Uwe Knop, Gastautor / 18.02.2020 / 14:00 / Foto: Fabian Köster / 40 / Seite ausdrucken

Lebensmittel-Ampel: Lieber rot als tot

Derzeit vergeht kaum ein Tag ohne neue Meldung, dass erneut ein Unternehmen ankündigt, schon bald den Nutri-Score einzuführen – natürlich nur der „gesunden“ Ernährung wegen, so dass die Verbraucher „auf einen Blick erkennen können, wo die gesündere Alternative“ im Regal zu finden ist. Doch das ist alles nicht mehr als ein ganz schwacher Kotau vor der omnipräsenten Ernährungspolizei und den moralinsauren Gesundheitsaposteln. Der Nutri-Score ist ein Paradebeispiel der „Geheimregierung“ des modernen Ökocalvinismus, das klar macht:

Heutzutage dominieren postfaktische Forderungen, die aus ideologischen Gründen umgesetzt werden, um dem Druck der Neopuritaner nachzugeben und im Lichte der öffentlichen Wahrnehmung als „Förderer der Gesundheit“ zu glänzen – die jedoch in keiner Weise einen wissenschaftlichen Nachweis erbringen werden, dass sie der Bevölkerung auch nur ein My mehr Gesundheit bringen. Im Falle des Nutri-Score: Ganz im Gegenteil, denn diese Verampelung von Lebensmitteln ist ein durch und durch dreifach „gefährlicher“ Akt. Nicht nur, weil es die Verbraucher mehr verwirrt, als dass es sie aufklärt, sondern:

1. Die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel ist weder wissenschaftlich vertretbar noch empfehlenswert.

2. Der Nutri-Score führt dazu, dass der Verbraucher für weniger Lebensmittelqualität mehr Geld bezahlen wird.

3. Die Ampelkennzeichnung wird zu einer neuer Form der Essstörung führen: Diese Scorektiker sind das Ergebnis, wenn moderate Orthorektiker „on top“ eine ausgeprägte Rotpunktfurcht entwickeln.

Diese strikte Kategorisierung ist Nonsens

En Detail: Für die avisierte Einteilung in ein Punktesystem fehlt jegliche wissenschaftliche Grundlage. Diese Werte basieren nicht auf (Kausal-)Evidenz, sondern auf der Freigeistigkeit findiger Forscher, die sie al gusto eminenzbasiert festgelegt haben. Allerdings gibt es keinen Beleg dafür, dass irgendein roter Punkt tatsächlich eine Gesundheitsgefahr darstellt. Die Einteilung ist also absolut willkürlich. Außerdem haben die Punkte die gleiche Farbe wie eine Ampel, und damit ist klar, dass der Mensch sie intuitiv mit dem Ampelsystem verbindet. Grün ist toll, da habe ich freie Fahrt. Bei Rot verliere ich den Führerschein, das ist gefährlich und böse.

Das nutritive Ampelsystem suggeriert etwas Ähnliches, dabei ist das alles nur Fantasie. Es gaukelt den Menschen vor, es gäbe eine Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel. Im Grunde konterkariert man das eigene System, denn die sieben großen ernährungswissenschaftlichen Fachverbände konstatieren klar und unisono: Die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel ist weder wissenschaftlich vertretbar noch empfehlenswert. Diese strikte Kategorisierung ist Nonsens.

Lesen Sie hier die Zusammenstellung der überaus einstimmigen Statements der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE), der Österreichischen Gesellschaft für Ernährung (ÖGE), dem deutschen Bundeszentrum für Ernährung (BZfE), dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE) sowie der beiden Berufsverbände in Deutschland und Österreich, dem Verband der Oecotrophologen (VDOE) und dem Verband der Ernährungswissenschaftler Österreichs (VEÖ).

Eine neue Form der Essstörung

Und dann gibt es noch einen weiteren wesentlichen Punkt. Die Industrie wird sich hüten, Produkte mit vielen roten Punkten auf den Markt zu bringen. Um gelbe und grüne Punkte zu bekommen, wird man wichtige, hochwertige Nährstoffe aus den Rezepturen entfernen, zum Beispiel Fett, Zucker und Salz, und dafür mit Füllstoffen arbeiten, die das Produkt so aussehen lassen wie vorher. Geschmacklich werden die nutrigescorten Neolebensmittel schwach und vom Nährwert her nicht mehr so hochwertig sein wie vorher. Kurzum: Der Nutri-Score führt dazu, dass der Verbraucher für weniger Lebensmittel(qualität) mehr Geld bezahlen wird. 

Die Produkte werden ausgehöhlt, um in den gesundheitlich besten Bereich zu kommen. Verbraucher müssen davon mehr kaufen, damit sie satt werden. Eine Pizza, die vorher 900 Kalorien hatte, wird nur noch mit beispielsweise 600 Kalorien produziert. Vielleicht kaufen hungrige Verbraucher dann zwei davon oder essen noch etwas anderes dazu, denn erst dann sind sie satt. All diese Punkte sprechen absolut gegen den Nutri-Score. Aber die Industrie wird sich freuen. Ausnahmsweise mal wird man hinter verschlossenen Türen den Spendendrüsendrückern Foodwatch & Co. dankbar sein für ihren ideologischen Übereifer, der selbst Bundesministerin Julia Klöckner hat einknicken lassen.

