Den folgenden Beitrag postete die Autorin jüngst auf ihrer Facebookseite als Reaktion auf den Wirbel um die Freibad-Randale. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus ihrem Buch „Die verlorenen Söhne“ von 2005.
Sommer 2005. Die türkischen Jungen im Prinzenbad, ein Freibad in Berlin-Kreuzberg, (…) spielen am liebsten „Ertrinken“. Ihr größtes Vergnügen besteht darin, sich möglichst spektakulär vom Startblock zu stürzen, so als würden sie direkt vom Topkapi-Felsen in den Bosporus fallen. Bauchklatscher, Arschbombe, Köpper, Schraube oder Überschlag, alles wird dabei eingesetzt. Dabei wird miteinander konkurriert, gedrückt, gejagt, untergetaucht. Ein ernster Spaß, denn es geht, im bildlichen Sinne, um oben und unten. „Unten“ sind ausschließlich die Kleineren. Sie werden „erschossen“, sie stehen mit dem Rücken zum Wasser auf dem Startblock, bis sie fiktiv am Kopf oder im Bauch getroffen werden, dann lassen sie sich dramatisch ins Wasser plumpsen. Sie selbst dürfen es allerdings nicht wagen, einen Abi oder einen Jungen aus einem anderen Familienverband ins Wasser zu schubsen. Denn das würde Ärger geben, ein Abi würde es nicht zulassen, dass einem seiner Brüder etwas geschieht.
Die „Prinzen“ treten meist in Gruppen auf, vier bis sieben Jungen zwischen sechs und sechzehn Jahren, die zusammengehören, meist Brüder, zumindest Cousins, die alles gemeinsam machen. Was sie machen, bestimmt der Abi, der Älteste. Man geht gemeinsam zum Springen, isst gemeinsam, liegt gemeinsam auf dem Handtuch. Alle tragen weite Shorts, vom Bauchnabel abwärts bis zu den Knien, wie es muslimische Sitte ist, keiner trägt eine enge Badehose. Die Kinder unterhalten sich nicht, sie scherzen auch nicht, sondern sie schreien (auf Türkisch) „Spring oder ich fick dich“, „Ich fick deine Mutter“, so als würde Türkisch, für diese Jungen, nur aus diesen Worten bestehen.
Die Abis sind die Könige des Beckenrands. Sie sehen den deutschen Mädchen nach, kontrollieren mit routiniertem Griff den Sitz ihres Genitals, erteilen den Kleinen gnädig
Genehmigungen zu springen oder auf die Toilette zu gehen. Der eigene Rang wird durch ständige Kontrolle der Jüngeren unterstrichen. Manchmal springen auch die Abis, das ist aber eher selten, denn wer springt, könnte eine schlechte Figur machen, und das wäre ein Gesichtsverlust. Eine gute Figur zu machen ist wichtig. Als die Aufsicht per Lautsprecher darauf hinweist, dass das Springen vom Beckenrand verboten ist, geht einer der Abis zum Turm und sagt zur Bademeisterin: „Musst nicht rufen, ich klär das!“ – nur nicht die Kontrolle verlieren oder in Gefahr geraten, als ein Türke dazustehen, der seine Sippe nicht im Griff hat.
Einen Krieg gegen die Deutschen gewinnen
Deutsche Jugendliche sieht man nicht. Das Prinzenbad ist fast eine von deutschen Jungen befreite Zone, zumindest sind die jungen Türken Herren der Lage. Die deutschen Jungen haben hier auch gar keine Chance, denn sie sind meist allein oder mit einem Freund unterwegs, die Türken meist im Familienverbund. Und wenn es zum Streit kommt, hilft ein Türke dem anderen Türken. Und es kommt schnell zu eskalierenden Auseinandersetzungen, die meist handgreiflich enden. Ein fixierender Blick im falschen Moment, und schon wird das berühmte „Was guckst du?“ oder „Willst mich anmachen?“ gefragt. Wer darauf reagiert, hat schon verloren, denn dann wird Stärke demonstriert und „Respekt“ eingefordert.
