende Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens gehalten, das ist in erster Linie sein Problem und die Sache wäre an und für sich so schnell erledigt wie Karl-Theodor zu Guttenberg. Nun kommt aber das eigentlich Brisante: Dass er sich nicht an grundlegene Prinzipien eines seriösen Journalisten hält, hätte schon viel länger auffallen müssen, gerade wenn angeblich beim Spiegel alles so ganz genau faktengecheckt wird. Geschah aber nicht, weil Relotius allen nach dem Mund geschrieben hat (Echokammer). Damit hat fatalerweise nicht nur Relotius sondern gleichsam ein Grossteil der dt.sprachigen Presse genau das getan, was die Lügenpresse-Vorwerfer immer sagten: 1. Fakten nicht benannt, 2. passend gemacht, was nicht passt, 3. in böser (je nach Sichtweise guter) Absicht die Leute durch bewusst irreführende Darstellung eines Themas hinters Licht geführt. Liest man dann noch die Ausführungen eines Georg Restle zum Thema Neutralitätswahn, kann einem als Geisteswissenschaftler und aufgeklärter Bürger, der für sich in Anspruch nimmt, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit zu haben, kann einem nur noch schlecht werden. Wir sind auf dem besten Weg dahin, einen grossen Schritt hinter die Aufklärung zurück zu machen.
Die Deutschen hängen eben am Fuehrer-Prinzip, sie halten zum ‘Meinungs-Fuehrer’. Aber die gesamte Printausgabe liegt wohl eher (getarnt mit neutralem Umschlag) zwischen den Werbemedien (Schöner Wohnen) in den Wartezimmern der Zahnärzte, als (auch getarnt unter der TV-Programmbeilage) in den Guten Stuben der Geführten und Verführten. Wenn es die letzten alten weißen Männer dahin gerafft hat, bringt die Hamburger Immobilie wenigstens noch etwas ein. Und ein “BAMBI” für sauberen Journalismus durch rückhaltlose Aufklärung ist auch sicher.
Der tatsächliche Skandal sind die 180.000 Merkbefreiten, die dieses Schmierblatt weiter kaufen und alle Konzerne/Unternehmen, die dort Werbung schakten. Ich werde mir dem nächst einen Spiegel kaufen und die Werbetreibenden auflisten. Die werden künftig von mir, soweit es eben geht, boykottiert. Das sollten wir alle tun.
Ihre Analyse, Herr Röhl, ist messerscharf. Bis hin zum Endabnehmer solcher Produkte, den Leser, der mitten im Skandal (der ausgeht wie das Hornberger Schießen) verkündet, sich zum „weiter so“ zusammen mit der Spiegel—Redaktion zu entscheiden. Das alles wirft ein Licht auf die moralisch—ethische Beschaffenheit großer Teile unseres Volkes.
Das ist doch alles ganz einfach, die Leser wollen in ihrer Wohlfühlblase nicht echt informiert, sondern unterhalten werden. Da kommt ein Relotius, der aus Nachrichten Märchen macht, gerade recht. In Deutschland lebt man halt nicht mehr auf dem Boden der Realität, sondern in einem Luftschloss.
Eines verstehe ich nicht: Dass die Empörung über die Lügen im Spiegel so ungewöhnlich gross ist, wo eine gewöhnliche, gewohnte Empörung völlig ausreichen würde. Ich habe viele Berichte im Spiegel schon immer (d.h. seit vielen Jahrzehnten) als eine Mischung aus einerseits recht korrekt recherchierten Fakten, Zahlen und Zitaten (man denkt: Mensch, sind die gut informiert) und andererseits aus völlig frei und oft böswillig erfundenen weiteren Zutaten und extremen Verzerrungen (man denkt: Donnerwetter, das hab´ ich ja nicht gewusst) empfunden. Genau diese Mischung hat die Gesamtinformation am kritischen Denken vorbei ins Bewusst- und Unterbewusstsein befördert. So wie die bittere Medizin auf dem Zuckerstück gleich viel besser runterrutscht. “Das stand im Spiegel”, lautete früher das triumphierende Argument, wenn in einer Diskussion Wesentliches angezweifelt wurde. - Die Zahl der im Nachhinein abgedruckten Richtigstellungen beim Spiegel ist legendär. Viele habe sich gar nicht erst gewehrt, weil eine spätere Korrektur doch kaum noch einen interessiert. Das Thema ist dann schon alt. Wer guckt denn z.B bei “Hart aber Fair” in den “Faktencheck”? (wenn man sich die Sendung mit “ausgesuchten Gästen” überhaupt antun will).
Deutschland, das Land der “bedauerlichen Einzelfälle”: Betrügerischer Journalist? Einzelfall! Messerstecher? Einzelfall! Kantholz? Einzelfall, wenn überhaupt! Gruppenvergewaltigung? Einzelfall! Österreichischer Import-Kanzler mit Weltkriegs-Ambitionen inklusive Massenmord? Einzelfall! Die anderen wussten von nix und seitdem hat sowieso nix mit nix was zu tun…. Prost!
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