Religion als Feindin des Friedens

Unsere Gesellschaft wäre besser dran ohne Religion, denn es gäbe weniger Fanatiker und weniger Krieg. Das ist eine populäre Ansicht. Sie wurde über Jahrhunderte von verschiedenen Religionskritikern vorgetragen, von Auguste Comte über Friedrich Nietzsche bis zu Sigmund Freud oder Karl Marx. Diese haben stets auch die katholische Kirche kritisiert, die heute rund 1,3 Milliarden Mitglieder hat und weiter wächst, jedes Jahr um etwa 14 Millionen Mitglieder. Für viele eine fortschrittsfeindliche Kirche, mit patriarchaler, homophober Sexualmoral, um die Frau auf die Mutterschaft zu reduzieren. Deswegen macht man die Kirche für das Bevölkerungswachstum in den ärmsten Ländern verantwortlich und ist überzeugt: wären solche Religionen in Europa nicht von Vernunft und Aufklärung zurückgedrängt worden, es hätte die Freiheitsgeschichte des Westens nie gegeben.

So sehen es auch einige Protagonisten meines Romans „Der letzte Feind“. Darin gibt es aber auch Stimmen für die Religion. Sie erinnern etwa an die Tatsache, dass im 20. Jahrhundert zwei große Bewegungen versucht haben, eine bessere Welt ohne Judentum und Christentum zu bauen: Kommunismus und Nationalsozialismus. Resultat: 100 Millionen Tote durch kommunistische Regimes, 50 Millionen Tote durch den 2. Weltkrieg. Man könnte sagen: Der Atheismus hat allein im 20. Jahrhundert mehr Menschen getötet als alle Religionen zusammen.

Doch auch wenn man es nicht so sieht und der Meinung ist, dass unsere gegenwärtige Wohlstandsgesellschaft ohne Religion ganz gut unterwegs ist, kann man sich trotzdem fragen: Wie frei sind die Menschen wirklich, seit sie der Kirche den Rücken kehren? Zweifellos hat unsere Zeit große Fortschritte zu bieten, vor allem im Bereich Technik und Naturwissenschaft. Aber sind das auch menschliche Fortschritte? Bessere Computer, Operationen, Handys: Bedeutet das eine Evolution der Seele und Humanität? Nein. Vielmehr entsteht, unter der Oberfläche unserer High-Tech-Kultur, ein spiritiuelles Vakuum, eine zwischenmenschliche Wüste.

Der Mensch als Humankapital, beschäftigt mit Programmen der Selbstoptimierung und, in der Freizeit, mit dem Konsum neuer Produkte und Erlebnisse. Allein im Westen zählen wir pro Jahr rund 1 Million Selbstmorde, dazu ein Mehrfaches an Depressionen und Erschöpfungszusammenbrüchen. Wir produzieren eine fortschreitende Verschmutzung der Umwelt und Beschleunigung der Klimakatastrophe. Bereits im letzten Jahrhundert hat der russische Dichter Alexander Solschenizyn davor gewarnt, dass „die westliche Gesellschaft vor dem Materialismus in die Knie geht. Im Osten der Bazar der Partei, im Westen der Jahrmarkt des Handels.“

Alle Staaten, die keine Religionsfreiheit garantieren, sind verbrecherisch

Je weniger Religion, desto größer scheint die Gefahr zu sein, dass wir Menschen uns gegenseitig wie Objekte behandeln. Desto mehr droht uns eine Gesellschaft digital gerüsteter Ameisen, ohne Erinnerung an den Himmel, ohne Sinn für die Unverfügbarkeit der Seele. Im 19. Jahrhundert hat der Denker Alexis de Tocqueville dies beschrieben. Er war überzeugt: Wenn die Menschen nicht mehr an Gott glauben, an ein ewiges Leben, schrumpft das Individuum zum Herdentier. „Die Freiheit ist eine Tochter des Christentums. Der Despotismus kann auf Religion verzichten, die Freiheit nicht.“

Was aber, wenn Religion trotz allem nicht so wichtig ist? Dann mag einem immerhin der Schweizer Philosoph Michael Rüegg zu denken geben. In seinem Buch „Krise der Freiheit“ hält er fest: Alle Staaten, die keine Religionsfreiheit garantieren und religiöse Gruppen nicht schützen, sind verbrecherisch und totalitär. Rüegg plädiert für ein „gelassenes Verhältnis“ zwischen Religion und moderner Gesellschaft. Für ihn ist eine Religion dann mit der Moderne vereinbar, wenn sie ihr Verhältnis zur politischen Macht geklärt hat und die Freiheit von Nichtgläubigen und Andersdenkenden vorbehaltlos anerkennt. Dann dürfen Religionen ihre Wahrheitsansprüche vertreten, aber sie dürfen keinen politisch durchzusetzenden Geltungsanspruch erheben. Sie müssen trennen zwischen Staat und Religion, zwischen Macht und Moral. „Nur dort, wo Menschen die Freiheit haben, zu glauben und zu sagen, was sie wollen, gibt es funktionierende Demokratien.“

Wer also für die Freiheit kämpft, der muss auch für die Freiheit der Religion kämpfen. Er muss nicht nur religiös motivierte Angriffe auf die Freiheit Nichtgläubiger ablehnen, sondern auch atheistische Programme zur Abschaffung von Religion. Oder mit den bekannten Worten von Rosa Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“

Ein Video-Interview von Ulrike Stockmann mit Giuseppe Gracia über seinen neuen Roman „Der letzte Feind“ finden Sie hier.

