Sie wissen noch nicht, welches Buch Sie zu Weihnachten verschenken oder sich selbst schenken lassen sollen? Dann seien Ihnen einige Bücher ans Herz gelegt, die ich zuletzt mit Gewinn gelesen habe.
Da sind zunächst einmal zwei gewaltige Werke, die zwar bereits die heimische Bibliothek schmücken, die ich aber bisher nur „angelesen“ habe, weil zur Lektüre die Zeit fehlte. Doch bereits die ersten Eindrücke genügen mir, sie dringend zu empfehlen.
David Abulafia: Das unendliche Meer
Die große Weltgeschichte der Ozeane
S. Fischer, 68,00 €
sowie
Helmut Walser Smith: Deutschland
Geschichte einer Nation.
Von 1500 bis zur Gegenwart
C.H.Beck, 34,00 €
Einmal über 1.100 Seiten, einmal 670 – zwei Werke, die schwer in der Hand liegen. Beide Bücher werde ich zu gegebener Zeit an dieser Stelle ausführlich besprechen.
Niall Ferguson: Doom
Die großen Katastrophen der
Vergangenheit und einige Lehren
für die Zukunft
DVA, 28,00 €
Kriege, Seuchen, Hungersnöte und Naturkatastrophen suchen die Menschen seit jeher heim, ob naturgemacht oder von ihnen selbst verursacht, und diese müssen lernen, damit umzugehen. Ferguson unterscheidet dabei zwischen einem „grauen Nashorn“ (einer leicht vorhersehbaren Katastrophe), einem „schwarzen Schwan“ (deutlich größeres, schwer vorhersehbares Desaster) sowie dem „Drachenkönig“, eine Katastrophe von historischen Ausmaßen, deren Folgen weit über die unmittelbaren Opferzahlen hinausreichen. Und was ist nun Corona? Der Covid-Krise widmet der schottische Historiker das letzte Drittel seines Buches. Leider, ohne eine abschließende Bewertung vornehmen zu können, denn das Buch erschien im Herbst vergangenen Jahres, und die Erkenntnisse seither konnten nicht mehr in seine Darstellung einfließen. Bis dahin machte er jedoch vor allem das Versagen der Gesundheitssysteme dafür verantwortlich, dass man die „Pandemie“ nicht in den Griff bekam. Dafür waren die wirtschaftlichen Folgen bereits absehbar, wenn auch noch nicht die politischen. Vielleicht ist das Buch ein bis zwei Jahre zu früh erschienen. Interessant ist es für historisch interessierte Leser schon wegen der ersten beiden Teile allemal.
Chaim Noll: Der Rufer aus der Wüste
Wie 16 Merkel-Jahre Deutschland ramponiert haben.
Eine Ansage aus dem Exil in Israel
Achgut Edition, 19,00 €
Manchmal ist der Blick von außen hilfreich: Aus der israelischen Negev-Wüste beobachtet der aus (Ost-)Berlin stammende Schriftsteller und Achgut-Autor Chaim Noll, wie Deutschland in den langen Merkel-Jahren in alte Muster zurückfiel und zu einem Land wurde, in dem man „wegen einer abweichenden Meinung bestraft und für Mitläufertum belohnt wird“. Noll beschreibt in seinen Stücken präzise, wie sich der Prozess über die Jahre schleichend vollzog, kritisiert aber auch deutlich den ebenso naiven wie gefährlichen Umgang mit islamischer Einwanderung sowie mediale Verwerfungen und die Abwege deutscher Israel- und Nahostpolitik. Tolles Buch – und sehr gewissenhaft lektoriert, wie ich versichern kann. *zwinker-zwinker*
Ian Mortimer: Shakespeares Welt
So lebten, liebten und litten die Menschen im 16. Jahrhundert
Piper, 25,00 €
Der Mittelalterhistoriker Ian Mortimer nimmt den Leser mit auf eine Zeitreise ins elisabethanische England (grob die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts). Nicht nur, was bei Hofe üblich war, ist Thema des gewohnt bestens recherchierten und unterhaltsam geschriebenen Werkes, auch das Leben der einfachen Menschen, Krankheit und Gewalt, Prostitution und Kleidungsstile, Reisen und Strafen für Kriminelle, Bildung und Aberglauben in einer Zeit, in der gerade mal gut sieben Prozent der Menschen im Land älter als 60 Jahre waren. Fast 500 fluffig zu lesende Seiten für historisch interessierte Zeitgenossen.
Tim Marshall: Die Macht
der Geographie im 21. Jahrhundert
10 Karten erklären die Politik von heute
und die Krisen der Zukunft
dtv, 24,00 €
Nachdem er 2017 in „Die Macht der Geographie“ bemerkenswert klarsichtig, kenntnisreich und vor allem bemerkenswert neutral geopolitische Hintergründe erklärte, legt der britische Journalist Tim Marshall ein neues Buch zum Thema vor, das aktuelle und künftige Krisenherde beleuchtet – ob es sich um Chinas Machtgelüste handelt, die einander belauernden Türken und Griechen, den wachsenden Einfluss des iranischen Mullah-Regimes im Nahen und Mittleren Osten oder Großbritannien nach dem Brexit und (möglicherweise) vor einer Abspaltung Schottlands. Erkenntnisgewinne garantiert.
