Rainer Bonhorst / 06.03.2022 / 11:00 / Foto: Manfred Werner / 54 / Seite ausdrucken

Meine Anna-Netrebko-Beichte

Von der rückwirkenden Scham, ein in Ungnade gefallenes Talent bewundert zu haben.

Wäre ich Katholik, würde ich natürlich beichten gehen. Als Protestant ist mir dieser Ausweg aus der Sünde verschlossen. Nix ego te absolvo! Also stehe ich nun da, von Gewissensbissen zerfressen und weiß nicht, wie ich mich aus meiner Seelennot wieder herausarbeiten kann. Es bleibt nur eines: Ich will mich outen, in der Hoffnung, damit wenigstens eine gewisse innere Reinigung zu schaffen. Also, kurz und schlecht: Ich habe ein Konzert mit Anna Netrebko besucht. Ja, schlimmer noch: Auch den Münchener Philharmonikern habe ich gelauscht, obwohl Waleri Gergiew als Dirigent am Pult stand.

Nun kann man natürlich sagen, dass das noch deutlich vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine geschehen ist. Ich konnte ja nicht wissen, dass Putin diesen Krieg vom Zaun brechen würde. Andererseits ist mir der Grundsatz, dass Unwissen nicht vor Strafe schützt, wohlbekannt. Außerdem gab es genügend Hinweise, um den Verdacht aufkommen zu lassen, dass sowohl die Netrebko wie auch Gergiew für den deutschen, überhaupt für den westlichen Kulturbetrieb auf Dauer untragbar sein würden. Erstens sind beide Russen und zweitens haben beide schon mal Putin die Hand geschüttelt. Da wäre also größte Vorsicht am Platze gewesen.

Pin-up im Bücherschrank

Zu spät. Der Sopranistin Netrebko habe ich nicht nur persönlich gelauscht, ich habe sogar ein Programmheft mit ihr auf dem Titelbild monatelang als eine Art Pin-up in meinen Bücherschrank gestellt. Heute frage ich mich natürlich, wie jemand, der mit Putin Geburtstag gefeiert hat, als sei er ein lupenreiner Demokrat, so schön singen kann. Die Natur der Talente ist ungerecht. Die Guten sind politisch manchmal nicht vorschriftsmäßig. Die Korrekten sind künstlerisch manchmal suboptimal. Shit happens, wie der Amerikaner sagt. Oder auch: That's the way the cookie crumbles.

Für mich ist es zu spät, über diesen Bekenntnistext hinaus, Wiedergutmachung zu versuchen. Anna Netrebko und Waleri Gergiew sind in die Verbannung, ins kulturelle Sibirien geschickt worden. Ich kann der Sopranistin also mein Pin-up-Programmheft nicht mehr vor die Füße schleudern und rufen: Hebe dich hinweg von mir. Auch die Sinfonie, die Gergiew seinerzeit dirigiert hat, kann ich aus meinem musikalischen Langzeit-Gedächtnis nicht mehr herausschneiden. Leider handelt es sich zu allem Überfluss auch noch um einen russischen Komponisten, den ich namentlich nicht nennen möchte, da er längst tot ist und sich nicht mehr von Putin distanzieren kann.

Netrebko und Gergiew könnten es, haben es aber nicht ausreichend getan. Das müssen sie sicher selbst verantworten. Aber man hätte ihnen dabei auch ein bisschen helfen können. Zum Beispiel hätte ihnen die deutsche Kultur-Oberaufsicht einen Text an die Hand geben können, der die korrekten Distanzierungs-Formulierungen enthält. Etwa so: „Hiermit distanziert sich der/die Unterzeichnete in schärfstmöglicher Form von seinem/ihrem ehemaligen Bekannten Wladimir Putin und verspricht hochheilig, in seiner Gegenwart nicht mehr zu singen/dirigieren/malen/tanzen/geigen u.a.m“. Eine solche Handreichung, am besten im Multiple-Choice-Format, wäre für alle Beteiligten hilfreich gewesen. Aber es hat nicht sollen sein. Der Zug nach Sibirien ist abgefahren.