 

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. Sein neuer Roman „Der letzte Feind“ ist erschienen im Fontis Verlag, Basel.

Foto: www.giuseppe-gracia.com

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Gudrun Meyer / 23.07.2020

Ein mäßiger Grad an Religiosität wirkt vermutlich so wie auch ein mäßiger Grad an jeder anderen, gesellschaftsrelevanten Überzeugung, also seelisch stabilisierend und förderlich für menschliche Gemeinschaften. Aber weder die Religiosität der Kreuzfahrer, Ketzer- und Hexenverbrenner noch der politische Islam war je zur Mäßigung fähig. Zur Zeit tötet der islamische Fanatismus die Christen und Animisten Afrikas, übrigens samt ihren Kulturen und Gesellschaften. Auch früher gab es schon fanatische, islamische Religionskriege. Die islam. Eroberung Indiens (12./13. Jh.) tötete mindestens 80 Millionen Menschen und zig Millionen weitere wurden über Jahrhunderte hinweg in die Sklaverei verschleppt. Der Gebirgsname “Hindukusch” bedeutet “Hindu-Tod”, weil die Sterblichkeit der verschleppten Menschen im Hochgebirge besonders hoch war. Und so weiter. Geschichte (auch die eigene, christliche), Archaik und Multikulti sind nicht immer gemütlich. Die Religion ist nicht “als solche” daran schuld, aber jedes mal, wenn sie zur überwertigen Idee wird, fängt die Sache an, gefährlich zu werden. Dasselbe gilt für säkulare Heilsideen.

Michael Fasse / 23.07.2020

Beim Thema „Religion“ herrscht leider begrifflich ein heilloses Durcheinander. Darum eine kleine Klarstellung: Religion ist der Versuch des Menschen, durch eigene Handlungen, Aktionen, Anstrengungen etc. seinen Gott/Götter (wen immer er als solche definiert) wohlgesonnen zu stimmen. Hierzu bedient er sich diverser Mittel: Opfer, Gebete, Fasten, Askese, gute Werke, usw. Das kann man machen - ist aber sinnlos! Der Glaube an Jesus ist KEINE Religion, weil Jesus damit Schluss gemacht hat, dass wir durch religiöse Taten Gott versöhnen müssten. Sein Tod gab uns die Versöhnung ein für alle mal! Und durch Seine Auferstehung haben wir die Gewissheit des ewigen Lebens. Und das alles bekommen wir völlig gratis, ohne dass wir dafür auch nur eine einzige religiöse Handlung hinlegen müssen. Wir müssen es nur annehmen! Im Himmel gibt’s nur Freiwillige. Gott erwartet von uns nichts anderes, als das wir das glauben. Wer das will, aber nicht kann, darf Gott um diesen Glauben bitten. Er wird ihn bekommen. Und noch was: Mit der klaren Aussage des Herrn gegenüber dem Politiker Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, machte Er absolut klar, dass Er keinerlei weltlich-politische Ansprüche stellte. Hätte Er ja machen können. Denn Er ist der Herr über alles. Aber damals, und bis zum heutigen Tag, und bis zu dem Tag, an dem Er wiederkommen wird, ging und geht es Ihm ausschließlich um die Rettung des Einzelnen vor dem Zorn Gottes. Er betreibt diese Rettungsaktion nun schon viele Jahrhunderte und dürfte nicht amüsiert darüber sein, dass die Kirche Ihm mit dem vermaledeiten Streben nach weltlicher Macht immer wieder in die Parade fährt. Denn dadurch weicht sie von ihrem eigentlichen Auftrag ab, nichts anderes zu betreiben, als „Seelen zu retten“, und zwar ohne Zwang, nur durch das Wort! Die politische Macht wird der Herr erst bei Seiner Wiederkunft antreten. Und bis dahin hat die Kirche gefälligst von weltlicher, politischer Macht ihre Finger zu lassen.

Hans-Peter Dollhopf / 23.07.2020

Herr Gracia, zur Belegung des als rhetorische Frage “Wie frei sind die Menschen wirklich, seit sie der Kirche den Rücken kehren?” formulierten Argumentes gegen die materialistische Weltauffassung, die ja von der Freie Welt-Moderne mit der Antimoderne der sozialistischen Weltanschauung geteilt wird, führen Sie folgende Fata Morgana an: “Wir produzieren eine fortschreitende ... Beschleunigung der Klimakatastrophe.” Ich finde diese einzelne Aufzählung deshalb so erheiternd, weil sie schon wieder nur Rhetorik ist. Wie sag ich’s meinem anderen Kind? Also ich habe keine kognitiven Probleme an dieser Stelle in ihrem Text, wirklich nicht.

