Rainer Bonhorst / 27.04.2022 / 12:00 / Foto: Jacques-Louis David / 32 / Seite ausdrucken

Na, sowas: Anderswo geht Politik anders

Ein interessantes Ergebnis der Frankreich-Wahlen: Sie erinnern uns daran, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen. Auch andere Wahlsitten.

Das hat uns jetzt Frankreich vorgeführt, davor England und davor Amerika. Man kann das als eine Selbstverständlichkeit abtun, aber es sind doch gute Lektionen.

Die Amerikaner hatten uns einen Präsidenten beschert, der in Deutschland undenkbar gewesen wäre. Die Briten haben einen Premierminister mit großer Mehrheit in die Downing Street befördert, der in Deutschland wahrscheinlich Journalist (sein erlernter Beruf) hätte bleiben müssen, was ja keine Schande ist. Das hat mit dem Wahlsystem und der Psyche der Wähler zu tun.

Und Frankreich? Dort gilt Ähnliches. Die für uns lehrreichste Person trägt den Namen Marine Le Pen. Sie verkörpert die AfD Frankreichs. Und zwar mit Power. Im ersten Wahlgang hat sie für ihr Rassemblement National über 23 Prozent geholt, nicht viel weniger als Emmanuel Macron mit seinen knapp 28 Prozent. Rechnet man ihr den noch etwas rechteren Eric Zemmour mit seinen sieben Prozent hinzu, der bei uns den harten Kern der AfD bilden würde, so hat die Rechte in einem vielstimmigen Feld solide 30 Prozent geschafft. Das ist fast aussagekräftiger als die gut 41 Prozent der Stichwahl, bei der sich zu Marine Le Pen auch eine Menge Macron-Hasser hinzugesellt haben, die sonst nicht zu ihr passen.

Man stelle sich das in Deutschland vor: an die 30 Prozent für die AfD! Die Alternativen würden alle, die jetzt in der Regierung sind, mit Längen abhängen. Das sagt eine Menge über die Stimmung in Frankreich aus. Wahrscheinlich mehr als die zehn Prozent, die die AfD zuletzt bei uns bekommen hat, über die Stimmung in Deutschland aussagt.

Konfrontativere Wahlsysteme

Unzufriedenheit überträgt sich in allen drei hier erwähnten Ländern viel umittelbarer auf die Politik als bei uns. Das hat viel mit den direkteren und konfrontativen Wahlsystemen zu tun. Unseres ist auf Ausgleich und Koalitionen ausgelegt. Die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich wählen – so unterschiedlich sie es tun – persönlicher und krawalliger als wir. Darum kommen auch ganz andere Figuren nach vorn als bei uns. Eine wie Marine Le Pen zum Beispiel. Wo stünde die AfD, wenn sie eine Marine hätte? Eine müßige, aber durchaus bedenkenswerte Frage. 

Auch Emmanuel Macron gehört in die Kategorie der Politiker, deren Aufstieg vom Wahlsystem unterstützt wurde: Angefangen mit dem nahezu totalen Absturz der sozialistischen und konservativen Traditionsparteien. Im Vergleich dazu ist der Abstieg unserer Traditionsparteien ein sanftes Hinabgleiten. In Frankreich ruft dann einer von einer der Absturzparteien einfach eine brandneue Partei namens En Marche aus und schafft es gleich in den Elysée-Palast. So kann es gehen, wenn der Präsident als Chef im Ring direkt gewählt wird. Eine Chance für Menschen mit Charisma. Oder – kurzer Blick nach Washington – mit Chuzpe.

Dass Macrons Wiederwahl keine Liebesgeschichte ist, versteht sich. Er leidet nun mal unter der Arroganz des direkt gewählten Staats- und Politik-Oberhauptes mit Oberschichten-Hintergrund. Er leidet unter der ziemlich weitgehenden Macht, die es ihm fünf Jahre lang ermöglicht hat, Unpopuläres zu tun oder zu versuchen. Und dann ist da noch die Tatsache, dass eine Stichwahl in beiden Lagern nicht nur Verliebte zusammenbringt. 

Wer wird im Juni Premier?

Worunter leidet er sonst noch? Unter der drohenden Gefahr, dass ihm bei den Parlamentswahlen im Juni der linke Jean-Luc Mélenchon als Premierminister untergejubelt wird. Der Mann hat es bei der ersten Präsidentenwahl immerhin auf knapp 22 Prozent gebracht, belegte also – wie der Sportreporter sagen würde – den undankbaren dritten Platz. Holt er die notwendige Mehrheit, muss sich Macron, wie es auch den meisten amerikanischen Präsidenten im Senat geht, mit einem sehr oppositionellen Premier und Parlament herumschlagen.

