Silvesterfeuerwerk als Akt gesellschaftlichen Widerstandes, das hätte man sich vor Jahresfrist kaum vorstellen können: jeder Kanonenschlag ein unüberhörbares Bekenntnis bürgerlicher Eigenverantwortung, jede Funken sprühende Fontäne ein schimmerndes Zeugnis der Aufklärung, jede in den nächtlichen Himmel aufsteigende Rakete ein Fanal individueller Freiheit.
Feuerwerk hatte für mich immer einen Touch von Subversion und Anarchismus. Als Kind war ich ein ungebärdiger Feuerteufel. Vielleicht wollte ich mit dem Lärm auf mich aufmerksam machen oder die Eltern symbolisch in die Luft sprengen. Jedenfalls zog es mich, wenn am ersten Werktag nach Weihnachten die Geschäfte wieder öffneten – das Wort Lockdown war damals noch nicht erfunden – in die Drogerie meines Heimatstädtchens, wo die Objekte der Begierde einzeln unter Glas zu betrachten waren: Donnerschläge und Knallfrösche, Heuler und bengalische Lichter, Vulkane, Sonnenräder und Raketen in allen Ausführungen. Wenn ich meine Auswahl getroffen hatte, nötigte ich meine Eltern, mit mir den Gang zum Drogisten anzutreten, wo ich dann mein gesamtes Erspartes inklusive der Geldgeschenke fantasieloser Verwandter in Pyrotechnik umsetzte.
Schon „zwischen den Jahren“ böllerte, knallte und schoss ich zusammen mit den Nachbarskindern, was das Zeug hielt. Um die Ohren von Eltern und Nachbarn nicht allzu sehr zu strapazieren oder gar die Polizei auf den Plan zu rufen, konstruierten wir einen „Bunker“, in dem ein großer Kanonenschlag platziert und nach dem Anzünden mit einer Betonplatte blitzschnell abgedeckt wurde. Die Explosion war dann nur noch als dumpfer Schlag zu vernehmen. Das war unsere Version des Flüsterfeuerwerks, das heute angeboten wird, um Haustiere nicht in Panik zu versetzen. Als dann die Nacht der Nächte vorüber war und sich das vergängliche Spielzeug in Rauch aufgelöst hatte, fiel ich stets in ein tiefes Loch, weil sich das gerade beginnende Jahr bis zum nächsten Silvestertag in lähmender Ereignislosigkeit zu dehnen schien.
Vorübergehendes Schlupfloch
In der Pubertät suchte sich das feurige Begehren andere Kanäle, die Lust an der Pyrotechnik erstarb und beschränkte sich in den folgenden Jahrzehnten darauf, anderen beim Silvester-Zündeln zuzuschauen. Bis zum Corona-Jahr 2020, als ich beschloss, es wieder einmal selbst krachen zu lassen, um den Verbotsaposteln, die einem auch noch das allerletzte Vergnügen vergällen und die allerletzte schöne Tradition, die nicht in ihr ökologisch oder medizinisch korrektes Weltbild passt, zerstören möchten, ein Schnippchen zu schlagen.
Doch wie kommt man an Feuerwerk, wenn der Verkauf desselben nach einer diesbezüglichen Verfügung der Bundesregierung in diesem Jahr erstmals verboten ist? Wobei es sich streng genommen nur um ein Verkaufs-, kein Zündverbot handelt. So ist es beispielsweise theoretisch möglich, Restbestände an Feuerwerk aus den Vorjahren abzubrennen. Nach Auskunft des Verbandes der pyrotechnischen Industrie bleiben Feuerwerkskörper bei kühler und trockener Lagerung über Jahre einsatzbereit.
Leider verfüge ich über keine solchen Vorräte, was zur Neuanschaffung zwingt. Noch vor Weihnachten klapperte ich alle einschlägigen Geschäfte ab und schien ein Schlupfloch gefunden zu haben. Vorbehaltlich weiterer behördlicher Restriktionen könne man, riet mir ein professioneller Feuerwerker aus München, dessen Unternehmen kurz vor dem Ruin steht, vor Beginn des neuerlichen Lockdowns im Dezember eine Bestellung aufzugeben und die Ware dann an den drei Tagen vor Silvester, an denen üblicherweise Feuerwerk der Klasse 2 verkauft werden darf, persönlich abzuholen.
Leider erfahre ich kurz vor Weihnachten, dass meine Bestellung „kostenfrei“ storniert worden sei. Die Behörden hatten das Schlupfloch gestopft. Pyrotechnische Gegenstände der Kategorie F2 dürften zum Jahreswechsel 2020/2021 nicht an Privatpersonen verkauft werden, stellte die Stadt München in einer Mitteilung klar, „unabhängig vom Vertriebsweg oder Datum des Kaufvertrags. Auch bereits zuvor zum Beispiel über den Online-Handel getätigte Bestellungen dürfen nicht mehr an den Endkunden ausgeliefert werden.“
Hilfe aus Österreich
Doch dann eröffnete sich ein Plan B, für den man allerdings nicht allzu weit von der österreichischen Grenze entfernt wohnen sollte. In Österreich gilt zwar seit dem 28. Dezember auch wieder ein „harter“ Lockdown. Doch im Land von Schlagobers und Schlawinertum wird der Tafelspitz üblicherweise nicht so heiß gegessen, wie er gekocht wird.