Karsten Dörre / 23.07.2020

Religion versucht Glauben zu steuern und zu kanalisieren. Dann zu einen, um Macht zu erlangen. An sich nicht schlecht, weil Zusammengehörigkeitsgefühl die Sozialisation am Leben erhält.

Wolfgang Kaufmann / 23.07.2020

Religion ist ja nicht gleich Religion. Für die einen ist sie göttliches Brief und Siegel auf vormittelalterlichen Vorstellungen von Sklaverei über Kindesmissbrauch bis hin zum Brevet des Übermenschentums. Für die anderen ist die die Rückbindung an das Unverfügbare. Nur für unsere wohlstandsverwahrloste Filterblase – räumlich wie zeitlich eine rare Singularität – ist sie ein Steinbruch für politische Beliebigkeiten, jedenfalls im Mainstream der Amtskirchen von der Matrona Matriae bis zum Papa der Pampa.

R. Gremli / 23.07.2020

So einfach ist das nicht mit den Religionen. Zugegeben, sie waren bis anhin der einzige Kitt einer Gesellschaft. Sie verschafft eine Gruppenidentität und stärkt eine Gemeinschaft. Wie das allerdings geschieht, und was daraus wird, dafür sind die psychologischen/soziologischen Inhalte der jeweiligen Religion verantwortlich. Jede Religion erschafft sich eine Kultur in Folge ihrer Inhalte. Vereinfacht: Der Islam kanalisiert und legitimiert Gewalt. Was Wunder wenn daraus gewalttätige Kulturen entstehen wie wir sie heute und schon immer kennen. Nicht viel anders aber ergeht es Ideologien wie dem Kommunismus. Auch sie brauchen religiöse Elemente wie Heiligenverehrung (Lenin/Marx) und ein zentrales heiliges Buch. Das Christentum nicht anders, nur dass deren Buch eine Büchersammlung ist mit sich in vielen Teilen widersprechenden Aussagen und Regeln. So ist man halbwegs frei, sich das heraus zu nehmen, was grade in den Kram passt. (Ist das die Freiheit, die ohne Christentum nicht auf dieser Erde wäre?). Dann sollte man nicht einfach beiseite schieben, wie sich diese Religion dank dem Monotheismus entwickelt hat: Sie splitterte von allem Anfang an in alle Richtungen auseinander und die ärgsten “Christenverfolgungen” fanden unter Christen statt. (Diese Rolle hat heute der Islam übernommen, auch dort werden Muslime am meisten in muslimischen Ländern verfolgt). Wie aber weiter? Mit Religion wie bisher geht kaum. Dafür sind die Gesellschaften zu gross geworden. Immerhin gab es von Beginn des Christetums an diese Sollbruchstelle, die sich auch die Aufklärung zunutze gemacht hat: Die Trennung von Staat und Kirche/Religion. Darauf, denke ich, kann man weiter aufbauen. Und sich vor externalisierten Feindbildern hüten, wie sie Ihr Corelli pflegt! (Ich lese grad Ihren Roman:-))

Manni Meier / 23.07.2020

Sind Ihnen bei der Achse die Satzzeichen ausgegangen? Fehlt da nicht was in der Überschrift? @A. Bechlenberg Ich hoffe Sie haben nichts dagegen, dass ich Sie heute in mein abendliches Gebet mit einschließe, vielleicht hilft’s ja doch - wer weiß.

Alexander Mazurek / 23.07.2020

Nun, Religionen sind nicht alle gleich. Im 12. Jh. haben ein Maimonides und wenig später ein Thomas von Aquin die Vernünftigkeit des Judaismus und des Christentums bewiesen, am Maßstab eines Aristoteles, der sich sicher war, dass “ein kleiner Fehler im Anfang mit der Zeit ein großer wird”. Islamischen Gelehrten jener Zeit, wie Avicenna und Averroes ist dies nicht gelungen. Der Islam und “die Aufklärung” haben “im Anfang” sehr ähnliche Fehler: a) Die Lüge, dass zuvor “Dunkelheit” herrschte, und b) Den Massenmord, an jüdischen Stämmen wie Banu Quraiza bzw. den Katholiken der Vendée, c) Beide fordern sie Unterwerfung, unter die charia oder ein positivistisches (beliebiges) “Recht”. Der Headcount spricht für die vernünftigen Religionen. Führend im Töten sind die säkularen Lenin, Stalin, Hitler, Mao, Pol Pot und wenn wir die Sanktionstoten mitzählen ..., denn “ein kleiner Fehler im Anfang…”.

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