Chaim Noll / 11.03.2022 / 12:00 / Foto: Pixabay / 92 / Seite ausdrucken

Permanente Paranoia

Wladimir Putin entstammt der Welt der kommunistischen Geheimdienste. Das hat mehr mit seiner heutigen Politik zu tun, als manchen bewusst ist.

Anlässlich der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine gelten viele Überlegungen der psychischen Verfassung der Verantwortlichen, vor allem des in Russland weitgehend autokratischen Präsidenten. Weder eigene hohe Verluste noch in die Hunderte gehende tote Zivilisten, weder die Verarmung der eigenen Bevölkerung noch der Absturz der Landeswährung scheinen die russische Führung zu beeindrucken. Wie entsteht eine solche Mentalität tödlicher Zielstrebigkeit, des gnadenlosen Vorwärts um jeden Preis? Wladimir Putin, Jahrgang 1952, früherer Offizier des Geheimdienstes KGB, ist ein Kind der „Nomenklatura“ oder „Neuen Klasse“, der herrschenden Schicht des kommunistischen Russlands.

Er zeigt bis heute die Verhaltensmuster dieser Herkunft, die Charakterprägungen des Milieus, dem er entstammt. Man kann sein Vorgehen nur verstehen, wenn man die inneren Verhältnisse und psychologischen Mechanismen der „Neuen Klasse“ in Betracht zieht. Die folgenden Passagen entnahm ich meinem 2009 in der Zeitschrift „Merkur“ veröffentlichten Aufsatz „Die Neue Klasse hat ihr verdientes Ende überlebt“, der sich mit der Psychologie der kommunistischen Nomenklatur beschäftigte:

Die „Neue Klasse“ hatte einige Besonderheiten und Eigenheiten, die zu betrachten heute wieder wichtig ist, vor allem angesichts ihrer Fähigkeit, das Ende ihres politischen Systems zu überleben. Selten war eine herrschende Menschengruppe derart von ihrem Recht überzeugt, von ihrer hohen Moral. Die Fiktion des „Höheren“, für das sie zu kämpfen vorgibt, wird bis heute aufrechterhalten. Es wäre zu einfach, die unbegreifliche Diskrepanz zwischen Selbstgefühl und tatsächlicher Wirkung mit blankem „Zynismus“ zu erklären, womöglich mit dem, der irgendwo zu jeder Macht gehört. Überhaupt versagt unsere Sprache angesichts einer bisher in Friedenszeiten unbekannten Misere. Die Zerrüttung der Länder, in denen diese Klasse herrschte, ging ganz alltäglich vor sich, von außen waren die kommunistischen Staaten mehr und mehr anerkannt – fast wäre der Neuen Klasse ihre Legitimierung gelungen. Auch viele westliche Politiker zeigten sich von der Lebensform des Staatssozialismus zunehmend überzeugt, sein plötzliches Ende traf sie unvorbereitet. Umso mehr die Millionen, die innerhalb dieser Staaten zur Macht gehalten hatten.

Stillschweigend billigt man einander zu, dass dem System die Agonie nicht anzumerken war, jedenfalls nicht, wenn man flüchtig hinsah oder mit einem durch „fortschrittliche“ Theorien vernebelten Blick. In diesem Zusammenhang ist eins der Kennzeichen hervorzuheben, das die „Neue Klasse“ scheinbar einmalig macht: ihre Kunst der Verschleierung, der Desinformation. Diese Desinformation beruhte auf einer einfachen Grundlage: Es wurde stur und unbeirrt, mit allem Nachdruck, allem Einfallsreichtum, allen Mitteln der Täuschung, das Gegenteil von dem behauptet, was tatsächlich geschah. Wo Armut herrschte, sprach man von „wachsender Befriedigung der materiellen Bedürfnisse“, Länder, in denen jedes freie Wort unterbunden war, nannten sich „Volksdemokratien“, wenn man Krieg führte, geschah es um des Friedens willen.

