Constantin Schreiber ist Tagesschau-Sprecher. Er ist 42 Jahre alt und ein gut aussehender Mann. Als Sprecher der 20:00-Uhr-Hauptnachrichtensendung, (einstiges) Flaggschiff der ARD, sollte man gut aussehen, aber auch ein wenig durchschnittlich, jedenfalls nicht zu individuell. So wie sein Vorgänger Jens Riewa gut und etwas durchschnittlich aussah, gut genug, um den Menschen zu gefallen und durchschnittlich genug, um möglichst „neutral“ die nicht immer ganz neutralen Nachrichten vom Teleprompter ablesen zu können.
Dass Constantin Schreiber aus Norddeutschland stammt, allem Anschein nach heteronormativ verheiratet ist und eine Tochter hat, gereichte ihm bislang nicht zum Nachteil. Doch das könnte sich ändern. Denn Schreiber hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, einen Roman. Er heißt „Die Kandidatin“ und handelt davon, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine strenggläubige muslimische Ökopolitikerin drauf und dran ist, die Bundestagswahl zu gewinnen und Deutschland womöglich in einen Gottesstaat verwandeln könnte.
„Die Kandidatin“ ist nicht Schreibers erstes Buch. Zuvor hatte der Journalist, der Arabisch spricht und mehrere Jahre als Korrespondent der Deutschen Welle in Dubai tätig war, schon mehrere Veröffentlichungen über den Islam herausgebracht, darunter das Buch „Inside Islam“, in dem er Freitagspredigten aus deutschen Moscheen übersetzte und kommentierte. Es rangierte auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und wurde, wie auch sein nächstes Buch „Kinder des Koran“, als islamfeindlich kritisiert. „Für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Ankommen in Deutschland“ wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Darin erklärte Schreiber auf Arabisch mit deutschen Untertiteln sein Heimatland und das alltägliche Leben der Deutschen.
Der große Skandal ist ausgeblieben
Von seinem neuesten Buch haben die Mainstreammedien zunächst kaum Notiz genommen. Dann erschien als Aufmacher im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, in dem der Islamwissenschaftler Stefan Weidner kräftig vom Leder zog. Er sieht in dem Roman „wenig mehr als ein rechtspopulistisches Pamphlet mit altbekannten Feindbildern: dem Islam und den Muslimen, den ‚Linken‘ sowie allen, die mit ethnischer, religiöser oder sexueller Vielfalt kein Problem haben und diese verteidigen möchten“. Nur langsam kam die Empörungsmaschinerie in Gang, ein kleiner Shitstorm folgte. Von Forderungen, Schreiber sei als Nachrichten-Ableser untragbar geworden, hat man bislang nichts gehört. Der große Skandal ist ausgeblieben.
Woran liegt es, dass die nimmermüden Sittenwächter der Cancel Culture sich in seinem Fall so auffallend zurückhalten? Liegt es vielleicht daran, dass man Schreibers Roman für ein so schlechtes Buch hält, das ohnehin keine Breitenwirkung entfalten werde (wie etwa Michel Houellebecqs thematisch ähnlicher, wenn auch qualitativ himmelweit besserer Roman „Unterwerfung“) und über das man lieber den Mantel des Schweigens deckt? Oder ist der Grund darin zu sehen, dass Schreiber in fiktiver Weise über Dinge schreibt, die allzu bekannt sind, dass er, wenn auch satirisch überspitzt, lediglich Tatsachen beschreibt, die schwer zu leugnen sind?
Zunächst: Schreiber hat ein schlechtes Buch geschrieben. Man liest es nicht gerne, man quält sich durch die gut 200 Seiten, man ist nicht fasziniert von den Charakteren, die er beschreibt, der gestylten Kanzlerinnenkandidatin Sabah Hussein, die der Berliner SPD-Politikerin Sawsan Mohammed Chebli nachempfunden sein soll, dem undurchsichtigen Imam Abd al-Malik, dem Enthüllungsjournalisten Jonas Klagenfurt, dem ostdeutschen Rechtsextremisten Sven Birn und Sabah Husseins Wahlkampfmanagerin Jette, die sich als Verräterin in den eigenen Reihen entpuppt. Die Handlung entwickelt keinen Sog, die (meisten) Wendungen, die die Erzählung nimmt, sind vorhersehbar, sie überraschen nicht. Schreiber ist kein Schriftsteller, er ist Journalist, möglicherweise sogar ein guter. Aber das Fiktionale liegt ihm nicht. Er hat nicht genug Phantasie, und wenn, dann ist es Allerweltsphantasie.