Ich borge mir also ein Auto mit einem ländlichen Kennzeichen, mit dem der kleine Grenzverkehr unauffällig zu bewerkstelligen ist. Beim Überqueren der von Soldaten des österreichischen Bundesheeres schwer bewachten Grenze befällt mich ein mulmiges Gefühl, wie dereinst bei einer Fahrt in die DDR. Doch man lässt mich unbehelligt.
Im Nachbarland angekommen, weist mich ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift „Feuerwerksverkauf“ zu einem etwas versteckt liegenden Geschäftslokal. Ich schlage den Mantelkragen hoch, ziehe die Mütze tief ins Gesicht und nähere mich klopfenden Herzens der Eingangstür. Die Tür ist verschlossen, doch auf mein Klingeln kommt nach ein paar Augenblicken der Inhaber um die Ecke. Ob ich vorbestellt hätte? Ich verneine, worauf mich der Mann bittet, ihn unauffällig zum Hintereingang zu begleiten. Der Direktverkauf sei dieses Jahr zwar nicht ganz legal, raunt er mir zu, aber ich müsse es ja nicht hinausposaunen.
Und dann führt er mich zu seinem Arsenal, aus dem ich einen großen Vulkan, ein Batteriefeuerwerk sowie ein Set an Raketen auswähle. Ich sei nicht der einzige, der sich den Silvesterspaß nicht vergällen lassen wolle, meint der Mann, als eine junge Familie auf gleichfalls klandestine Weise in das verbotene Feuerwerksparadies gelotst wird. Draußen ein verstohlener Blick nach rechts und links, dann sind die Sachen glücklich im Kofferraum verstaut. Bei der Rückfahrt ist der Grenzübergang verwaist. Geschafft!
Deutschland im Jahre 1 nach Corona
Ich bin nun erstmals seit rund vierzig Jahren wieder im Besitz eines kleinen, aber feinen Sortiments zündfähiger Feuerwerkskörper. Nächste Frage: Wo und wann darf ich sie abbrennen, ohne mich strafbar zu machen und nicht bis zum nächsten Silvestertag in Quarantäne zu verschwinden? Generell ist privates Feuerwerk, unabhängig von Corona, nur am 31.12. und an Neujahr erlaubt. In Bayern gilt jedoch ein Ausgehverbot ab 21 Uhr auch für den Silvesterabend, wobei jedes Bundesland eigene Regelungen erlassen hat, ein absurder Flickenteppich aus Sperrstunden, Ausgangssperren und Böllerverbotszonen. Die Sperrstunde macht mitternächtliches Schießen auf der Straße in München jedenfalls unmöglich, wenn man nicht eine Strafe von 500 Euro riskieren will.
Zudem ist generell das Verlassen der Wohnung nur aus triftigem Grund erlaubt. „Sekt trinken und Raketen abschießen gehört nicht dazu“, gab der Münchner Kreisverwaltungsreferent Thomas Böhle, der oberste Ordnungshüter der Stadt, bekannt und wirkte dabei nicht wie ein gewählter Vertreter eigenverantwortlich handelnder Bürger, sondern ein autoritärer Patriarch. „Eine Rechtsgrundlage für ein generelles Abbrennverbot von Pyrotechnik jeder Art im gesamten Stadtgebiet auch im privaten Bereich besteht nicht, auch nicht mit Bezug auf die aktuelle Lage. Andere Städte mussten entsprechende Regelungen nach Gerichtsbeschluss zurücknehmen. Wir haben Entsprechendes aus guten Gründen gar nicht erst versucht. Es ist aber auch nicht notwendig, denn die geltenden Regeln reichen völlig aus.“ So hebelt man Rechtsprechung auf dem Verwaltungsweg aus: Deutschland im Jahre eins nach Corona.
Im öffentlichen Raum werde es jedenfalls kein Silvester geben, stellt Böhle kategorisch klar und verweist zudem auf ein von der Stadt erlassenes Verbot „zum Abbrennen von pyrotechnischen Gegenständen mit ausschließlicher Knallwirkung, also Silvesterknaller und Böller, am gesamten 31. Dezember und am gesamten 1. Januar in der Umweltzone innerhalb des Mittleren Rings“ auch auf „dort befindlichen privaten Grundstücken“. Aus der bayerischen Staatsregierung heißt es wiederum: „Das Abfeuern von Feuerwerk aus dem eigenen Garten ist in der kommenden Silvesternacht nicht verboten.“
Kann beispielsweise der gepflasterte Hinterhof eines städtischen Mietshauses als „eigener Garten“ bezeichnet werden? Ist ein Mieter berechtigt, diesen „Garten“ zum Abbrennen eines Silvesterfeuerwerks in Anspruch zu nehmen? Verletzt man das Ausgehverbot, wenn man sich über den Hintereingang in diesen „Garten“ begibt? Zählt der Himmel über einem privaten Grundstück schon zum öffentlichen Raum? Darf man „pyrotechnische Gegenstände mit ausschließlicher Knallwirkung“ zumindest im eigenen Wohnzimmer zünden? Darf man Menschen, die sich durch den unsachgemäßen Gebrauch von Feuerwerkskörpern in fahrlässiger oder sogar verbotswidriger Weise verletzt haben, die chirurgische Behandlung im Krankenhaus verweigern? Vielleicht werden sich mit solcherlei komplizierten Rechtsfragen bald die Gerichte beschäftigen.