Massimo Osanna: Pompeji
Das neue Bild der untergegangenen Stadt
wbgPhilipp von Zabern, 50,00 €
Sehr detailliert schildert der ehemalige Leiter des Archäologischen Parks von Pompeji archäologische Grabungen und aufsehenerregende Funde wie Fresken, Mosaiken, Skulpturen oder Thermopolia (antike Gaststätten) auf dem 66 Hektar großen Gelände im Golf von Neapel, von dem bisher zwei Drittel ausgegraben wurden. Sagen wir es so: Es gibt lebhaftere Darstellungen zum Thema, aber insbesondere für Pompeji-Reisende eignet sich das Buch gut zur Nachbereitung. Bei mehr als 200 Abbildungen hätten allerdings gern detaillierte Übersichtskarten der ausgegrabenen Areale dabeisein dürfen. Dafür ist der Preis denn doch recht happig.
Emma Southon: Agrippina
The Most Extraordinary Woman
of the Roman World
15,95 €
Die im Jahr 15 oder 16 n. Chr. im heutigen Köln geborene Agrippina die Jüngere stammte aus dem berühmt-berüchtigten julisch-claudischen Geschlecht. Sie war die Mutter des Kaisers Nero (Sohn aus ihrer ersten Ehe), Schwester des Kaisers Caligula und Nichte, nichtsdestotrotz später auch Gattin des Kaisers Claudius, den sie laut Tacitus mittels Pilzgericht vergiften ließ. Die relativ wenigen historischen Quellen, die zudem lange nach ihrem Tod über ihr Leben und ihre Taten berichteten, stellen sie nicht eben in positivem Licht dar, was aber laut der Autorin vor allem damit zu tun hat, dass man es im antiken Rom überhaupt nicht schätzte, wenn sich Frauen in die Politik einmischten. Agrippina allerdings war sehr ehrgeizig und übte maßgeblichen Einfluss aus. Zu viel, fand Nero, der sie im Jahr 59 n.Chr. umbringen ließ. Sehr interessant und vor allem auch unterhaltsam, streckenweise sogar witzig zu lesen!
Emma Southon: A Fatal Thing Happened
on the Way to the Forum
Murder in Ancient Rome
23,63 €
Roms Geschichte begann mit einem Brudermord: Romulus erschlug den Remus (und nicht umgekehrt, sonst würde die Stadt heute Rem heißen). Doch Mord war im Alten Rom nicht gleich Mord. Wurde ein Sklave von seinem Herrn abgemurkst oder geschah die Tat im privaten Raum (Gattenmord und ähnliches), hatte das keinerlei strafrechtliche Konsequenzen. Politische Attentate wie die endgültige Beseitigung eines Konkurrenten oder gar des Kaisers selbst hingegen sehr wohl. Auch Justizmorde (man erinnert sich: der Fall Catilina!) und Giftmorde (berüchtigt: Locusta) kommen in dem äußerst kurzweiligen Streifzug durch die römische Kriminalgeschichte vor. Nur eines nicht: die Polizei. Die gab es nämlich im antiken Rom gar nicht.
Anthony A. Barrett: Rom brennt!
Nero und das Ende einer Epoche
wbgTHEISS, 29,00 €
Wer den Großen Brand Roms im Jahr 64 n.Chr. nur aus dem Historienfilm „Quo Vadis?“ kennt, in dem Peter Ustinov als wahnsinniger Kaiser Nero angesichts des Großfeuers die Leier zupft und einen schauerlichen Gesang anstimmt, wird erstaunt sein, wie akribisch der Althistoriker Barrett das Ereignis und seine Umstände und Folgen aufarbeitet. Die Stadt am Tiber wurde des öfteren von Bränden heimgesucht, der von 64 war nur mit neun Tagen der längste und verheerendste – und vor allem der skandalträchtigste, wurde doch niemand Geringerem als Nero selbst die Schuld daran zugewiesen (der wiederum die Christen beschuldigte und grausam verfolgen ließ). Vor allem wer Rom und seine Topographie gut kennt, wird seine Freude an der Darstellung haben, wenn der Autor den Brand und seine Vorgeschichte detailliert beschreibt und dabei die neuesten Erkenntnisse der Archäologie mit einfließen lässt. Barnett geht kritisch mit den historischen Quellen (hauptsächlich Tacitus, Sutton und Cassius Dio) um, trägt Indizien zusammen, die Nero eher entlasten und analysiert die politischen und gesellschaftlichen Folgen des Großen Brandes. Sehr lesbar!