Schamlose Desinformation

Die „Schwächen des Gegners“ wurden scharfsinnig erkannt und maßlos übertrieben. Dieses Muster hat russische Desinformation bis heute beibehalten und beherrscht es meisterlich: Tatsächliche Fehlstellen westlicher Staaten werden kritisch analysiert und vorgeführt, allerdings werden sie in ihrer Darstellung, wie man amerikanisch sagen würde, „totally blown out of proportion“. Vielen westlichen Konsumenten scheint die Desinformation glaubwürdig, denn es werden tatsächlich bestehende Schwächen und Übelstände in den USA, Westeuropa und anderswo benannt, daher wird auch die Übertreibung und Totalisierung dieser Schwächen geglaubt, die sie in Wahrheit bis zur Falschheit verzerrt. In die Desinformation wird überproportional viel Geld und Intelligenz investiert – man spart dafür anderswo, auf Kosten der eigenen Bevölkerungen. Auch heute unterhält Russland einen riesenhaften, fein strukturierten, überaus effektiven Apparat der Desinformation. Er benutzt alle denkbaren Medien, klassische und moderne, offizielle und alternative, und verbreitet mit großem Erfolg die Konzepte und Unwahrheiten, die in westlichen Ländern Verwirrung, Angst und massenhysterische Aufwallungen auslösen sollen.

Tief verlogen waren auch die Umgangsformen innerhalb der Nomenklatura, schon zur Einübung ihrer Wirkung nach außen. Hintergrund dieser Verlogenheit war die allgemeine Angst. Auch hier sowohl vor inneren Gefahren – die in einer permanenten gegenseitigen Bespitzelung symbolhaften Ausdruck fanden –, als auch vor äußeren, teils realen, teils wahnhaft imaginierten. Wenig wahrscheinlich war – schon angesichts der Armut der von der „Neuen Klasse“ verwalteten Länder – ein gefürchteter „Überfall“ durch aggressive westliche Nachbarstaaten – an derlei wurde dennoch mit bitterem Ernst und bis zum Ende geglaubt. Die optimistischen Parolen hatten zugleich etwas Autosuggestives. Immer wieder musste man sich selbst bestärken, vor allem in den letzten Jahren, als der wirtschaftliche Bankrott nicht mehr zu übersehen war und das ökologische Desaster buchstäblich in der Luft lag (...)

Das schlechte Gewissen des Bürgertums

Die „Neue Klasse“ hielt sich für überaus erfolgreich darin, die Mentalität des „Gegners“ zu erkunden, und dieser Gegner, genannt „Klassenfeind“, war das Bürgertum. Die marxistische Bewegung war die erfolgreichste der vielen anti-bürgerlichen Bewegungen des 19.Jahrhunderts, weil sie die Schwächen des Bürgertums am besten auszunutzen verstand: sein schlechtes Gewissen, seinen eigenen Hang zur Heuchelei, der für die Verstiegenheiten des „Sozialismus“ empfänglich machte, nicht zuletzt seine verhältnismäßige Jugend als herrschende Schicht. Lenin fügte der Marxschen Kapitalismus-Analyse das Konzept vom „Imperialismus“ hinzu, näher bezeichnet als „parasitärer, faulender Kapitalismus“, eine, wie sich zeigen sollte, verfehlte Einschätzung: das westliche System ist nicht „dekadent“, sondern eher archaisch. Daher erwies sich der Gegner als weitaus vitaler und wandlungsfähiger, als Marx und Lenin dachten.

Dennoch hat die marxistische Theorie vom „Spätbürgertum“ das bürgerliche Selbstverständnis über Jahrzehnte erschüttert und tut es bis heute. Daraus zogen die beobachtenden Analysten der „Neuen Klasse“ den Schluss, es hätte mit der marxistischen Prophezeiung seine Richtigkeit. Das Negativ-Bild vom Westen, das in allen sozialistischen Staaten verbreitet wurde, die Überbetonung seiner Krisen und Gebrechen, die dramatischen Schilderungen vom Niedergang, von der Auflösung, vom Chaos der Freiheit, waren zunächst zur Abschreckung für die eingesperrten Völker gedacht, außerdem lag darin eine balsamische Selbstberuhigung für die „Neue Klasse“. Man suggerierte sich selbst, der „Gegner“ nähere sich dem Zusammenbruch und es sei eine Frage der Zeit, bis er an seinen „unlösbaren Widersprüchen“ zugrunde ginge.

