Das postnationale Zeitalter, das viele Intellektuelle herbeisehnen, ist zwangsläufig auch ein postdemokratisches Zeitalter. Der Sozialismus braucht ein Imperium, um sich dauerhaft vom Wettbewerb abschirmen zu können, ein Weg der zunehemend auch von der EU eingeschlagen wird. An die Stelle des Rechtstaates tritt dann nicht das Paradies, sondern Totalitarismus und Clan-Herrschaft.
„Das Dilemma ist offenkundig: Der Nationalstaat ist noch nicht tot genug, um das postnationale Zeitalter auszurufen“, erklärte die Wochenzeitung DIE ZEIT bedauernd im Juni 2000. Seit damals ist viel geschehen, um den ungeliebten Nationalstaat endlich über die Klippe gehen zu lassen. „Offene Grenzen“ in Europa gelten als größte Errungenschaft und nationale Grenzkontrollen als Rückfall in düstere Zeiten. Derzeit wird wieder einmal der Versuch einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik unternommen, der prompt ein nationales Referendum dagegen in Polen zur Folge hat. Die EU hat den Green Deal ausgerufen, dessen Umsetzung in ganz Europa zu Protesten führt und den Aufstieg von Protestparteien befördert. Schließlich soll die Gesundheitspolitik in Pandemiezeiten durch einen neuen Vertrag und eine Änderung der internationalen Gesundheitsvorschriften in die Hände der WHO gelegt werden, einer Organisation, deren Entscheidungsprozesse weder transparent noch demokratisch legitimiert sind. Eines der Grundprobleme Europas ist, dass das – zumindest von den Entscheidungsträgern und Meinungsführern – ersehnte postnationale Zeitalter eine Schimäre ist und der Weg dorthin in eine politische Sackgasse führt.
Eine gängige historische Erzählung ist, dass der Nationalstaat in die Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt habe. Das ist falsch. Der Historiker Richard Overy hat sehr überzeugend dargelegt, dass der gemeinsame Nenner der Nationalsozialisten, der italienischen Faschisten und der japanischen Militaristen die tiefsitzende Überzeugung war, dass der Nationalstaat die sozialen und ökonomischen Probleme der Zeit nicht lösen könne und deshalb imperiale Großraumpolitik nötig sei. Alle drei träumten von einem großen Kolonialreich, wie es die Briten und Franzosen besaßen, nur dass sie es in nächster Nähe errichten wollten und mit einer auf Blut und Boden beruhenden Agrarromantik verbanden.
Demokratie und Nationalstaat sind nicht zufällig gleichzeitig entstanden
Das Unglück des 20. Jahrhunderts lag nicht im Nationalstaat, sondern im Imperialismus. Der Nationalstaat ist als Konzept nicht expansiv, sondern defensiv. Er verbindet das Prinzip des Territorialstaates mit einer gemeinsamen nationalen Identität seiner Bürger. Ein Nationalstaat, der sich Regionen anderer Nationen aneignet und koloniale Überseegebiete erwirbt, verliert seinen Charakter als Nationalstaat und wird zu einem multinationalen Großreich. Für Nationalstaaten gilt die Aussage Bismarcks nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871, dieses sei „saturiert.“ Die imperiale Versuchung gefährdet den Nationalstaat in seiner politischen Stabilität, seiner Identität und letztendlich auch in seiner wirtschaftlichen Entwicklung.
Nationalstaat und Demokratie sind zwei Seiten der selben Medaille. Der Territorialstaat des Absolutismus konnte kulturell und national sehr verschiedene Territorien umfassen. Der Kurfürst von Sachsen konnte gleichzeitig der König von Polen sein, der Herzog von Hannover König von England und die Habsburger Österreich, Ungarn, Spanien und das heutige Belgien unter einer Krone vereinigen. In einem politischen System, in dem der Herrscher mit Recht erklären kann „Der Staat bin ich“, muss es kein Staatsvolk geben. Das wandelte sich in dem historischen Moment, im dem das „Volk“ selbst der Souverän wurde. Demokratie und Nationalstaat sind nicht zufällig gleichzeitig entstanden, sondern aus innerer Notwendigkeit. Das postnationale Zeitalter, das viele Intellektuelle herbeisehnen, ist zwangsläufig auch ein postdemokratisches Zeitalter.
Dasselbe gilt auch für den Liberalismus. Im 19. Jahrhundert waren Liberalismus, Demokratie und Nation ein untrennbares politisches Dreigestirn. Nationalliberalismus nannte sich schließlich die stärkste politische Kraft im Bismarck-Reich. Im Grunde ist das aber ein Pleonasmus wie „weißer Schimmel“. In der Praxis war jeder politische Liberalismus ein nationaler Liberalismus. Es ist kein Zufall, dass die Nationalbewegung und der Liberalismus in Deutschland fast deckungsgleich waren. Die Grundideen des Liberalismus, nämlich Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Wettbewerb und individuelle Freiheit sind so eng mit dem Nationalstaat als Basis, Form und Garant dieser Ordnung verbunden, dass jedes postnationale Zeitalter zwangsläufig auch ein postliberales Zeitalter sein wird.
Warum wollen Sozialisten den Nationalstaat überwinden?
