In Pakistan werden 70 Prozent aller Ehen zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades geschlossen, in Algerien sind 34 Prozent blutsverwandt, in Ägypten 33 Prozent, im Irak 60 Prozent, 64 Prozent in Jordanien, 67 Prozent in Saudi-Arabien, um nur einige Länder zu nennen. In Berlin ist etwa ein Drittel aller türkischstämmigen Frauen der ersten Einwanderergeneration mit einem nahen Verwandten verheiratet. Dieser Wert entspricht in etwa den Verhältnissen in der Türkei. Statistisch auffällig ist, dass Verwandtenehen in Ländern der muslimischen Einflusssphäre weltweit am häufigsten sind.
Die Schwierigkeiten, die sich daraus vor allem für Frauen ergeben, habe ich bereits kurz skizziert (in ihrem Buch „Die unheilige Familie“, Anm. d. Red.). Ob dies Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Nachkommenschaft hat, ist immer wieder Ausgangspunkt für hitzige Debatten. Eine parlamentarische Kleine Anfrage der AfD im März 2018 zum Zusammenhang zwischen Schwerbehinderung, Verwandtenehen und Migration wurde vom Deutschen Ethikrat und den Sozialverbänden empört als rassistisch motiviert zurückgewiesen. Bei solchen Anfragen sei klar, aus welch „dunklem Geist“ sie kämen.
Wir scheinen es hier ganz allgemein mit einem Tabuthema zu tun zu haben. So konnte bereits vor Jahren die Duisburger Sozialwissenschaftlerin Yasemin Yadigaroglu ihre Untersuchung über Verwandtenehen nicht abschließen, weil sich kein Doktorvater und kein Institut für die Promotion zu dem Thema fand. Schon bei dem Versuch, unter betroffenen Frauen Daten zu erheben, wehrten sich Familien und Islamverbände gegen „die Einmischung in familiäre Angelegenheiten“ durch Yadigaroglu. In der öffentlichen Debatte spielen arrangierte Ehen im Familienkreis zwar immer wieder mal eine Rolle, deren mögliche medizinische Folgen finden dagegen kaum Beachtung. Obwohl die Risiken bis zu dreimal höher liegen als bei Ehepaaren, die nicht miteinander verwandt sind. Gehäuft werden Erbkrankheiten, Stoffwechselerkrankungen, chronische Entzündungen, Nierenversagen und geistige Behinderungen bei Neugeborenen beobachtet. In der muslimischen Gesellschaft werden behinderte Kinder der Mutter angelastet: Im Volksmund sagt man, sie habe kanibozuk – schlechtes Blut.
„Heiraten ja, aber nicht meinen Cousin!“
Vielen Frauen ist das genetische Risiko einer solchen Ehe gar nicht bewusst, der familiäre Druck, ein Kind zu bekommen, ist so groß, dass an die möglichen Folgen zu spät oder gar nicht gedacht wird. Aufklärungsarbeit, gestützt durch sozialwissenschaftlich-medizinische Untersuchungen, wäre hier dringend geboten. Damit wenigstens einigen Frauen ein bitteres Schicksal erspart bleibt. Sie zu erreichen, ist schwer genug, sie zu einem Umdenken zu bewegen, noch schwerer.
Yadigaroglu hat Postkarten entworfen, die sie an türkische Eltern und in Vereinen verteilt: „Heiraten ja, aber nicht meinen Cousin!“, lautet einer der Slogans. Aber: Die Überzeugungen aus der alten Heimat halten sich hartnäckig. „Gute Mädchen heiraten Verwandte, schlechte Mädchen gibt man Fremden“, heißt es etwa in Anatolien. Oder: „Mein Sohn ist verloren, wenn er eine Fremde heiratet.“
Es gibt national wie international nur wenige Studien, die sich mit den physischen und psychischen Folgen der Verwandtenehe beschäftigen. Die Dissertation von Markus Stärk, 2017 vorgelegt an der Charité in Berlin, untersucht den Zusammenhang von Blutsverwandtschaft (Cousin, Cousine ersten Grades) und dem Auftreten von Fehlbildungen, die ohne therapeutisches Eingreifen zum Tod oder schwerer Behinderung führen. Der Titel der Arbeit lautet „Konsanguinität und Major Anomalies – eine Auswertung von 35391 Fällen aus pränatalmedizinischer Sicht“. Bei nicht verwandten Paaren lag die Prävalenz (das heißt die Rate der an einer bestimmten Krankheit Erkrankten) bei 2,9 Prozent, bei Blutsverwandten bei 10,9 Prozent. Das Risiko für Trisomien (unter anderem für das Down-Syndrom) lag bei Nichtverwandten bei 2 Prozent, bei Blutsverwandten bei 5,9 Prozent. Diese Ergebnisse sollten zumindest nachdenklich machen.