Diese Autosuggestion war schon deshalb vonnöten, um sich über die sichtbaren Kalamitäten des eigenen Systems hinwegzutrösten. Schon seit Mitte der siebziger Jahre gab es keinen sozialistischen Staat, der nicht zunehmend bei westlichen Ländern verschuldet war – hoffnungslos verschuldet, wie wir heute wissen. Man nahm während der letzten anderthalb Jahrzehnte nur noch „Umschuldungen“ und ähnliche Manöver vor, um mit der drückenden Last nicht mehr rückzahlbarer Kredite über die Runden zu kommen. Verschuldung und Verstrickung führten zwangsläufig zu politischen Zugeständnissen, und da nur die oberste Spitze der Nomenklatur in die Details der Geschäftslage eingeweiht war, bedurfte es ideologischer Pirouetten, um das Gros der „Neuen Klasse“ immer noch an das „Endziel“, den Sieg des Sozialismus, glauben zu machen (…)

Das Wegleugnen der wirtschaftlichen Unterlegenheit

Ganz offensichtlich ging es den westlichen Nationen gut, besser als denen des Staatssozialismus: ihre Wirtschaft war effizienter, ihre „materielle Basis“ solider, ihr Lebensstandard höher. Obwohl dies eigentlich die Marxschen Parameter waren, um den Zustand einer Gesellschaft zu beurteilen, durften sie hier nicht angewandt werden. Die Fixierung auf das Primat einer verjährten Ideologie erschwerte der „Neuen Klasse“ die Wahrnehmung und machte es ihr unmöglich, rettende Reformen einzuleiten. Dabei wussten viele Angehörige der „Neuen Klasse“ aus täglichem Erleben um die grundsätzliche wirtschaftliche Insuffizienz ihres Systems (…) Ökonomisch hat der Sozialismus nicht einen Tag funktioniert. Schon Lenin und Stalin mussten auf die Wirtschaftsformen früherer Systeme zurückgreifen, wobei vom Kleinkapitalismus der NÖP-Zeit über die neue Sklavenhalterei des GULag bis zu feudalistischen Raubkriegen alles probiert wurde, was herrschende Klassen je zur Geld- und Güterbeschaffung unternommen hatten. Historisch gesehen, überrascht die „Neue Klasse“ durch völligen Mangel an Originalität. Ihre Aktionen waren vergröberte, in gigantische Dimensionen aufgeblähte Eroberungs- und Ausbeutungspraktiken früherer herrschender Klassen. Wenn sie diese Klassen irgendwo in den Schatten stellte, dann allenfalls im Ausmaß der Verbrechen.

Wir wundern uns heute, mit welcher Schnelligkeit sich viele kommunistische Funktionäre auf das neue System eingestellt haben, wie sie plötzlich als erfolgreiche Geschäftsleute, „Oligarchen“, geschickte Parlamentarier und Rhetoren in Erscheinung treten und die Attitüden westlichen Lebens nachahmen. Auch hier zeigt sich zunächst der Mangel an Originalität der „Neuen Klasse“, deren Angehörige keine eigene Identität entwickelten und kein anderes Lebensmotiv kannten als die Teilhabe an gesellschaftlicher Macht, ungeachtet der Gesellschaftsform. Zum anderen zeigt sich das verborgene Muster der „Neuen Klasse“: ihr skrupelloser Utilitarismus (...)

