Stefan Frank / 16.03.2024 / 12:00 / Foto: Pixabay / 9 / Seite ausdrucken

Paris ist kein sicherer Ort mehr für Juden

Der kürzlich verübte Überfall auf einen orthodoxen Juden in Paris ist nur einer von vielen antisemitischen Gewalttaten, die sich seit dem Hamas-Angriff und dem darauffolgenden Gaza-Krieg häufen.

Ein 62-jähriger französischer Jude wurde am 1. März in Paris krankenhausreif geschlagen. Nach dem Verlassen der Synagoge Les Orteaux im Viertel Saint-Blaise im zwanzigsten Arrondissement sah der Mann, der in der Berichterstattung lediglich mit seinem Vornamen Marco bezeichnet wird, nach eigenen Angaben einen unbekannten Mann an ihm vorbeigehen, den späteren Täter. Marco trug eine Kippa.

Drei Minuten später sei der Unbekannte zurückgekommen und habe ihn mit den Worten angesprochen: „Dreckiger Jude. Bist du derjenige, der die Menschen in Gaza tötet?“ – „Nein, ich töte niemanden“, habe Marco erwidert. Daraufhin ging der Täter auf das Opfer los, setzte Faustschläge, Tritte und Kopfstöße ein. Marco verlor das Bewusstsein und wurde ins Krankenhaus gebracht. Sein Nasenbein ist mehrfach gebrochen, in einem Fernsehinterview, das einen Tag nach der Tat geführt wurde, sieht man Blutergüsse in seinem Gesicht und eine genähte Wunde an der Stirn. Er habe Schmerzen an den Wangen, dem Kiefer und dem Mund sagte Marco.

Auf Nachfrage erklärte er, der Täter habe außer der genannten Aussage nichts mehr zu ihm gesagt. Er habe sich nie in seinem Leben so erniedrigt gefühlt, fügte er hinzu: „Als Mann fühle ich mich frustriert, weil ich mich nicht verteidigen konnte. Ich fühle mich gedemütigt, ich fühle mich herabgesetzt. Das tut mir mehr weh als der körperliche Schmerz. Ich habe es satt, ich fühle mich nicht wie in Frankreich. Es erinnert mich an den Zweiten Weltkrieg. Sind die Nazis zurück, oder was? Die neuen Nazis.“

„Mit den Juden? Da gibt es keine Probleme“

Mit 75.000 Einwohnern pro Quadratkilometer (im Vergleich zu 21.000 Einwohnern pro Quadratkilometer in ganz Paris) ist das Viertel Saint-Blaise, das entstand, als das Dorf Charonne im Jahr 1860 der Stadt Paris eingemeindet wurde, eines der am dichtesten besiedelten in Europa. Es gilt als multikulturell, aber keineswegs als eines der Problemviertel wie etwa Saint-Denis oder Clichy-sous-Bois. Im Gegenteil rühmen Einheimische und Touristen den Charme des alten Paris, den man in Saint-Blaise noch finde.

„Ich lebe hier gern, weil es hier reich an Vielfalt ist“, sagte eine Anwohnerin gegenüber dem Magazin Le Point. Sie zeigt dem Journalisten den Eingang zu einem jüdischen Gymnasium in der Nähe der Synagoge, wo der Überfall stattgefunden hat. Wie die Synagoge ist auch die Schule versteckt hinter Gittern in einem großen Gebäude. „Im zwanzigsten Arrondissement halten sich die Juden in der Tat bedeckt“, kommentiert der Autor des Beitrags, Bartolomé Simon.

„Meiner Meinung nach ist der Angreifer nicht von hier“, so der Hausmeister des gegenüberliegenden Gebäudes, der von seinem Fenster aus die Feuerwehr und die Polizei bei ihrem Einsatz beobachtete. „Mit den Juden? Da gibt es keine Probleme. Die Leute im Viertel wissen, dass sich dahinter eine Synagoge befindet. Samstags sieht man die Gläubigen, aber die Stimmung bleibt ruhig.“ – „Wir mögen alle, außer die Nervensägen“, fügte ein Nachbar hinzu. „Das ist bei den Juden nicht der Fall, die verhalten sich hier diskret.“ Die Synagoge wollte sich auf Anfrage nicht äußern.

„Wir sitzen auf einem Pulverfass“, konstatierte David, ein langjähriges Mitglied der jüdischen Gemeinde im neunzehnten Arrondissement, gegenüber Le Point. „Alles, was viertausend Kilometer entfernt an Fahrt aufnimmt, hat auch hier Auswirkungen.“ Er kenne diese Synagoge, habe dort schon gebetet. „Seit dem Wochenende wird in der Gemeinde viel über diese Geschichte gesprochen. Die Lubawitscher [die Gemeinschaft, zu der die Synagoge Les Orteaux gehört, Anm. Mena-Watch] nehmen ihre Kippa aus Prinzip nicht ab, aber wir können sie nicht mehr tragen. Mein Sohn setzt eine Mütze auf. Müssen wir auswandern? Wir stellen uns diese Frage. Das jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Man kann nicht mit einem Damoklesschwert über dem Kopf leben, nur weil ein Typ, der Juden töten will, mit dem falschen Fuß aufgestanden ist.“