Weltklasse einfach woanders?

Nun ist ein Sing- und Dirigier-Verbot die eine Sache. Eine andere Frage ist, was tun, wenn die Künstler nach ihrer politischen Verbannung einfach dort weitersingen und -dirigieren, wo man noch gewillt ist, ihnen zuzuhören? Lässt sich das verhindern? Kaum. Kann man von unbotmäßigen Veranstaltern verlangen, dass sie wenigstens die Qualität der Auftritte reduzieren? Wären Anna Netrebko und Waleri Gergiew bereit, zur Buße einfach schlechter zu singen und zu dirigieren? Also in gewissen Abständen ein vermasseltes hohes C und ein falsches Tempo abzuliefern – als Ausdruck ihrer Reue?

Ich bin da nicht sehr optimistisch. Ich fürchte, die werden da, wo man sie lässt, einfach weiter Weltklasse bieten. Und wir müssen uns dann ersatzweise eben mit Provinzklasse zufriedengeben. Ein Opfer, das die mit Krieg überzogenen Ukrainer sicher zu schätzen wissen.

Foto: Manfred Werner CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Mats Skinner / 06.03.2022

Ich habe aus Haltungsgründen und überhaupt ein Küchensieb in meine Gaszuleitung eingebaut – mir kommt kein russisches Gas mehr in die Wohnung. Auf dem Pankower Wochenmarkt steht ein alter gelber amerikanischer(!) Schulbus und veräußert russische(!) Lebensmittel. Die Anzeige wegen Verunglimpfung der amerikanischen Bildungsbewegung ist raus. Hätten wir beim 6-jährigen Russischunterricht früher besser aufgepasst und die Deutsch-Sowjetische-Freundschaft nicht mittels mühselig gespendeter Groschen so ruiniert, würde der Weltfrieden, wie man uns damals eingeprägt hatte, nicht gefährdet sein. Bei der derzeitigen Pogromstimmung gegen alles russischstämmige,bleibt einem ja der frisch erworbene Beluga (s.o) im Hals stecken. Da hilft nur, mit Moskowskaja nachzuspülen. Aber nur, nachdem man sich vorsichtig nach links und rechts umgeschaut und vorher in eine Flasche Nordhäuser Doppelkorn umgefüllt hat. Ja, harte Zeiten, wenn selbst der Vollrausch nicht nur von der richtigen Arm-Haltung sondern in erster Linie von der richtigen selbigen dominiert wird. Mein Pychologe sagt mir immer, dass ich nicht alles als meine Widersacher ansehen soll, also meine Karriere als Atomkraftgegner, Klimagegner, CO2-Gegner, Bildungsgegner, Kohlegegner, Maskengegner, Impfgegner und Putingegner doch mal ins Gegenteil umdrehen sollte. Jetzt hab ich den Salat.

Friedrich Richter / 06.03.2022

Es mag sein, dass das Meiden von Netrebko, Gergiew und anderen Ersatzhandlungen sind. Aber es muss auch klar sein: Diese Leute leben vom Westen und profitieren hier von allen Vorteilen, die die westeuropäischen Staaten Ihnen zu bieten haben. Da ist es nicht zu viel verlangt, sich von Ihrem Landsmann, der mit seinen Atomraketen auf unsere Kinder zielt, zu distanzieren. Politik ist ein schmutziges Geschäft, und natürlich kommen wir nicht an die Grossen heran, die sich anschicken, Europa zum Schlachtfeld zu machen, was für die Amerikaner komfortabel, aus sicherer Entfernung und auf Kosten der Europäer möglich ist, und die Russen auch nicht weiter kratzt, weil für die Menschenleben nichts zählen und selbst ihre eigene Bevölkerung nur Dreck ist. Aber so klein sind Netrebko und Gergiew auch nicht. Leid tun mir eher die Russen, die im Westen leben und arbeiten wie jeder normale Bürger. Die sollten keinen Anfeindungen ausgesetzt sein.