Angst vor dem eigenen System

Die letzten Tage einiger kommunistischer Staaten haben gezeigt, wie stark die Funktionäre einander verachteten. Der gestrige Führer wurde über Nacht entmachtet und von seinen Genossen zum Staatsverräter erklärt – es gab, wenn es darauf ankam, keinerlei Solidarität. Dieses Phänomen ist so alt wie die „Neue Klasse“ selbst. Der russische Schriftsteller Lew Nawrosow schilderte anschaulich Lenins zunehmende Angst-Psychose vor dem Hintergrund einer von ihm selbst installierten apparativen Gnadenlosigkeit, er nannte das Syndrom nach einer Erzählung von Tschechow „Krankenstation Nr. 6“. In Tschechows Erzählung ängstigt sich ein Irrenarzt so lange vor der von ihm verwalteten Geschlossenen Abteilung, bis er wahnsinnig wird und selbst dort endet. So fürchtete jeder kommunistische Funktionär, von Lenin bis zum kleinsten Kreissekretär, eines Tages selbst zum Opfer zu werden. Es spricht für die Kraft solcher Zwangsneurosen, dass es viele von ihnen tatsächlich dorthin brachten, am Ende die „Neue Klasse“ ganzer Länder.

Die tödliche Krankheit dieser Klasse war ihre Schizophrenie. Sie zeigte sich sowohl im individuellen Lebensgefühl der einzelnen Funktionäre, Ideologen, Militärs, Wächter etc., als auch im kollektiven Bewusstsein der Nomenklatur, dem sogenannten „Klassenbewusstsein“. In seinem Buch „Ideologie und Schizophrenie – Formen der Entfremdung“ untersuchte der französische Psychiater Joseph Gabel das grundsätzlich Bewusstseinsspalterische solcher ideologischen Konstrukte und nannte „die Schizophrenie eine Ideologie im Individuellen und die Ideologie eine Schizophrenie des kollektiven Bewusstseins“. Jeder Funktionär musste lernen, sein Bewusstsein zu teilen: hier die tatsächlich wahrgenommene Realität, dort der ideologisch erwünschte Idealzustand. Allmählich ging der Zusammenhang zwischen beiden verloren. Das Primat hatte immer die vorgegebene „Weltanschauung“, nicht die reale Welt. Die Ideologie erzwang unter Umständen eine völlige Ausblendung der Realität. Mit anderen Worten: die Unterwerfung der „Neuen Klasse“ unter das Joch ihrer eigenen „politischen Haltung“ zeitigte bei ihren Mitgliedern eine zunehmend psychotische Grundverfassung.

Die Geschichte der Nomenklatura ist die Geschichte ständiger „Säuberungen“ und „Fehlerdiskussionen“, ständiger Rückbesinnungen auf die „Lehre“ und damit in regelmäßigen Abständen der weitgehenden Zerstörung aller erneuerungsfähigen Ansätze innerhalb ihrer selbst. Kaum hatten sich innerhalb der „Neuen Klasse“ Spezialisten, Sachkenner, halbwegs fähige Kräfte entwickelt und damit Kräfte, die lebensrettende Korrekturen vorschlugen, wurden sie nach Möglichkeit „liquidiert“. Wenn man heute fragt, nach welchem Kriterium unter Stalin die Opfer der „Säuberungen“ ausgesucht wurden, gibt es nur eine summarische Antwort: danach, ob sie durch irgendeine Qualität auffielen. Auf diese Weise entstand, was der Moskauer Schriftsteller Grigorij Baklanow in den siebziger Jahren den „Aufstieg der Unfähigen“ nannte, eine chronisch negative Auslese unter den Kadern von Partei und Staatsapparat. Sie musste die „Neue Klasse“ paralysieren (...)