Endlich ohne Scheu darüber reden
Wenn diese Risiken von Verwandtenehen aber weiterhin als „Mythos“ abgetan und selbst Diskussionen darüber schon als „rassistisch und antimuslimisch“ bezeichnet werden, dann wird es zu einer dringend notwendigen Aufklärung nicht kommen. Die Leidtragenden sind die Frauen, die im Falle eines behinderten Kindes gleich doppelt stigmatisiert werden. Eine Politik, die hier untätig bleibt, kann im Wortsinn krank machen. Gesetzlich verboten sind in Deutschland nur Ehen zwischen Eltern und Kindern oder Geschwistern. Doch vielleicht könnte man sich in diesem Zusammenhang einmal an das christliche Erbe erinnern. Papst Nikolaus II. (990/995–1061) gab im Jahr 1059 eine Enzyklika heraus, in der er verfügte, dass ein Mann und eine Frau sieben Verwandtschaftsgrade getrennt sein müssen, um eine legitime Ehe einzugehen. Anderenfalls, so drohte der Papst, würde das Paar exkommuniziert.
Heute gilt als Ehehindernis laut § 1307 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nur die direkte Verwandtschaft, Ehen zwischen Cousins und Cousinen sind erlaubt. Solche Verbindungen kommen aber in der Realität der Mehrheitsgesellschaft sehr selten vor, da nicht die Familie über die Heirat entscheidet, sondern Paare die Möglichkeit haben, sich jenseits der Familienbande kennenzulernen. Im orientalischen Kulturkreis ist dies jungen Leuten nicht oder nur in sehr geringem Umfang möglich. Das gilt für die Herkunftsländer ebenso wie für hier lebende muslimische Migrant(inn)en. So kommt eine Studie zur Zwangsverheiratung in Deutschland zu dem Schluss, dass häufig Minderjährige innerhalb der Familie verheiratet werden. Allgemein erwarteten 27 Prozent der Befragten, mit ihrem zukünftigen Ehegatten verwandt zu sein.
Der Druck auf die Frauen, trotz möglicherweise schwerer Konflikte und Gewalt in einer solchen Ehe zu bleiben, ist höher als bei anderen Modellen. Frauen, die mit einem Verwandten verheiratet sind und sich zu einer Trennung entschließen, verlieren in der Regel jeden familiären Kontakt und jede Unterstützung, denn die Familie des Ehemannes ist gleichzeitig die eigene Familie.
Aus meiner Sicht besteht hier dringend Handlungsbedarf. Gerade weil Verwandtenehen in der muslimischen Community weit verbreitet sind, sollte sich auch die Migrationsforschung mit diesem Thema beschäftigen. In Schulen sollte über die Risiken aufgeklärt werden – und Politik und Justiz sollten die Sinnhaftigkeit des Paragrafen § 1307 generell kritisch überprüfen. Bis dahin scheint es aber noch ein langer Weg zu sein. Denn, wie Yadigaroglu, die sich seit 2009 mit dem Thema Verwandtenehen beschäftigt, sagt: „Es wäre einfach schon viel gewonnen, wenn sich endlich auch die deutsche Gesellschaft trauen würde, ohne Scheu darüber zu reden.“
Dies ist ein Auszug aus Necla Keleks neuestem Buch „Die unheilige Familie. Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet“, 2019, München: Droemer, hier bestellbar.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Teil 3 finden Sie hier.
Necla Kelek, Soziologin, wurde 1957 in Istanbul geboren. Als Autorin verschiedener Bücher prägte sie die deutsche Debatte um Integration, vor allem als Kritikerin des autoritären Frauenbilds im traditionellen Islam. Sie ist Teil des Vorstands der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“.