Eine Bäckerin des Viertels meinte gegenüber Le Point: „Ich bin praktizierende Muslimin und auf [der tunesischen Insel] Dscherba mit meinem besten jüdischen Freund aufgewachsen.“ Dann vollzog sie einen unerwarteten Schwenk: „Für mich sind Zionisten keine Opfer und Israel existiert nicht. Aber es ist natürlich nicht normal, hier einen Juden für das, was dort passiert, zu verprügeln, das ist verrückt.“

Mutmaßlicher Täter in Psychiatrie

Am Mittwoch wurde der mutmaßliche Täter gefasst. Laut der Polizei hat er bereits in der Vergangenheit antisemitische Taten verübt. Abgesehen davon wurde lediglich sein Geburtsjahr öffentlich gemacht, 1992. Er wurde inzwischen aus der Untersuchungshaft in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt, nachdem ein psychiatrisches Gutachten zu dem Ergebnis gekommen war, dass sein geistiger Zustand „nicht mit der Untersuchungshaft vereinbar“ sei. Sollte er aber nicht dauerhaft in ein Krankenhaus eingewiesen werden, wird der Polizeigewahrsam wieder aufgenommen, heißt es in Medienberichten.

Nach dem Angriff hat Innenminister Gérald Darmanin die Präfekten aufgefordert, den Schutz der jüdischen Gemeinschaft vor allem bei Schulen und Synagogen zu verstärken.

Antisemitische Taten in Frankreich haben sich im Jahr 2023 laut dem Rat der jüdischen Institutionen in Frankreich (CRIF) im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht. Auf der Grundlage der Zahlen des Innenministeriums und eines französisch-jüdischen Sicherheitsdienstes zählte der CRIF im Jahr 2023 1.676 antisemitische Taten, während es im Jahr davor 436 derartige Vorfälle gab. Bei fast sechzig Prozent der Angriffe soll es sich um körperliche Gewalt, Drohungen oder Drohgebärden gehandelt haben. Die Taten wurden Berichten zufolge in 95 von 101 Departements Frankreichs begangen; dreizehn Prozent der antisemitischen Übergriffe wurden an Schulen registriert. „Wir erleben immer jüngere Täter, die antisemitische Handlungen begehen. Schulen sind nicht länger ein sicherer Ort der Republik“, erklärte der Rat.

Debatte in der Nationalversammlung

Diese Woche debattierte die französische Nationalversammlung über ein neues Gesetz gegen Rassismus und Antisemitismus. Justizminister Eric Dupond-Moretti warf sowohl der rechten Partei Rassemblement national (Nationale Versammlung, RN) von Marine Le Pen als auch der linksgerichteten Partei La France Insoumise (Das unbeugsame Frankreich, LFI) von Jean-Luc Melenchon vor, Antisemitismus zu schüren. Der RN sei von einem „Waffen-SS-Mann“ gegründet worden, so Moretti, und habe den mit beiden Armen ausgeführten antisemitischen Gruß „Quenelle“ populär gemacht. Melenchon warf er vor, um die Wählerstimmen von Islamisten zu buhlen.

Melenchon lehnt es ab, die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen und lobte sie stattdessen als „Widerstand“. Besondere Empörung verursachte er nach den Massakern des 7. Oktober, als er sich gegen die jüdische Vorsitzende der französischen Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, wandte, die zu einem Solidaritätsbesuch nach Israel gereist war, wo sie unter anderem den von den Massakern besonders betroffenen Kibbuz Be’eri und die Stätte des Rave besuchte, wo hunderte Konzertbesucher getötet, vergewaltigt oder verschleppt worden waren.

Auf dem Kurznachrichtendienst X postete Melenchon daraufhin ein Kurzvideo einer Großdemonstration gegen Israel, die in Frankreich zur selben Zeit stattfand, und schrieb: „Dies ist Frankreich. Währenddessen campt Madame Braun-Pivet in Tel Aviv, um das Massaker zu fördern. Nicht im Namen des französischen Volkes!“

Braun-Pivet warf Melenchon daraufhin vor, das französische Wort camper in Anlehnung an NS-Konzentrationslager (camp de concentration) benutzt zu haben. „Ich bin überzeugt, dass das Wort ,campen‘ nicht zufällig gewählt wurde, und die Behauptung, dass ich Massaker befürworte, ist wieder einmal eine neue Zielscheibe, die auf meinen Rücken geklebt wird“, sagte sie. „Das ist sehr ernst.“

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Mena-Watch.

 

Stefan Frank, geboren 1976, ist unabhängiger Publizist und schreibt u.a. für Audiatur online, die Jüdische Rundschau und MENA Watch. Buchveröffentlichungen: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“ (2009); „Kreditinferno. Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos“ (2012).

Foto: Pixabay

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Talman Rahmenschneider / 16.03.2024

“Paris ist kein sicherer Ort mehr für Juden”. Zürich auch nicht mehr.

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