Der kommunistische Übermensch

Der „Neue Mensch“, das Produkt sozialistischer Erziehung, wie man es sich im Erfolgsfall dachte, sollte ein Nonplusultra sein, eine mit Hilfe der Ideologie geformte Idealfigur, eine wandelnde Inkarnation des Marxismus-Leninismus, kurz gesagt das, was der deutsche Nationalsozialismus einen „Übermenschen“ nannte (…) Um die „Neue Klasse“ zu verstehen, muss man davon ausgehen, dass sich viele ihrer Angehörigen in diesem Sinne tatsächlich für „Übermenschen“ hielten, für höher stehend als den Rest der Menschheit, für Prototypen dessen, was im Verlauf des Experiments aus der gesamten Bevölkerung ihrer Länder werden sollte. Nicht wenige Funktionäre betrachteten sich als auserwählt. (…) Kritische Selbstreflexion gehörte nicht zur seelischen Ausrüstung der Funktionärselite, und diese Mentalität hält sich bei ihren Angehörigen bis heute: Solange sie sich oben halten können, zeigen sie eine Attitüde ungetrübter Selbstherrlichkeit (...)

Die Angehörigen der „Neuen Klasse“ verstanden sich nicht als Einzelperson, sondern als Teile von Kollektiven, als Rädchen in einer auch für sie selbst mysteriösen Maschinerie. Vorsorglich wurde in der Erziehung und Selbsterziehung der Funktionäre jede persönliche Äußerung und Ausstrahlung, alles Auffallende und Ausgeprägte unterdrückt. Bei der internen Verständigung bediente man sich einer „Neusprache“, die ganz aus unverfänglichen, ideologisch abgesicherten Sprachbausteinen bestand. Jedes persönliche, individuell gefärbte Wort wurde vermieden, jedes persönliche Urteil und jedes Bekenntnis, abgesehen von dem einen, immer wiederholten: zum Kommunismus und den jeweiligen Repräsentanten der Partei.

Tugenden, die gute Spione hervorbringen

Diese Mentalität des Verschweigens, der Verleugnung, der täglich – auch im Umgang miteinander – trainierten Konspiration machte die „Neue Klasse“ so überraschend effektiv auf dem Gebiet der Geheimdienste und Spionage. Ein Gutteil der Insuffizienz des Systems wurde dadurch ausgeglichen, dass die hörigen, verschwiegenen, um ihr Leben fürchtenden, im Erfolgsfall privilegierten Mitarbeiter der kommunistischen Sicherheitsdienste mit eiserner Entschlossenheit und Geheimhaltung in die wirtschaftlichen, militärischen und gesellschaftlichen Strukturen des „Gegners“ eindringen und dort – nicht zuletzt wegen einer dort anzutreffenden, manchmal unglaublichen Fahrlässigkeit – immensen Schaden anrichten konnten. Auch auf die öffentliche Meinung westlicher Staaten wurde großer Einfluss genommen. Kampagnen wurden initiiert, kollektive Angstzustände ausgelöst, der innere Zusammenhalt dieser Länder durch aufgeheizte Kontroversen erschüttert. Es ist mehr als fraglich, ob die 68er-Bewegung in der Bundesrepublik und ihr „Marsch durch die Institutionen“ annähernd so viel Wirkung auf das gesellschaftliche Leben hätte nehmen können ohne die ständige Unterstützung und hilfreichen Kooperation der Geheimdienste des sowjetischen Imperiums.

Das zweite Hauptmerkmal der internen Verständigung innerhalb der „Neuen Klasse“ – neben dem Subversiven – war der Hass. Er galt äußeren wie inneren Feinden in unbegrenztem, durch keinen altmodischen Gnadenbegriff gebremsten Maß. Die Mentalität der Funktionäre lebte davon, dass sie ihre Feindbilder solange repetierten, bis jeder Einzelne ganz davon imprägniert war, felsenfest daran zu glauben schien und diesen Glauben auch andere glauben machte. Ständiger Selbstbetrug bildete die entscheidende Verquickung, aus der heraus man zusammenhielt. „Der Gegner“, „der Feind“, „die Verräter“, „der Amerikanismus“, „der Zionismus“ oder „Faschismus“, „Verschwörungen“, „Offensiven“ und „gegnerische Strategien“ – man lebte in einer permanenten Paranoia, die dem faden Alltag eines bis ins Kleinste reglementierten Lebens die Würze und neurotische Schubkraft gab. Im Grunde hat diese Paranoia das System überdauert, heute angepasst an die Muster inner-demokratischer Parteienkämpfe in westlichen Gesellschaften. Die äußeren Feindbilder, etwa eine „faschistische Bedrohung“, blieben in vielen Fällen unversehrt bestehen (…)