Last but not least: Der Nutri-Score wird ernährungssensiblen und gesundheitshörigen Verbrauchern Angst machen. Es wird mit Sicherheit jede Menge Menschen geben, die nichts kaufen, das rote Punkte hat – einfach aus Furcht davor, sich „ungesunde“ Lebensmittel einzuverleiben. Der Nutri-Score wird also zu einer neuer Form der Essstörung führen: Diese Scorektiker sind das Ergebnis, wenn moderate Orthorektiker „on top“ eine ausgeprägte Rotpunkt-Aversion entwickeln. Mehr dazu finden Sie in diesem Doppelinterview mit Andreas Schnebel, Psychotherapeut und Vorstandsvorsitzender des Bundesfachverbandes Essstörungen e.V. und mir.

In diesem Sinne ist pro Verbraucher nur zu hoffen, dass sich viele Unternehmen nicht an die Nutri-Nötigung halten, klare Kante zeigen und ihre Lebensmittel weiterhin nur „frei von“ anbieten – frei von frei erfundenen Ampelpunkten ohne jeglichen Nutzen für die Gesundheit der Menschen.

 

Uwe Knop ist Ernährungswissenschaftler, Publizist und Buchautor, unter anderem von „Ernährungswahn: Warum wir keine Angst vorm Essen haben müssen“. Im Juli 2019 erschien sein jüngstes Buch „Dein Körpernavigator“ zum besten Essen aller Zeiten“.

Foto: Fabian Köster CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Frederick Holzmann / 18.02.2020

Herr Fischer, es ist eben NICHT kostengünstiger. Es sind die Mengen, die das Ganze entscheidend machen. Und zum anderen: Kochen Sie kalt?

Petra Wilhelmi / 18.02.2020

Wer auf eine Nutri-Ampel schaut, bekommt das, was er verdient. Wer zu faul ist, sich die Zutatenliste anzuschauen und das wegzulegen, was - wie z.B. vegane Produkte - einem Chemiebaukasten eher ähnelt als Nahrung, hat selbst schuld. Mir ist die Nutri-Ampel Wurscht. Die könnten mir sonst etwas erzählen, ich mache bei der Nahrung, was ich will. Ich staune sowieso schon immer, wenn ich die Einkaufswagen der Menschen im Supermarkt sehe, vollgepackt mit Industriefraß. Die werden mit Freuden auf solch eine Ampel schauen. Bitteschön. Wer doof sein will, soll doof bleiben, ansonsten wäre es ganz einfach auf seinen Körper zu hören, den Kopf einzuschalten und seinem Körpergefühl zu vertrauen, auch wenn man dann keine Größe 34 mehr trägt. Was geht das den anderen an.

n.reher / 18.02.2020

@ Dov Nesher: Dieser angebliche “Versuch” zieht sich schon lange wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben! Wir Deutschen sollen entmündigt werden, und das ist auch bereits weitgehend gut geglückt. Ein großer Teil der Michels und Michelinen hat längst das selbstständige Denken eingestellt und übernimmt klaglos was der Einheitsbrei Wirtschaft, Politik und Staatsfernsehen ihm einimpfen.

Michael Schneider / 18.02.2020

Von was reden die alle? Wozu eine Ampel? Ich kaufe Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren, Hülsenfrüchte, Reis, Nudeln, Obst. Natürlich auch Fleisch, Fisch, Wurst und Käse. Nichts Fertiges. Und sollte irgendwer anfangen, eine Ampel auf die Kartoffel zu lasern, kaufe ich woanders ein!

Peter Holschke / 18.02.2020

Gibt es auch Schockbilder von geplatzten Schlaraffen? Guter Trick. Der Pöbel bekommt die gute Nahrung, mit dem HighScore -grüner doppelplusguter Punkt (Wasser und Hirsebrei). Die Parteifunktionäre begnügen sich mit der schlechten rotpunktigen Nahrung (Sahnekuchen, Kaviar, Bio-Schweinebraten)

Werner Geiselhart / 18.02.2020

Fertigpizzen bekommen grün, gesundes Olivenöl rot. Das sagt schon alles über diesen Nudging-Unsinn.

Petra Meinhardt / 18.02.2020

Dieses Punktesystem ist doch genau das richtige für die große Masse an Menschen die nicht mehr selber denken (und kochen) wollen, es folgt also dem Zeitgeist. Was will man mehr? (Ich weiß nun gar nicht, ob ich das noch satirisch meine oder schon ernst, ich würde sagen, eher zweiteres).

Karsten Dörre / 18.02.2020

Die Ampel ist nicht verbindlich. So werden rote Produkte ohne Ampel angeboten.

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