Das, was Schreiber beschreibt, ist teilweise schon Realität
Vor allem: Seine Sprache ist schematisch und unsensibel. Es ist die Sprache der Twitter- und Facebook-Junkies, die nur noch einer rudimentären Verständigung dient und nichts von dem besitzt, was man Sprachkultur nennt. Auch um Schreibers Bildungshorizont scheint es nicht zum Besten bestellt. Wenn er beschreibt, wie sich China in seinem Deutschland der 2050er Jahre zur alleinigen Weltmacht aufgeschwungen hat und sich deutsche Kulturgüter aneignet, fällt ihm nicht viel mehr ein als der „Sachsenspiegel“ und Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Gemälde „Goethe in der Campagna“. Wenn das alles wäre, was die Chinesen interessieren könnte, bräuchte man nichts zu fürchten. Was wirtschaftliche Zusammenhänge angeht, besitzt Schreiber offenbar keinerlei belastbare Expertise und wirft mit Begriffen um sich, die er nicht verstanden hat. Und einen „Bundesstaatsanwalt“ gibt es nicht. Warum hat das kein Lektor gesehen?
Wenn man nur nach der Form, nicht nach dem Inhalt geht, ist das Buch nicht das Geld wert, was es kostet, nicht einmal das Papier, auf dem es gedruckt ist. Es ist eines jener mit heißer Nadel gestrickten Journalisten- oder Politikerbücher, die nicht geschrieben worden sind, um gelesen zu werden, sondern um in den Feuilletons ein bisschen Wirbel zu machen, damit sie – wenn alles gut geht – im Spiegel-Bestseller-Ranking auftauchen. „Die Kandidatin“ hat es immerhin auf einen der hinteren Ränge in der Bestsellerliste Hardcover-Belletristik gebracht. Also zumindest in dieser Hinsicht alles richtig gemacht.
Kommen wir zu Punkt zwei der Erklärung, warum die Empörungsmaschine in Schreibers Fall ziemlich leerläuft und sich kein zweiter Sarrazin-Skandal anbahnt, noch nicht mal ein Eva-Herman-Aufreger. Schreiber lässt zwar keinen Zweifel daran, dass ihm eine Multikultiökogenderdiversity-Gesellschaft unter der Herrschaft einer grünen Muslima nicht behagen würde. Doch das, was er beschreibt, ist teilweise schon Realität, Schreiber rennt offene Türen ein. Die politische Lage, die er für die Mitte des Jahrhunderts skizziert: China überrennt Taiwan, Russland droht mit Annexion der Ukraine, Le Pen (sie wäre dann allerdings schon über achtzig) regiert in Frankreich, die USA befinden sich in einer Art Bürgerkrieg, Europa ist über das Flüchtlingsproblem tief gespalten, nur Deutschland nimmt im Alleingang immer mehr Flüchtlinge aus Afrika und Nahost auf. Über allem thront die neue, chinesische Supermacht. Das alles ist keine Dystopie, sondern mehr oder weniger abgeschrieben aus den Nachrichten, die Schreiber täglich verlesen muss. So what?
Die „Peinliche Analyse“ heißt bei uns nur anders
Sein Deutschland im Jahre 2050 ist ein Vorzeigeland nichtbinärer, feministischer, ökologischer und antirassistischer Lebensweisen, einem „linken Leuchtfeuer in einer Welt der rechten Populisten“. Muslimische Richterinnen tragen Hijab, (alte) weiße, biodeutsche Männer werden per „Vielfaltsförderungsgesetz“ aktiv ausgegrenzt, junge Mädchen laufen im Unisex-„Genderkaftan“ herum, es gibt eine gendergerechte Bibel, und die Nationalhymne wurde durch eine „Diversity-Hymne“ ersetzt, während im Osten radikale Rechte an ihrem letzten Refugium „Neu-Gotenhafen“ bauen und von dort einen Anschlag auf die muslimische Kanzlerinnenkandidatin organisieren.