Psychisch Verkrüppelte und die Unterdrückung der eigenen Gedanken

Welche Qualitäten waren vonnöten, um in der „Neuen Klasse“ erfolgreich zu sein? Man musste gewisse Regeln einhalten, etwa individuelle Äußerungen, möglichst bereits Gedanken in sich unterdrücken, und andererseits Ergebenheit heucheln, der „Lehre“ und der gerade herrschenden Clique gegenüber. Nach langem Sklavendienst in den verschiedenen Etagen der Hierarchie drangen psychisch Verkrüppelte zum Thron vor, ihre Lebenserfahrung bestand darin, dass derjenige überlebt, der zuerst tötet. Das Morden, Einsperren, Quälen von Menschen schien ihnen lebensnotwendig, ja das Leben selbst zu sein (…) Nicht anders als die uomini d’onore, die „Männer von Ehre“, wie sich die Mitglieder der sizilianischen Mafia nennen, lebten auch die Angehörigen der „Neuen Klasse“ in einer Gleichzeitigkeit von täglich verübtem Verbrechen und moralischem Dünkel. Dem Außenstehenden scheint dies eine schwer nachvollziehbare, mehr oder weniger schizoide Situation. Wer jedoch mit ihr aufwuchs und sich einmal an sie gewöhnt hat, wer das Verbrecherische vor sich selbst mit dem erklärten edlen Ziel, mit der Zugehörigkeit zu einer moralisch höherstehenden „Klasse“ legitimieren gelernt hat, betrachtet nicht nur den kriminellen Übergriff, die ständige Gewaltanwendung als etwas Normales, sondern nimmt auch die Grenze nicht mehr wahr, die zwischen dem Kriminellen und Nicht-Kriminellen verläuft (...)

Millionen ehemalige kommunistische Kader haben den Untergang ihres politischen Systems überlebt. Viele von ihnen bleiben – trotz äußerer Veränderungen – innerlich dem gescheiterten System verbunden (…) Die „Neue Klasse“ hat eine eigene Moral der Unnachgiebigkeit entwickelt, (…) eine Grabenkämpfer- und Wehrwolf-Moral. Auch im vereinigten Deutschland ist ihr Widerstand gegen die postkommunistische Welt zu spüren, ein zäher Kampf – zuerst im Untergrund, nun zunehmend öffentlich – mit sichtbaren Folgen. Sinnlos zu fragen, was er den ehemaligen Funktionären, Geheimdienst-Mitarbeitern, Militärs und Partei-Ideologen nützt. Nach ihrer Moral genügt es zu stören, zu zerstören. Viele wollen wenigstens die Genugtuung des Scheiterns der verhassten „Freiheit des Kapitalismus“ erleben, ein nachträgliches Rechthaben, eine Bestätigung der tiefen Verachtung, die sie seit jeher gegen die westliche Gesellschaft empfanden.

Der vollständige Text des Aufsatzes „Die Neue Klasse hat ihr verdientes Ende überlebt“ findet sich hier.

Foto: Creative Commons CC0 Pixabay

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Gustav Scharf / 11.03.2022

“Kritische Selbstreflexion gehörte nicht zur seelischen Ausrüstung der Funktionärselite, und diese Mentalität hält sich bei ihren Angehörigen bis heute: Solange sie sich oben halten können, zeigen sie eine Attitüde ungetrübter Selbstherrlichkeit (...)” Diese Erkenntnis ist systemunabhängig und zeitlos.