Sowas haben wir gar nicht. Kohabitation – das hat einen deutlich französischen Geschmack und würde bei uns als etwas anrüchig empfunden. Koalition – das ist der saubere deutsche Weg, auch wenn es ein flotter Dreier ist. Unsere Regierungschefs können sich jedenfalls – wenn sie keinen Familienkrach im eigenen Koalitionshaus bekommen – auf eine brave Mehrheit im Bundestag verlassen. 

Nimmt man unser Wahlsystem als Basis, so passt unser derzeitiger Bundeskanzler perfekt hinein. Ein Stiller im Lande der Koalitionen, der offenbar die Vorsicht als Mutter der Porzellankiste verinnerlicht hat. Kein Sturmflut-Hanseat. Auch seine Vorgängerin war gut in unser politisches System eingepasst, bot aber immerhin einiges Überraschende. Erstens, dass sie als Frau dem damaligen Zeitgeist in der Politik klar voraus war. Und zweitens, dass sie mit einem mutigen „Königsmord“ an die Spitze der CDU kam. 

Olaf Scholz ist mehr oder weniger ins Amt hineingeflutscht, nicht als kühner Ritter, sondern als glücklicher Gewinner der Koalitions-Arithmetik. Ein deutscher Klassiker also. Dem Profil nach ein Gegenstück zu den extrovertierten Emmanuel Macron, Boris Johnson und – ja, ja – Donald Trump.

Was ist besser, was schlechter? Ich halte es mit dem geschlechtlich hybriden Prinzen Orlofsky in der Fledermaus: Chacun a son gout. Ob es etwas wilder oder etwas geglätterter sein soll – es ist politische Geschmackssache und hat seine historischen Wurzeln. Vor allem bei uns, wo nach einem wüsten halben Jahrhundert ein bisschen Ruhe eine einleuchtende und attraktive Option war. 

Zu viel Ruhe? Kann man inzwischen sagen. Unser System wirkt wie ein freundliches Schlafmittel. Ein hyperaktiver Macron oder eine Frankreich-über-alles-Le Pen sind bei uns nicht vorgesehen. Oder tauchen bestenfalls als Randfiguren auf. Wie sang einst Peter Alexander in seinem ironischen Anti-Rock'n'Roll-Schlager? „Damit haben Sie kein Glück in der Bundesrepublik. Wir tanzen lieber Tango bei zärtlicher Musik.“ In der Musik-Szene hat sich das überlebt. In der Politik lebt die sanfte Melodie noch, auch wenn die Musik nicht immer zärtlich ist. 

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Leserpost

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Uwe Dippel / 27.04.2022

Für mich ist der grösste Unterschied noch immer, dass in Frankreich eine Mehrheit “extrem” gewählt hat. Da kann ich so enttäuscht sein als alter Frankophiler wie ich will. Das wenigstens funktioniert noch. Beim Deutschen ist es hoffnungslos. Alle beschweren sich, finden alle Parteien ungeeignet, nichts Gescheites auf dem Wahlzettel. Und wenn sie eine Partei sehen, deren Ideen sie irgendwie ansprechen, aber man sagt ihnen dass die “natürlich unwählbar” seien, sagen sie “Schade, eigentlich” und setzen ihr Kreuzchen seufzend und brav bei einer, irgendeiner der anderen Parteien, wohl wissend dass sie in den nächsten Jahren nicht bekommen werden was sie wollen. “Was will man machen?!” Oder “Was soll’s!”

Rolf Mainz / 27.04.2022

Anderswo gab es auch keinen Untergang einer Weimarer Republik. Die Rahmenbedingungen sind aktuell gar nicht mehr so verschieden: Massenarbeitslosigkeit (wenn auch offiziell negiert), kommende wirtschaftliche Rezession, massive Preissteigerung, mangelnde innere Sicherheit, schwächliche Politiker an der Regierung, rapide wachsende Unzufriedenheit der (indigenen) Bevölkerung. Und einem Macron gehen auch hierzulande übrigens viele auf den Leim.

Dr Stefan Lehnhoff / 27.04.2022

Eine nette kleine durchaus zutreffende Betrachtung. Leider nur ohne jede Televant in einer Zeit, wo Spitzenpolitiker immer globalistische Schwerstkriminelle sind, wie die YGL Macron und Merkel, ruchlose Ex- Geheimdienstchefs oder Dynastie-Potentaten wie Putin oder Kim, erpressbare Marionetten wie Selenski oder Strache oder im besten Fall ungebildete Gauner wie Trump oder Bolzonaro sind. Der Rest 08/15 Diktatoren und Kleptomanie-Häuptlinge. Brecht hätte vielleicht gesagt; Was ist schon die Liquidierung eines Spitzenpolitikers gegenüber der Amtsergreifung durch denselben. Die Franzosen haben das größere Übel gewählt. (Falls nicht manipuliert wurde) Nichts Neues.