Für die türkischen Jungen geht es dabei um Grundsätzliches, um Terraingewinne – auf dem Startblock im Freibad, auf dem Bolzplatz, an der Bushaltestelle –, so als müssten sie einen Krieg gegen die Deutschen gewinnen. Im Freibad Pankow, im Osten der Stadt gelegen, gibt es eine lange Rutsche. Es vergnügen sich dort etwa fünfzig Kinder unterschiedlichen Alters, darunter etwa sieben oder acht türkische Jungen. Der Älteste von ihnen hat großen Spaß daran, die Rutsche auf der Hälfte der Strecke zu blockieren. Die anderen rauschen auf ihn drauf. Die Ampel springt auf Rot, niemand kann mehr rutschen, und so entsteht oben auf der Plattform ein bedrohliches Gedränge. Es dauert einen Moment, bis der Bademeister die Situation erfasst. Er ruft und pfeift, der türkische Junge lässt los und rutscht ins Becken.
Als der Bademeister ihn zur Rede stellt, empört er sich. „Ich hab nichts getan. Die anderen sind schuld, ich musste stoppen, sonst wäre ich auf die draufgeknallt.“ Im Nu sind alle türkischen Jungen um ihn versammelt und reden und schreien auf den Bademeister ein. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und wie er auf diese massive Bedrängung reagieren soll. Was er auch sagt, er erntet lauten Protest der Umstehenden. Die Auseinandersetzung endet damit, dass der Bademeister nach einer Viertelstunde aufgibt und warnt, die Rutsche zu sperren, wenn es noch einmal zu einem solchen Vorfall kommt.
Zufrieden zieht der Abi ab. Er hat erreicht, was er wollte. Erstens hat er sich von dem Deutschen nichts sagen lassen. Zweitens ist er jetzt Herr über die Rutsche, wenn er es darauf anlegt, wird sie geschlossen. Und drittens hat er den Kleinen gezeigt, wie man es macht. Die sind stolz auf ihn und haben wieder einmal etwas für das Leben gelernt.
Für Mädchen verboten
Auftritt Rosi. Rosi ist deutsch, vielleicht vierzehn, blond. Sie trägt einen knappen rosa Bikini. Rosi stellt sich zu den Jungs und lächelt. Die stupsen sich an, ihre Sprünge werden waghalsiger, die Abis korrigieren unauffällig den Sitz der Haare und der Hose. Einer der kleinen Jungen spritzt Rosi nass. Sie kreischt routiniert und tänzelt davon. Erst vier, fünf, dann fast zehn kleine Jungs ihr hinterher. Ihre Abis folgen. Rosi beginnt zu laufen, läuft um das Becken herum. Dort steht ihr Freund im Wasser, und der ist mit einem Satz aus dem Wasser, auch er ein Türke, älter und kräftiger als auf den ersten Blick erkennbar.
Er stellt sich neben „seine“ Rosi. Die kleinen Strolche stoppen entsetzt, drehen um und ergreifen die Flucht, an ihren älteren Brüdern vorbei. Rosis Freund atmet tief ein, geht auf die Abis zu und stellt sie zur Rede. Sie haben es gewagt, seinen Besitz zu belästigen, da ist Präsenz gefragt. Die Abis halten Abstand, wiegeln ab und ziehen davon. Rosi hängt sich hüftschwingend an ihren Galan und triumphiert. Eine türkische Ayshe könnte sich ein solches Verhalten nicht ohne weiteres erlauben, es sei denn, sie wäre außer Sicht- und Hörweite ihres weiteren Familienkreises, was kaum vorkommt, denn irgendwo ist immer ein Verwandter oder ein Bekannter, der jemanden kennt und der es weitererzählen könnte.
