Der Skandal um Anne Spiegel scheint exemplarisch vorzuführen, was schiefgehen kann, wenn Spitzenämter nicht mit Spitzenleuten besetzt werden. Wird es künftig wieder mehr Kompetenz in der Politik geben?
Flüchtlingskrise, Coronakrise, Ukrainekrise, Energiekrise: Die letzten Jahre, und vor allem die letzten zwei, waren für unser Land größtenteils ein Fiasko. Politische Fehlentscheidungen sorgten dafür, dass aus Schwierigkeiten Katastrophen wurden.
Beim Benennen politischer Fehlgriffe landet man unweigerlich beim Benennen der Verantwortlichen dieser Fehlentscheidungen. Und genau hier trifft man auf das Problem, das wohl ausschlaggebend dafür ist, dass wir in Sachen Krisenbewältigung so schlecht bedient sind: Unser politisches Personal ist in vielen Fällen inkompetent. Namentlich unsere Amtsinhaber. Diese Feststellung erscheint zunächst wie ein Totschlagargument. Natürlich kann man leicht sämtliches politisches Führungspersonal für unfähig erklären, wenn man mit der Politik unzufrieden ist.
Doch die Symptomatik der Inkompetenz ist messbar, exemplarisch belegbar und begegnet einem im Politbetrieb auf der ganzen Linie. Regelmäßig landen Menschen in Spitzenämtern, die bestenfalls mittelmäßig sind. Doch dass dieses Postengeschacher nicht nur ärgerlich, sondern auch gefährlich ist, zeigt der Skandal um Anne Spiegel. Die gestern zurückgetretene Bundesfamilienministerin und frühere Umweltministerin von Rheinland-Pfalz steht bereits seit einigen Wochen in der Kritik, weil sie sich während der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr nicht kompetent genug verhalten hat.
„Menschlich ergreifend“
Bereits Mitte März war bekannt geworden, dass die damalige rheinland-pfälzische Umweltministerin Spiegel noch am 14. Juli 2021, dem Nachmittag vor der Flutnacht im Ahrtal, die Meldung herausgegeben hatte, dass „kein Extremhochwasser“ zu erwarten sei, obwohl zeitgleich bereits 50 unwetterbedingte Einsätze im System der Feuerwehr Koblenz standen. Außerdem sei sie im weiteren Verlauf des Abends nicht erreichbar gewesen. Geleakte SMS-Nachrichten zeigten, dass sie in der Folge nicht um die Not der Betroffenen, sondern um ihr eigenes Image besorgt gewesen war. Gemeinsam mit ihren Mitarbeitern hatte sie darüber beraten, wie das „Blame Game“ ihr gegenüber abgewendet werden könnte.
Am 11. März wies sie vor dem Mainzer Landtag die Vorwürfe der falschen Prioritätensetzung zurück. Doch schon damals wurden Forderungen laut, sie solle als Bundesfamilienministerin zurücktreten.
Nun stand Spiegel erneut in der Kritik, weil sie bereits am 25. Juli 2021, anderthalb Wochen nach der Flutkatastrophe, nach Frankreich in den Urlaub reiste – für ganze vier Wochen, wie am Samstag die BILD am Sonntag meldete. „Genau an diesem Wochenende waren wieder schwere Unwetter für die Krisenregionen vorausgesagt, Dutzende Menschen wurden noch vermisst“, schreibt zdf.de. Anne Spiegel gibt an, in ihren Ferien telefonisch erreichbar gewesen zu sein. Ihren Urlaub unterbrach sie kurzzeitig, um am 10. August unter anderem Aufräumarbeiten im Ahrtal zu besichtigen. In der letzten Woche ist bereits Ursula Heinen-Esser, die Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, zurückgetreten, weil sie ebenfalls wenige Tage nach der Flut nach Mallorca gereist war, um dort den Geburtstag ihres Ehemannes zu feiern – mit mehreren Mitgliedern der NRW-Landesregierung als Gästen.
Auf Anfrage der BILD am Sonntag gab Anne Spiegel an, vom Urlaub aus Kontakt zu ihrem Ministerium gehalten und auch an Kabinettssitzungen teilgenommen zu haben. Später zog sie diese Aussage zurück und behauptete, sie sei sich diesbezüglich „unsicher“ gewesen. Kann man wirklich in weniger als einem Jahr vergessen, ob man vom Urlaub aus an Kabinettssitzungen teilgenommen hat oder nicht? Als Reaktion auf die Berichterstattung gab sie am Sonntag vor der Presse eine Erklärung zur Angelegenheit ab. In Tränen aufgelöst und stockend trat sie vor die Kamera und nannte private Gründe – den Schlaganfall ihres Mannes im März 2019 sowie die Schwierigkeit, vier kleine Kinder im Lockdown zu versorgen – als Ursache für die Notwendigkeit, sich ausgerechnet nach der Jahrhundertflut einen Monat lang mit ihrer Familie absetzen zu müssen. Sie entschuldigte sich, wollte von einem Rücktritt jedoch nach wie vor nichts wissen. ZDF-Korrespondent Theo Koll nannte das im ZDF heute journal „menschlich ergreifend“.