Heribert Glumener / 06.03.2022

Lösungsvorschlag: Wenden Sie sich bitte zwecks Rehabilitation von Anna Netrebko an das Bundespräsidialamt. Man hatte dort erst kürzlich einer „großen Frau der Weltgeschichte“, Gudrun Ensslin, Ehre erboten – und dies auf öffentliche Kritik hin revidiert! Warum sollte ein solcher Vorgang nicht auch im Fall von Frau Netrebko möglich sein – natürlich umgekehrt? Ich bin sicher, man wird sich erweichen lassen. Möglicherweise wird sich unser Bundespräsident, Herr Dr. Steinmeier, als integre Identifikationsfigur und allseits geachteter moralischer Leuchtturm sogar persönlich für eine Rücknahme des über diese begnadete Künstlerin hierzulande ausgesprochenen Banns einsetzen. Geeignete Ansprechpartner für eine Eingabe pro Netrebko finden Sie über Internet-Suchmaschinen (Suchbegriffe “Bundespräsidialamt Organigramm”).

H. Hoffmeister / 06.03.2022

Ein weiterer Beweis für den Verfall der Demokratie in Deutschland. Weder Netrebko, noch Gergiew haben die Ukraine überfallen. Es ist ihre Sache, ob sie sich mit Putin gemein machen oder nicht. Die Kontaktschuld ist ein totalitäres Instrument und ist zutiefst antidemokratisch.

Franz Klar / 06.03.2022

@Dirk Jungnickel : Wir sind hier die wenigen Querdenker . HMB auch , äußert sich aber nicht . Tapfer bleiben !

S.Niemeyer / 06.03.2022

Das Bildungsgut, das an deutschen Schulen + Hochschulen in 2 Jahren Corona-Politik bereits wirkungsvoll reduziert worden ist, kann jetzt nachhaltig vom gefährlichen Oeuvre russischer Künstler (Komponisten, Schriftsteller und und und) befreit werden. Hauptsache blöd & ungebildet mit strammen Feindbildern.      P.S.: Von wegen Beichte und so: eine alte Erkenntnis: Katholiken gehen zur Beichte, Protestanten zum Psychotherapeuten.

Marc Greiner / 06.03.2022

@Thomas Hechinger—-Danke. Bitte lesen Sie auf Reitschuster „Drittes Römisches Reich-unter Moskaus Führung mit Europa als Protektorat”. Dahin geht diese Denke von diesen schönen Künstlern auch. Putin zu stärken, aus welchen eitlen Gründen auch immer, stärkt nunmal Putin. Das gilt es zu verhindern und ein Preisschild daran zu hängen.

Thomas Hechinger / 06.03.2022

@ Marc Greiner. Ich war in Konzerten von Igor Levit, obwohl ich seine menschenverachtenden Äußerungen und sein ganzes Auftreten außerhalb des Konzertsaals ablehne. Aber im Konzertsaal höre ich Beethoven, gespielt von einem hervorragenden Interpreten. Es bleibt Ihnen natürlich unbenommen, Netrebko und Gergiev zu meiden, weil Sie mit deren Haltungen nicht einverstanden sind. Ich halte das aber für Ersatzhandlungen. Der Schuldige sitzt im Kreml und heißt Putin. Ihm und seiner Entourage, zum Beispiel dem „Gas-Gerd“, sollte es an den Kragen gehen, aber nicht irgendwelchen Künstlern, die sich im Glanz der Mächtigen sonnen, wie die Mächtigen sich der Künstler zu ihrer höheren Weihe bedienen. Man mag das abstoßend finden, aber so sind die Menschen nun mal. Für viel besser halte ich da den Vorschlag von @ Joerg Machan, bei seiner Heizung auf Putin-Gas zu verzichten, auch wenn dies vermutlich satirisch gemeint war. Immerhin zeigt der Vorschlag, daß echte Solidarität etwas kosten würde. Auf Gratismut mit Kerzen und blau-gelben T-Shirts verzichte ich gerne. Und auch auf die Forderung, Gergiev und Netrebko zu feuern.

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