Ihre Brüder würden ihr Ansehen verlieren, wenn ihre Schwester sich im Bikini und gar mit einem Jungen zeigen würde. Aber in der Regel wird eine türkisch-muslimische Ayshe ohnehin nicht im Freibad zu finden sein, mag der Sommer noch so heiß sein. Nur die ganz jungen Mädchen, die sechs oder sieben, höchstens neun Jahre alt sind, dürfen noch schwimmen gehen. Alle älteren Mädchen der strenggläubigen Familien gehören ins Haus. Draußen wären sie nicht vor fremden Blicken und Avancen geschützt, die die „Ehre“ der Familie gefährden könnten.
(…)
„Geh raus oder ich bring dich um!“
Es ist 12 Uhr mittags. Das Strandbad Wannsee im Westen der Stadt ist voll. Im Nichtschwimmerbereich tobt ein knappes Dutzend türkischer Jungen. Auch sie spielen „ertrinken“ und schreien sich an. Jeder zweite Ruf ist (auf Türkisch): „Ich fick
dich, ertrink endlich.“ Sie versuchen sich gegenseitig unterzutauchen, auf den anderen draufzuspringen und ihn umzureißen. Auf die ständigen Mahnungen des Bademeisters
hören sie nicht.
Ich sehe, wie eine junge Türkin ins Wasser gehen will. Sofort rennt einer der Jungen auf sie zu und schreit (auf Türkisch): „Zurück, aber marsch!“ Alle Blicke wandern zu dem Mädchen, das stehen bleibt. Vielleicht ist es seine Schwester oder eine Cousine. „Ich bring dich um, wenn du nicht sofort nach draußen gehst!“ Das Mädchen gibt auf und verlässt das Wasser. Der Junge dreht sich um und wird von seinen Kameraden mit Beifall bedacht. Kurze Zeit später kommt das Mädchen doch wieder, zusammen mit seiner Lehrerin, vermute ich. Der Junge schreit wieder, aber diesmal kehrt das Mädchen nicht um, und er gibt auf.
Vor zwei Wochen hat das neue Schuljahr begonnen: Zwei siebte Klassen einer Gesamtschule aus Berlin Moabit sind, jeweils mit 25 Jugendlichen, für drei Tage in einem Schullandheim am Wannsee einquartiert, um sich gegenseitig kennenzulernen.
Von den wohl 50 Schülerinnen und Schülern sind etwa 35 muslimische Jungen und Mädchen, 15 Mädchen tragen Kopftuch, ein langes Gewand und eine lange Hose, auch am Strand. Fünf von ihnen sind streng muslimisch gekleidet, mit enggebundenem Kopftuch, langem schwarzen Mantel, einer langen Hose und einem langen Rock darüber. Es ist brütend heiß, und als sie es in ihrer Kleidung nicht mehr aushalten, ziehen sie sich auf die Treppe in den Schatten zurück.
