Henryk M. Broder / 28.06.2012 / 04:33 / 0 / Seite ausdrucken

Schöner sterben

Vielleicht ist doch was dran an dem alten Satz, dass es die Täter immer wieder an den Ort der Tat zieht. Und vielleicht muss man diesen Satz um eine Komponente ergänzen, die noch eine Spur makabrer ist: die Täter suchen die Nähe zu ihren ehemaligen Opfern, so wie die ehemaligen Opfer den Umgang mit den Tätern (bzw. deren Nachkommen) suchen.

Der Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr, ist letzte Woche, begleitet von Angehörigen seines Ministeriums und Journalisten, nach Polen geflogen, um in Auschwitz ein Sterbehospiz zu eröffnen, das sein Haus mit 100.000.- Euro mitfinanziert hatte. Eine dem Minister nahe stehende Zeitung fasste die Mission des Ministers in dem Satz zusammen; „Dem Leben und dem Tod die Würde zurückgeben.“

Die Idee zu dem Hospiz hatte ein inzwischen 94 Jahre alter Pole, dem im Juni 1942 die Flucht aus dem Stammlager (Auschwitz 1) gelang, also noch bevor das Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz 2) den Betrieb aufnahm. An seine Adresse sagte der Minister bei der Feier zur Eröffnung des Hospiz: „Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der so wie Sie in den Abgrund geschaut hat und trotzdem nicht verbittert ist.“

Auschwitz überlebt zu haben, ohne verbittert zu sein, ist eine Leistung, die unbedingt gewürdigt werden muss, obwohl sie der menschlichen Natur widerspricht. Wo es aber darauf ankommt, „dem Leben und dem Tod die Würde“ zurück zu geben, also ein Wunder zu vollbringen, muss die menschliche Natur eben einen Schritt zurück treten.

Das Sterbehospiz in Auschwitz hat 20 Plätze. Das ist nicht viel - gemessen an der Kapazität des ehemaligen Lagers, in dem über eine Million Menschen vom Leben zum Tode befördert wurden, „industriell“, wie immer wieder betont wird. Im Sterbehospiz wird jeder Todeskandidat individuell betreut. Das alte Auschwitz war eine Todesfabrik, das neue ist eine Sterbeboutique. Das Haus, schrieb die dem Minister nahe stehende Zeitung, „ist nagelneu, sehr sauber“, allerdings auch „etwas klinisch“. Nun, das dürfte sich legen, sobald die ersten „Patienten“ eingezogen sind. Für den Minister hat die Reise jetzt schon ihren Zweck erfüllt: Er ließ sich auf den Gleisen, die nach Birkenau führen, fotografieren.

Erschienen in der Weltwoche, 27.6.12

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