In Schreibers Zukunfts-Deutschland muss man, um nicht abgehängt zu werden, über ein oder besser mehrere „Vielfaltsmerkmale“ verfügen, die im Personalausweis festgehalten werden. Und wer eine Stelle an einer Universität ergattern möchte, muss sich einer „Peinlichen Analyse“ unterziehen, die gewährleisten soll, dass keine „Faschisten“ die heiligen Hallen der politisch hyperkorrekten Lehranstalten kontaminieren. Diesem Verfahren fällt ausgerechnet Sabah Husseins Managerin Jette zum Opfer, die sich daraufhin an ihrer Chefin rächt. Sie hatte irgendwann einmal einen „belanglosen Tweet geteilt“ und war daraufhin von einem „miesen Algorithmus“ dem rechten Spektrum zugeteilt worden. Die „Peinliche Analyse“ gibt es längst, sie läuft unter „Faktencheck“ und „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“.
Schreiber überdreht und überspitzt, aber er geht dabei nicht weit genug. Gute Satire muss irgendwann ins Absurde kippen. Schreiber jedoch bleibt letztlich immer auf dem Boden der Tatsachen, selbst wenn er beschreibt, wie sich ein weißer Schauspieler, um noch beschäftigt zu werden, einen Fuß absägt, was ihm zu dem Vielfaltsmerkmal „Mensch mit Behinderung“ verhelfen soll. Der deutsche Alltag des Jahres 2021 ist schon so irrsinnig, dass man ihm auch mit satirischer Überspitzung nicht mehr beikommen kann. Und das macht Schreibers Buch uninteressant, auch als jene zeitgeistkritische Mahnung, als die es ganz offensichtlich gemeint ist.
Warum schweigen die linken Sittenwächter?
Überraschenderweise sind nur wenige Rezensenten über die Schlüsselstelle des Romans gestolpert, in der Schreiber mit offensichtlicher Sympathie und Empathie die Motive der rechten Bundespolizistin Denise beschreibt, die einen misslungenen Anschlag auf Sabah Husein verübte. Denise gehört als „ostdeutsche blonde Frau“ zu den Verliererinnen der Vielfaltspolitik. Rassistische Bilder und Witze, die sie mit Kollegen im Chat teilte, „halfen Denise, den Alltag besser zu ertragen“. Und weiter: „Je mehr sie verzweifelte an der Entfremdung ihres eigenen Landes, desto weniger schreckte sie die Aussicht, den Rest ihres Lebens hinter Gittern zu verbringen. Da das Leben draußen ihren Hass jeden Tag steigerte, würde sie in der Zelle zumindest Seelenfrieden finden.“
Der Autor liefert hier, fernab jeder satirischen Übertreibung, so etwas wie die klammheimliche Rechtfertigung eines rechtsterroristischen Aktes. Warum schweigen die linken Sittenwächter? Warum fordern sie nicht Schreibers Kopf? Weil sie selbst womöglich auf einen solchen Gewaltakt hoffen, der ihnen endgültig den Weg ins woke Diversity- und Ökoparadies ebnen könnte? Insofern ist Schreibers Buch dann doch ein Aufreger.
Das Bemerkenswerteste im Zusammenhang mit Schreibers Buch scheint mir die Tatsache, auf welch bescheidenem intellektuellen Niveau sich die Auseinandersetzung mit der eminent wichtigen Frage kultureller Identität Deutschlands im 21. Jahrhundert bewegt. Viel weiter als Botho Strauß mit seinem auch sprachlich atemberaubenden Essay „Anschwellender Bocksgesang“ aus dem Jahre 1993 (!) ist die Nation bei der Befassung mit sich selbst und ihrer nationalen, religiösen, demografischen Zukunft bislang nicht gekommen. „Dass ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.“ Seither hat kein Autor mehr einen Satz vergleichbarer Sprengkraft geschrieben.