Henryk M. Broder / 14.04.2011 / 16:36 / 0 / Seite ausdrucken

Nation mit Platzangst

Deutschland will 100 Flüchtlinge aus Afrika aufnehmen, für die restlichen 23?000 solle Italien sorgen. Schengen und die EU sind wie ein Open-Air-Festival, ausgelegt auf gutes Wetter.

Die Ehe, sagt man, sei eine Einrichtung, die dazu geschaffen wurde, um jene Probleme zu lösen, die mit der Heirat entstanden sind. Das Gleiche gilt für die Europäische Union. Wobei die ­Probleme dadurch potenziert werden, dass es sich um eine eheliche Gemeinschaft mit 27 Teilnehmern handelt, eine Art Grossfamilie also, deren Angehörige sehr unterschiedliche Vorstellungen von Arbeit, Anstand und Verantwortung haben.

Man könnte die EU auch mit einer WG vergleichen, in der einige auf Kosten der anderen zu leben versuchen. Sie lassen das Licht tagsüber brennen, vergessen, den Müll wegzubringen, und nehmen aus dem Kühlschrank, was sie grade brauchen, ohne sich am Einkauf zu beteiligen. Zur Rede gestellt, sagen sie, sie würden doch für gute Laune sorgen, indem sie bis spät in die Nacht Gitarre spielten. Wer ­jemals in einer WG gelebt hat, der weiss, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das «Projekt» auseinanderbricht und die Teilnehmer wieder eigene Wege gehen. Noch ist Europa nicht so weit, aber das Ende der Strecke ist absehbar.

Für den ganz normalen Europäer hatte – man muss es in der Vergangenheitsform sagen – Europa zwei Vorteile: Er konnte in 17 Ländern mit derselben Währung bezahlen und sich innerhalb von 25 Ländern frei bewegen, ohne an den Binnengrenzen aufgehalten zu werden. Das war praktisch und angenehm, vor allem für die mobilen Eliten, während bodenständige portugiesische Fischer und griechische Weinbauern aus der EU-Kasse subventioniert wurden.

Wer demnächst einen Nachruf auf Europa schreibt, wird auch zwei weitere wichtige Errungenschaften erwähnen müssen: die Energiesparlampe und den Netz­stecker für alle Handy-Typen. Bei der Energiesparlampe war die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel unter den Ersten, die Vollzug meldeten: «Ich darf Ihnen berichten, dass die allermeisten Glühbirnen in meiner Wohnung Energiesparlampen sind», sagte sie Anfang des Jahres 2007. Sie würde sich freilich wünschen, dass diese Birnen «technisch etwas verbessert» werden, denn: «Sie geben nämlich noch nicht so ein helles Licht. Manchmal, wenn ich etwas auf dem Boden suche, habe ich Schwierigkeiten.»

Vier Jahre später, bei der Vorstellung des Universalnetzsteckers für alle Handy-­Typen, sprach der zuständige EU-Kommissar von einer «kleinen Revolution» und stellte in Aussicht, dass es bald auch einheitliche Ladegeräte für Kameras und MP3-Player geben würde. Derweil wurden immer grössere «Schirme» für die Rettung des Euro aufgespannt, was der guten ­Laune der EU-Politiker keinen Abbruch tat. Im Gegenteil, je dramatischer die Lage in Griechenland, Irland und Portugal wurde, umso aufgekratzter wirkten sie, wie Brandstifter, die endlich zum Löschen ausrücken dürfen. Allen voran Angela Merkel, die alle Debatten über Sinn und Unsinn der Massnahmen mit dem Wort «alternativlos» abwürgte.

Europa ist ein Open-Air-Festival, ausgelegt für gutes Wetter. Wird es am Horizont dunkel, hören die Musiker auf zu spielen, und die ­Besucher flüchten in ihre Hütten. Waren die Deutschen früher ein Volk ohne Raum, so sind sie heute eine Nation mit Platzangst. Denn da draussen warten Millionen, die nach Deutschland kommen wollen, an den Rhein, ins schöne Allgäu und auch in die Sächsische Schweiz.

«Wir üben Solidarität», erklärte der neue ­Innenminister Hans-Peter Friedrich und versprach, Deutschland werde 100 (einhundert!) Flüchtlinge aus Afrika aufnehmen, die in ­Malta gestrandet sind. Mit den übrigen 23?000, die seit Anfang dieses Jahres über Lampedusa nach Italien eingesickert sind, müsse Italien fertig werden, und zwar allein. Der hessische Innenminister erklärte, es sei zu erwägen, ob in Deutschland das Schengen-Abkommen «vorübergehend ausser Kraft gesetzt» werde, sein bayerischer Kollege kündigte eine «Rückkehr zu Grenzkontrollen» an.

Dabei ist das Problem nicht neu. Schon im Jahre 2004 wollte der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) Auffanglager für Flüchtlinge einrichten – dort, wo sie daheim sind. «Afrikas Probleme müssen in Afrika gelöst werden.»

Was Europa derzeit zusammenhält, ist vor allem die Angst der Europäer, überrannt zu werden. Schengen hin, Euro her, jetzt ist sich jeder selbst der Nächste.

«Die Flitterwochen sind vorüber, wenn der Hund die Pantoffeln bringt und die Frau einen anbellt.»
Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 15/11

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