Von Jonathan Raskol
Sind Sie in jüngerer Vergangenheit mal in einer Ausstellung von Gegenwartskunst gewesen? Und falls ja, hat es Ihnen gefallen? Ich frage, weil wenigstens mir bei letzterem die Antwort oft nicht besonders leicht fällt und ich hoffe, damit nicht ganz allein zu sein.
Niemand ist gerne der Unkultivierte in der Runde, erst recht niemand, der sich selbst gerne, zu recht oder zu unrecht, als kultiviert betrachtet. Und zu sagen, dass man mit abstrakter Kunst nichts anfangen kann, das wirkt auf so manchen Intellektuellen, als hätte man gerade zugegeben, sich nie die Zehennägel zu schneiden. Beides ist ähnlich schlimm, in gewisser Weise rückständig und barbarisch.
Also schleppe ich mich zähneknirschend in zeitgenössische Ausstellungen, verschränke die Arme, fasse mir nachdenklich dreinblickend ans Kinn und spreche im Nachhinein von einer „interessanten Erfahrung“. Bei Nachfragen rezitiere ich, was ich dem Begleitheftchen zur Ausstellung entnehmen konnte. Danach fühle ich mich oft ein bisschen schmutzig, aber zumindest ernte ich Anerkennung als Zugehöriger einer Gruppe von Auserwählten. Versteher der Kultur, Interpreten der Gegenwart, dazu ausersehen, jenen Menschen beschränkten Horizonts die Welt zu erklären.
Ich hatte in diesem Zusammenhang ein prägendes Erlebnis, als ich die Fundació Joan Miró, ein Museum zu Ehren des katalanischen Künstlers Miró, besuchte. Da wurde ich relativ schnell mit Gemälden konfrontiert, auf denen außer Kreisen und ins Leere führenden Strichen nicht viel zu sehen war. Einige von ihnen waren angekokelt. Mein Kopf lief spürbar heiß vor lauter Anstrengung, Zugang zu dem Werk dieses namhaften, also wichtigen Künstlers zu bekommen. Vergebens. Aber – der Herr sei gepriesen! – ein Kurator hatte eine Erklärung erfasst, auf die ich nicht im Traum gekommen wäre. Hier wurde nämlich, und das ist eine Phrase, der man verblüffend häufig begegnet, „die Räumlichkeit dekonstruiert“. Räumlichkeit dekonstruieren, welch hehres Anliegen! Endlich hat sich da mal jemand drum gekümmert, um diese verflixte Räumlichkeit! Wenn ich das gut in ein Gespräch einbände, bei einem Glas Rotwein vielleicht, könnte ich sicher viel Eindruck schinden.
Die Wirkung anspruchsvoller Erläuterungen
Allerdings lag mir diese Erklärung in den folgenden Tagen noch schwer im Magen. Was, wenn jemand nachbohren würde? Wie soll man da ins Detail gehen, um nicht das Gesicht zu verlieren? Nach und nach stieg in mir Wut auf diese kryptische Erklärung auf. Wie soll Miró Räumlichkeit dekonstruiert haben? Befand sich ein Teil des banal wirkenden Bildes in einer zusätzlichen räumlichen Dimension, die ich nicht sehen kann, sondern nur der Kurator? Hat der Kurator Quantenmechanik studiert? Mangelte es mir an der notwendigen Kreativität und Intelligenz, die ich bräuchte, um das Ganze zu verstehen? Schauerliche Vorstellung.
Aber so langsam dämmert es mir: Vielleicht wusste der Kurator selbst nicht so genau, was er mit seiner Erklärung meinte. Vielleicht war ihm klar, dass ein Bild, das handwerklich in etwa dem Level eines Grundschülers entsprach, bei Intellektuellen nur durch eine äußerst anspruchsvolle Erläuterung seine Wirkung entfalten könnte. Dass ein bestimmtes Publikum eben mehr Interesse zeigt, wenn es glaubt, vom tyrannischen Joch der Räumlichkeit befreit zu werden.
Der Sinn abstrakter Kunst scheint sich eher in der Rhetorik ihres Marketings als in ihr selbst zu finden. Durch die richtige Wortwahl kann jeder Gegenstand jede Bedeutung annehmen. Ausstellungen werden nicht länger von Künstlern, sondern von wortgewandten Selbstvermarktern bestimmt.
Nachplappern und nachäffen
Als ich kürzlich von der Debatte um das Framing Manual der ARD las, wurde mir klar, dass der Begleitheftchen-Kult auch in anderen Bereichen vorkommt. Die Parallele ist mir zwar nicht sofort aufgefallen, aber inzwischen scheint sie mir offensichtlich: Jemand, der Experte auf einem Gebiet ist oder zumindest gelernt hat, so zu reden als ob, erklärt seinem Publikum das scheinbar Sinnlose, vermeintlich Hochkomplexe. Aus dieser Expertise entsteht dann, durch den bloßen Effekt des Nachplapperns und Nachäffens, eine neue Mode. In die kann nur noch einsteigen, wer weiterhin nachplappert und nachäfft, möglichst ohne sich dabei Gedanken über seine eigene Position zu machen. Die eigene Wahrheit, der Standpunkt, den man bis vor kurzem noch selbstbewusst verteidigen wollte, weicht den Leitsätzen, auf die sich die Intelligenzija geeinigt hat. Und da haben wir es: Abstrakte Gegenwartskunst und politischer Journalismus sind in der Funktionsweise deckungsgleich.
Denn was ist so ein Framing Manual schon anderes als die Kapitulation vor einer sinnentleerten Welt, über die es allenfalls durch gezieltes Framing die Deutungshoheit zu gewinnen gilt? Ein Begleitheftchen für alle, denen eigenes Denken angesichts der unübersichtlichen Umstände gar nicht mehr zugetraut wird.
Am Ende muss ich womöglich doch eine Lanze für die abstrakte Kunst brechen. Sofern sie denn wirklich die Gesellschaft spiegelt, zeichnet sie wohl ein ganz akkurates Bild. Nur schade, dass dabei außer Orientierungslosigkeit und Geltungsdrang wenig gespiegelt wird.
Jonathan Raskol studiert Politikwissenschaften