Als eine der „Verschlossenen“ den Schatten verlässt und bei einem Lehrer vorbeikommt, fragt er: „Ist es dann nicht erlaubt, wenigstens am Strand etwas Luftigeres anzuziehen? Es ist doch so heiß.“ Daraufhin sieht sie ihn unwirsch an und sagt: „Ich tue
das, was mein Glauben mir sagt, Herr Müller. Das ist meine Sache. Ich liebe meinen Allah, und mir macht das nichts aus. Sie müssen mich nicht bemitleiden.“
Allah schützt vor Sonnenbrand
Fünf oder sechs Jungen sitzen bei einer Lehrerin. Auch sie haben sich nicht ausgezogen, sie tragen Jeans, T-Shirt und Pulli. Als ein Junge sich sein Hemd auszieht und nur im ärmellosen Unterhemd da sitzt, sagt die Lehrerin zu ihm: “Creme deine Arme ein, sonst bekommst du einen Sonnenbrand.“ Der Junge sieht sie irritiert an, weist dann auf sein Amulett, das er um den Hals trägt, und sagt: „Frau Meier, ich trage den Koran bei mir. Mich beschützt Gott, ich brauche keine Creme.“ Frau Meier fragt die anderen Schüler: „Habt ihr auch so ein Amulett und wollt euch deshalb nicht umziehen?“ Alle greifen in ihre Hemden und zeigen ihre Halsketten. Einer sagt: „Das ist mein Allah, das trage ich, seit ich auf der Welt bin.“
Eine andere Lehrerin sitzt mit den anderen Mädchen in einer Gruppe. Plötzlich kommt der Junge, der vorher seine Schwester am Baden hindern wollte, aus dem Wasser gerannt und lässt sich vor der Lehrerin in den Sand fallen und schreit: „Krampf, Krampf, Krampf.“ Die Lehrerin beginnt, seine Beine zu massieren. Er sieht zum Wasser und macht mit dem Finger das V-Zeichen. Seine Kameraden johlen. Eine der verschleierten Schülerinnen geht zu dem Lehrer und sagt: „Wir möchten nicht mehr hier bleiben. Dürfen wir zurückgehen?“ Er fragt: „Warum?“ Sie sagt: „Uns ist das hier alles sehr peinlich. Außerdem wollen wir hier gar nicht sein.“ „Das verstehe ich nicht“, sagt der Lehrer. „Wir sind zusammen gekommen, und wir werden auch gemeinsam zurückgehen.“ – „Ach“, sagt die Schülerin, „Sie finden es doch nur nicht in Ordnung, dass ich verschlossen bin. Ich merke das schon die ganze Zeit. Wir wollen hier nicht bleiben, lassen Sie uns wenigstens spazieren gehen.“ Der Lehrer gibt auf: „Na gut, aber um Punkt zwei am Häuschen.“
Ich gehe auf die Gruppe zu und frage eins der Mädchen: „Warum gehst du nicht ins Wasser?“ Das Mädchen erzählt mir, seine Eltern hätten die Übernachtung im Schullandheim erlaubt, nicht aber schwimmen zu gehen, aber das wüsste sie auch selbst. „Ich kann selbst auf mich aufpassen. Ich brauche keinen Aufpasser mehr.“
Ein pädagogisches Debakel
Einige Tage später rufe ich in der Schule an und frage nach, ob es Anträge auf Befreiung vom Schwimmunterricht gebe. Früher gab es die, sagt mir die Schulsekretärin, aber seit so viele Schülerinnen Kopftuch trügen, würden sie gar nicht mehr fragen. Es würde einfach akzeptiert, dass die nicht schwimmen gehen. Als ich frage, ob es Begründungen dafür gäbe, dass sogar Jungen nicht mitschwimmen würden, antwortet sie: „Wissen Sie, wir haben so viele andere Probleme, das ist nun wirklich kein Thema.“
Ich habe im Sommer und Herbst 2005 mit einer Reihe von Lehrern über die Beteiligung von muslimischen Jungen und Mädchen am Sport, Schwimm- und Sexualkundeunterricht gesprochen. Vor allem an Schulen, die von mehr als 50 Prozent Migrantenkindern besucht werden, war ein gemeinsamer Sport- beziehungsweise Schwimmunterricht in vielen Fällen nicht mehr „durchsetzbar“, Klassenfahrten schon gar nicht. Mich ärgert und verstört ein solches Zurückweichen vor der „Muslimisierung“.
Abgesehen von dem pädagogischen Debakel, ist das auch aus emanzipatorischen Überlegungen eine Katastrophe. Unsere Gesellschaft lebt davon, dass Jungen und Mädchen gemeinsam aufwachsen, dass sie lernen, miteinander umzugehen. Klassenfahrten, Sport- und Schwimmunterricht sind ein kleiner, aber wichtiger Baustein, mit dem junge Menschen eigene selbstständige soziale wie körperliche Erfahrungen machen können – warum sollten wir dies aufgeben?