Ralf Pöhling / 11.03.2022

Man muss zwei Dinge trennen: Die Schattenwelt der Schlapphüte und das politische System. Die “permanente Paranoia” ist ein Phänomen der gesamten geheimdienstlichen Parallelwelt in Ost UND West, die so gar nichts mit der offen populistischen Welt der Politik gemein hat. In der Schattenwelt der Schlapphüte ist nichts wie es scheint, alles ist Tarnung und immer anders als es aussieht. Ob der Freund wirklich der Freund und nicht doch der Feind ist, lässt sich selbst nach jahrelanger Zusammenarbeit niemals mit 100% Sicherheit sagen, da Geheimdienste ihre Ziele, nicht aber ihre Methoden, mit der Änderung der politischen Verhältnisse und geänderten Interessen ändern. Und da kommen wir zur Politik: Während Politiker, entgegen der Annahme dass sie im Auftrag des Volkes handeln, entweder im Interesse von Lobbygruppen oder ihrem eigenen Interesse handeln, pendeln Schlapphüte zwischen der blanken Notwendigkeit der Erhaltung ihrer Fassade, dem Eid den sie auf die Verfassung geschworen haben und der jeweiligen Auftragslage, die durch die amtierende Politik bestimmt wird. Die ersten beiden kollidieren häufig mit der letztgenannten. Hochinteressant wird es, wenn ein Schlapphut gleichzeitig Politiker ist. Denn dann schlagen die Gesetzmäßigkeiten der geheimdienstlichen Schattenwelt auf die Politik durch. Was letztlich dazu führt, dass selbst in der Politik nichts mehr ist, wie es scheint. Wenn dieser Zustand lange anhält, geht die Paranoia der Schlapphüte auf die gesamte Bevölkerung über und am Ende weiß keiner mehr so genau, was eigentlich Sache ist. Genau in dieser Situation befinden wir uns gerade. Die eigentliche Ursache davon ist nicht direkt sichtbar, wohl aber die Auswirkungen. Und anhand dieser Auswirkungen weiß man, was passiert sein muss. Wer dafür aber genau verantwortlich ist, bleibt im Dunkeln. Dass nun alle auf Putin zeigen, liegt daran, dass man ob seines Hintergrundes weiß. Bei vielen anderen weiß man es nicht. Und das ist das eigentliche Problem.

Dirk Jungnickel / 11.03.2022

ES IST NUR NOCH PEINLICH ! Hier schreiben Chaim Noll und einige Wenige von einer Ideologie - die des Kommunismus und der postkommunistischen Folgen -  die einen Kriegsverbrecher übelster Sorte hervor gebracht hat - und REFLEXARTIG   wird von den „Objektivisten“ spätestes in dritten Satz auf die USA eingedroschen, UM DIE ES GAR NICHT GEHT ! Kein politischer Mensch leugnet die Fehler und Übergriffe US - amerikanischer Administrationen. ALLERDINGS:  Meiner Meinung nach sind die USA nach 9 / 11 noch eher zu moderat mit ihren Feinden verfahren. ( Wenn der Kreml in Schutt und Asche gelegt worden wäre, dann hätte wohl Putin die Bombe eingesetzt und einen Weltkrieg in Kauf genommen. )

Heribert Glumener / 11.03.2022

Die vom Autor genannten “psychisch Verkrüppelten” finden sich gewiss auch unter ehemaligen (überlebenden) Insassen der CIA-Foltergefängnisse. Interessanterweise hat Litauen (gehört zu den Guten) frühere CIA-Foltergefängnisse im Januar 2022 verramscht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Amis mittlerweile technisch hoch ambitionierte Foltergefängnisse betreiben, z.B. in Lettland-Estland, in Rumänien, in Polen, aber auch in Deutschland (also weiterhin bei den Guten, ausnahmslos). Ich las auch einmal, dass russische Dienste extrem prügeln, die amerikanischen Dienste sollen etwas weniger brutal vorgehen, aber dafür sehr viel mit Drogen und Psychoterror sowie “Waterboarding” arbeiten.