Philip J. Hatfield: Unendlicher Pazifik
wbgTheiss, 38,00 €
Der Pazifische Ozean bedeckt nahezu ein Drittel der Erdoberfläche. Wie besiedelten Polynesier und andere die Inselwelt inmitten dieser gigantischen Wassermasse? Wie vernetzten sie sich miteinander, welche Sprachen und Kulturen entwickelten sie? Wie nahmen Europäer (Captain James Cook!) den Ozean und seine Inselvölker wahr? Jeweils zwei Seiten dieses überaus reich illustrierten Bandes handeln Bootsbau und Handel, Kulte und Forschungsreisen, Meutereien, Piraten und das Ringen um die Gewürzinseln ab, schildern Pflanzen- und Tierwelt und schlagen den Bogen bis in die Neuzeit, die Weltkriege und die Verschmutzung des Meeres. Ein sehr schönes Buch, jedoch – weil aufgrund seines Formats eher unhandlich – nicht eben zum Lesen im Bett geeignet, eher für Stunden in einem gemütlichen Sessel, in denen man, wenn es draußen dunkel und kalt ist, von fernen Küsten, exotischen Inseln und sich im Winde wiegenden Palmen träumt.
Drew Smith: Das Festmahl der Eroberer
wbgTheiss, 28,00 €
Anhand von zwölf Zutaten erzählt der Kulturwissenschaftler und begeisterte Koch Drew Smith vom kulturellen Wandel, der mit den maritimen Entdeckungsreisen ab dem 15. Jahrhundert begann – dem Kolumbianischen Austausch. Wie Zucker, Mais, Kakao, die Kartoffel oder Chili und Vanille nach Europa gelangten – und Weizen, Schweine und Weintrauben nach Amerika. Historische Hintergründe und Anekdoten, viele Illustrationen und schließlich gut zwei Dutzend Rezepte machen das Buch zu einem Lesevergnügen.
Dave Eggers: Every
Kiepenheuer & Witsch, 25,00 €
In naher Zukunft: Der beinahe allmächtige Monopol-Konzern Every, eine Fusion aus Internetgiganten wie Google, Apple, Facebook, YouTube & Co., versorgt die Menschen mit immer neuen Apps, die ihnen das Leben „erleichtern“ und ihnen helfen, sich selbst und ihr Verhalten zu „optimieren“. Alles wird kontrolliert, wie und was man liest (optimale Lesedauer bestimmt den Umfang von Büchern, unangemessenes Verhalten von Protagonisten wird ausgemerzt), wieviel Sport man macht, wie viel Zeit man für die Kommunikation aufbringen sollte und was dabei zu beachten ist (niemanden verletzen!), selbst ins Privateste lässt man Every – durch den Smart Speaker „HereMe“, mit dem man selbst persönliche Gespräche in den eigenen vier Wänden abhören lässt; es dient ja der Prävention, so werde etwa Kindesmissbrauch oder häusliche Gewalt verhindert. Für die Illusion der Sicherheit gewähren die Menschen Every die totale Kontrolle. Und der Konzern tut es nicht des Geldes wegen, sondern aus Überzeugung: Er will die Welt doch nur besser machen! Wer die gegenwärtige Entwicklung verfolgt, kommt nicht umhin festzustellen, dass ein Großteil der Dystopie bereits Realität ist. So schwant dem Leser bei der Lektüre, was noch alles kommen könnte. Die Rahmenhandlung (Frau schleust sich als Entwicklerin selbst in den Konzern ein, um ihn von innen heraus zu zerschlagen) scheint eher nebensächlich, und ob am Ende die Gute oder die Böse den Showdown gewinnt, ist schon nicht mehr entscheidend.
Antonio Scurati: M
Der Sohn des Jahrhunderts
Klett-Cotta, gebunden 32,00 €, Taschenbuch 18,00 €
Gewaltiger Roman, der den Aufstieg Benito Mussolinis in den Jahren 1919 bis 1924 schildert, in der der Faschist mit seinen anfangs nur aus wenigen, oft kriminellen Gestalten bestehenden Bande eine Organisation schuf, die das angeschlagene politische System Nachkriegs-Italiens erschütterte, binnen weniger Jahre dominierte und schließlich zerschlug. Wie Scurati zeigt, gelang es dem ehemaligen Sozialisten Mussolini mit Charisma, rhetorischem Talent und Skrupellosigkeit alles auf seine Person zulaufen zu lassen und schließlich an die Macht zu gelangen. Die Zeit des auch von allerlei Rückschlägen gekennzeichneten Aufstiegs des virilen und auch in libidinöser Hinsicht unersättlichen Egomanen schildert der Autor aber auch aus anderen Perspektiven, etwa der seiner Kampfgefährten und seiner politischen Gegenspieler. Über 800 Seiten, deren Lektüre sich lohnt! Im September ist übrigens ein Nachfolgeband in deutscher Übersetzung erschienen, der die Schlüsselfiguren und -ereignisse der Jahre 1925 bis 1932 behandelt.