Arne Ausländer / 27.04.2022

Ich sehe da keine wesentlichen Unterschiede in den Methoden, jeweils die gewünschten Wahlergebnisse zu bekommen, in den genannten Ländern einschließlich Deutschlands. Gerade Frankreich ist doch fest in der Hand seiner “Eliten” - wie man ja gerade sieht. Im UK wetteten die Kommilitonen Cameron und Johnson, wer zuerst Premier wurden. Die Reihenfolge kann uns egal sein. Aber daß letztlich beide den Posten bekamen, zeigt doch, wie klein die Kreise derer sind, die Zugriff auf die Führungsjobs haben. Die “Panne” in den USA mit Trump lag an der Spezifik der Familie Clinton: offene Gegnerschaft endete zu oft im “Selbst"mord. Da hielt man sich in der Deckung - was Trumps Überraschungssieg bewirkte. Die “Parteienvielfalt” Deutschlands besteht eher in Variationen einer Species, wofür diverse Mechanismen sorgen. Von außen sieht man meist nur die Resultate. So, daß Gysi als Berliner Finanzsenator keineswegs in den Akten seines Büros nach Detailinformationen zum Skandal suchte, der Berlin einst “arm, aber sexy” machte. An die Öffentlichkeit kam jedenfalls nichts Neues - ist das etwa radikal-linke Oppositinspolitik? Kaum. Und als Lucke seine Anti-Euro-Alternative gründete, schickte man treue Beamte in die Partei (wie Gauland und Höcke, letzterer assistiert vom ‘ex’-Bundeswehr-Offizier Kubitschek), um geschickt mit NS-Versatzelementen zu jonglieren. Seitdem streitet man sich intern fruchtlos, während für die Blockade der Partei Argumente geliefert wurden. Alles schön nach Plan, damit es für Deutschland niemals eine Alternative geben wird. Daß im Rahmen der AfD-Spielwiese auch etliche sinnvolle Einzelstimmen zu Wort kommen, ist ein schwacher Trost. Es zeigt doch, was möglich wäre, aber eben strukturell-effektiv gehindert wird, jemals politisch relevant zu werden. - Nicht sehr optimistisch. Aber helfen denn Illusionen? Nur Todkranken manchmal, kurzfristig.

Fred Burig / 27.04.2022

Herr Bonhorst: “Ein interessantes Ergebnis der Frankreich-Wahlen: Sie erinnern uns daran, dass in anderen Ländern andere Sitten herrschen. Auch andere Wahlsitten. Das hat uns jetzt Frankreich vorgeführt, davor England und davor Amerika. Man kann das als eine Selbstverständlichkeit abtun, aber es sind doch gute Lektionen….” Die einzige Lektion sehe ich darin, dass “Wahlen” - nach wie vor - “steuerbar” sind! Mit dieser Erkenntnis hinterlässt ein “Wahlergebnis ” für mich auch immer Zweifel! MfG

E. Sommer / 27.04.2022

Zitat: “Unser System wirkt wie ein freundliches Schlafmittel.” Ich würde ein anderes Bild bevorzugen: Deutschland und Österreich sind schwer verletzte, dahinsiechende Lebewesen, an denen sich die Aasgeier solange fett fressen, bevor der Exitus eintritt.

Marcel Seiler / 27.04.2022

Es stellt sich nicht nur die Frage nach dem *Stil* der Politik, sondern auch nach deren *Qualität*, also der Qualität der durch sie nach oben gespülten Politiker. Da sieht es in Deutschland nun wirklich sehr mau aus. Kein Trost: Nach meinem Eindruck ist die Qualität der Politiker auch in den anderen betrachteten Ländern in den letzten Jahrzehnten gefallen.

Emmanuel Precht / 27.04.2022

Im französischen Staatsfernsehen „France 2“ gab es im Verlauf des Wahlabends Merkwürdiges zu beobachten: Um 21:15 Uhr führte Marine Le Pen mit etwa 200.000 Stimmen. Um 21:20 führte sie mit etwa 220.000 Stimmen. Um 22:40 Uhr, knapp eine halbe Stunde vor dem Ende der Berichterstattung, führte Macron auf einmal mit 2,5 Millionen Stimmen – und Marine Le Pen hatte mysteriöserweise knapp 3 Millionen Stimmen wieder verloren (11.558.051/22:40 Uhr vs. 14.432.396/21:20 Uhr). In zahlreichen Städten Frankreichs war es nach der Wahl zu Protesten und Ausschreitungen gekommen. Wie kann ein Kandidat Stimmen verlieren? Stagniern okay, aber weniger werden?

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