A. Ostrovsky / 11.03.2022

Herr Noll, mit Verlaub, ich weiß gar nicht, welcher Teil Ihres Artikels Autobiographie ist Aber glauben Sie wirklich, alle Krisen, die wir in den letzten Jahren erleben, sind reine Propaganda-Hirngespinste der Russen? Und was genau haben Sie bei Karl Marx nicht verstanden? Mich hat an der Agitation und Propaganda in der DDR sehr gestört, dass es diese platte, ideologisch überhöhte Sicht, dieses Geschäftigsein der Ungebildeten war. Das war abstoßend. Aber das begann schon damit, dass ich vermutete, Lenin und seine Ideologen hätten Marx gar nicht wirklich gelesen. Bei Stalin war dann jeder Bezug zu Marx zerstört und bei Chrustschow oder Breshnjew, den Verwaltern der Unfähigkeit, die Ihr Vater ja sehr bewundert haben muss, war dann jeder Hauch an Intellektuellem Denken beseitigt. Wenn Sie nun deshalb jetzt zu der Schlussfolgerung kommen, der Westen hätte kein tödliches Problem, ist das m.E. nur ebenso unverstanden. Dieser plumpe Quatsch, das alles wäre nur Putins Erfindung, ist doch noch unintelligenter, als Honnecker jemals sein konnte. Ich habe kürzlich im SRF eine Sendung gehört, die genau diese Idiotie bedient haben, im Ukraine-Konflikt wäre alles nur Putins Propaganda, die “Freiwilligen” aus der Ukraine schießen gar nicht, es hätte Grenzkonflikte zu den “Volksrepubliken” immer nur von pro-russischer Seite gegeben. Ein langer Beitrag von Arte war auf dem selben Niveau. Das beleidigt das Denken jedes intelligenten Menschen und dient nur dazu die Ungebildeten und Uninformierten abzuholen. Aber von denen geht doch gar keine Gefahr für die westliche Propaganda aus. Das ist echt die falsche Zielgruppe, oder eben ein viel zu niedriges Niveau. Nicht jeder kann alles. Man soll das dann aber lieber lassen, was man nicht kann.

Gerd Quallo / 11.03.2022

Die trivialere und stringentere Erklärung: Putin ist ein Soziopath.

Stephan Bender / 11.03.2022

Ich fürchte, ich gehe in dieser Analyse nicht mit: Der Ansatz zum Versagen der Eliten ist psychologischer, nicht politischer Natur. Es handeln ja Menschen, nicht Politiker, dort liegt der Hund begraben.

Gabriele Klein / 11.03.2022

Sehr geehrter Herr Noll: Nachdem wir eine Eskalation erreicht haben, wo ein kleines Mißverständnis / Fehlalarm auszulösen der Billionen Tote zur Folge haben könnte, interessieren mich Ausführungen wie diese momentan nicht. Ein Herr Zelensky kämpft mit einer Verbissenheit,die alles und jeden aufs Spiel setzt und die mich an jene Verbissenheit Japans im 2. Weltkrieg erinnert , Unter dem Titel: What were the major reasons for bombing Hiroshima lese ich: “Truman worried that an invasion of Japan would cost up to one million American lives and would drag on for far longer than the American public wanted due to the fanaticism of Japanese soldiers to defend their island and emperor. ” Vor diesem Hintergrund meine Frage: Welchen “Kaiser” oder abendländischen Werte ganz konkret verteidigt ein Herr Zelinsky durch sein Handeln? Ich frage dies deshalb, weil das Judentum v. H. Zelinsky durch die Presse mehr hervorgehoben scheint als im Falle Kissingers , und ich ich den Zusammenhang zwischen jüdischen Werten, (die übrigens auch die eines jeden Christen sind)  und dem was Herr Zelinsky macht nicht erkennen kann.  Auf diese Frage suche ich eine Antwort, nachdem ich mich über die politischen Anliegen auf beiden Seiten informiert habe und leider H. Kissinger, (auch ein Jude) zustimmen muss. (Siehe seine klugen Worte i. d. Washington Post um d. Jahr 2008.

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