Der Nationalstaat hat ohne Zweifel die Tendenz, zum Wohlfahrtsstaat zu werden. Es gibt aber gute Gründe, warum Sozialisten fast immer zu dem Ergebnis gekommen sind, dass sie den Nationalstaat überwinden müssen, um den wahren Sozialismus zu schaffen. Das liegt am Wettbewerb zwischen den Nationalstaaten. Ein Nationalstaat kann sich für eine gewisse Zeit eine überbordende Bürokratie, Umverteilung, hohe Steuern und staatliche Unternehmen leisten. Das führt aber dazu, dass er im Wettbewerb mit anderen Nationalstaaten immer weiter zurückfällt, Investoren das Land meiden, die Zinsen für seine Anleihen steigen und schließlich Reformen erzwungen werden. Das Grundproblem der EU und der Eurozone besteht genau darin, dass durch Bürgschaften und Transferzahlungen dieser Anpassungsmechanismus außer Kraft gesetzt wurde.
Sozialismus braucht ein Imperium, um sich dauerhaft vom Wettbewerb abschirmen zu können, deshalb setzen die Sozialisten aller Länder auf „Europa“, „globale Lösungen“, die „Weltregierung“ und die Überwindung des Nationalstaates. Solange es unabhängige Nationalstaaten gibt, wird es immer freiheitliche Inseln geben, die so erfolgreich sind, dass sie den Bürgern anderer Staaten das Scheitern ihrer Regierung deutlich vor Augen führen. Der massive Wettbewerbsdruck durch Westdeutsche und Japaner zwang die Briten in den 1980er Jahren zu einschneidenden Reformen. Die pure Existenz der Bundesbank mit ihrer Hochzinspolitik zwang selbst Mitterands Sozialisten dazu, große Teile ihrer linken Agenda über Bord zu werfen. Das war im Übrigen der Grund, warum – aus französischer Sicht – die D-Mark dem Euro weichen musste.
Es ist aber nicht möglich, den Nationalstaat abzuwickeln und Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu bewahren. Die zwei großen Bedrohungen der Freiheit sind Totalitarismus und Tribalismus. Transnationale Superstaaten und transnationale Organisationen können sich weitgehend der demokratischen Kontrolle entziehen, der Bürger kann sich deren Kontrolle ohne den Schutzschirm der nationalen Souveränität aber kaum entziehen. Der Tribalismus ist die soziale Organisation, die sich zwangsläufig durchsetzt, wenn sich die Institutionen des Nationalstaates auflösen. An die Stelle des Rechtsstaates tritt dann das Faustrecht, ausgeübt von Clans, Warlords und der organisierten Kriminalität. Wo die Nation und nationale Grenzen geschleift werden, siegt nicht das Individuum, sondern der Tribalismus.
Ein Hort fast totaler Sozialkontrolle
Prämoderne Stammesgesellschaften waren ein Hort fast totaler Sozialkontrolle durch die Sippe und den Clan. Strafen waren drakonisch, über Ehe entschied das eherne Prinzip der Verwandtschaft und über das Gewissen Ritual und Religion. Die kollektivistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts können als der Versuch gedeutet werden, zu diesem Zustand totaler Sozialkontrolle zurückzukehren. Der Mensch ist nicht von Natur aus frei, von Natur aus liegt der Mensch in Fesseln. Der Mensch lebt nicht in natürlichem Wohlstand, sondern der natürliche Zustand ist Armut und Elend. Freiheit und Wohlstand sind nicht die Errungenschaft der Natur, sondern der Zivilisation, und vor allem der westlichen Zivilisation. Der Postkolonialismus besitzt nur deshalb diese Überzeugungskraft, weil er die Zustände in der präkolonialen Zeit weitgehend ignoriert, verharmlost und romantisiert.
Ein Stamm ist keine Nation. Das Grundprinzip ist ein völlig anderes. Die Nation ist von ihrer Grundidee her die Gemeinschaft von freien Staatsbürgern mit gleichen Rechten und Pflichten. Der Historiker Hans Kohn hat darauf hingewiesen, dass die Genese von Individualismus und Nation weitgehend parallel verläuft und sich gegenseitig bedingt. In seiner rudimentären Form zeichnet es sich ab im alten Israel und der griechischen Polis. Die Nation ist kein Stammesverband, sondern sie ist die Überwindung des Stammesverbandes. Dass wir die Gefahren, die von Clans in unserer Gesellschaft ausgehen, so lange unterschätzt haben, liegt darin, dass wir uns kaum mehr in Gesellschaften hineinversetzen können, die sich nicht an Nation und Individuum orientieren, sondern an Stamm und Sippe. Die Abschaffung der Nationen bedeutet nicht die Befreiung des Individuums, sondern sein Ende. Nationalstaat, Demokratie und Freiheit sind keine Gegensätze, sondern sich gegenseitig bedingende und gegenseitig stabilisierende historische Kräfte.
Dr. Gérard Bökenkamp, geb. 1980, ist Historiker und Autor. Für seine Doktorarbeit mit dem Titel „Das Ende des Wirtschaftswunders“ wurde er 2011 mit dem Europapreis des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) ausgezeichnet.