Warum ist sie nicht schon damals zurückgetreten?
Vor allem war dieser Auftritt jedoch der Sargnagel der Familienministerin Anne Spiegel – am nächsten Tag trat sie zurück. Offenbar widerwillig: „Ich habe mich heute aufgrund des politischen Drucks entschieden, das Amt der Bundesfamilienministerin zur Verfügung zu stellen. Ich tue dies, um Schaden vom Amt abzuwenden, das vor großen politischen Herausforderungen steht.“ Ihr Unrechtsbewusstsein scheint sich in Grenzen zu halten.
Am Beispiel Anne Spiegel wird deutlich, was eine Fehlbesetzung für ein Spitzenamt bedeutet: Da ihr Umweltministerium die Bevölkerung nicht vor der Katastrophe warnte, muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, einen Anteil am entstandenen Schaden zu tragen. 134 Menschen kamen in Rheinland-Pfalz bei der Flut ums Leben. Wer weiß, wie viele noch leben würden, wenn sie rechtzeitig gewarnt worden wären.
Doch womöglich war Anne Spiegel ihre tragende Rolle als Landesumweltministerin überhaupt nicht bewusst. Und das meine ich als Vorwurf und nicht als Entschuldigung. Der geleakte Chatverlauf mit der kleinlichen Sorge um ihr Image, der Urlaub anderthalb Wochen später, die lange Weigerung, angesichts ihres Scheiterns zurückzutreten, die Lüge gegenüber der BILD am Sonntag und nicht zuletzt der jetzt erfolgte Rücktritt, bloß wegen des „politischen Drucks“: All das lässt auf eine totale Entkoppelung von ihrem Tätigkeitsfeld, eine Negierung ihrer Verantwortung schließen. Das Format ihres Berufes war ihr wohl nicht klar, und die Inhalte ihrer Tätigkeit lagen ihr wohl kaum am Herzen. Muss man einer Landesumweltministerin wirklich erklären, dass ihr Platz nach einer Flutkatastrophe bei der Bevölkerung und nicht im Urlaub ist? Wenn dem so ist, ist sie die falsche Besetzung. Warum ist sie nicht schon damals zurückgetreten, als ihr klar wurde, dass ihre familiäre Situation mehr Einsatz von ihr fordert, als mit ihrem Amt vereinbar ist? Es wäre gewiss keine Schande und ein würdigerer Abgang als das jetzige Spektakel gewesen.
Keine Angst vor Kompetenz
Anne Spiegels Rechtfertigungs-Video zeigt eine ganz normale Frau, die verzweifelt ist. Privat bestimmt ganz nett, aber jenseits der Kompetenz und Klasse, die ein zermürbender Hochleistungsjob wie ein Ministeramt wohl erfordert. Die inflationäre Bevölkerung der Politik mit freundlichen Normalos liefert Stoff für „Politik mal ganz anders“-Geschichten, erweist sich jedoch im Ernstfall als kreuzgefährlich. In diese Rubrik gehört wohl auch die Ernennung Annalena Baerbocks zur Außenministerin („Ja, ich traue auch mir das Kanzleramt zu“), die Ernennung Karl Lauterbachs zum Gesundheitsminister („Die Aufgabe ist viel härter, als ich mir das vorgestellt hatte“) oder die Ernennung Ricarda Langs zur Grünen-Vorsitzenden, die in letzter Zeit vor allem durch Tik-Tok-Tänze auffiel.
Spitzenämter brauchen Spitzenleute. Die Top-Jobs der Politik werden schon viel zu lange als lockere Betätigungsfelder für dich und mich verklärt. In ruhigen Zeiten mag es eine Weile gut gehen, unterqualifizierte, aber sendungsbewusste Kandidaten aufs diplomatische Parkett zu schicken. Doch spätestens die jüngsten politischen Fehlschläge in unseren krisengebeutelten Zeiten sollten uns davor warnen, uns vor Kompetenz oder gar Exzellenz zu fürchten. Vielmehr haben wir Leistungsträger in der Politik mehr als nötig. Anne Spiegels Versagen angesichts der Flut im Ahrtal ist ein trauriges Beispiel dafür.