Von Florian Friedman.
So ziellos er auch mittlerweile durch die Geschichte stolpert, auf eine Gewissheit kann der Westen sich noch einigen: Unser aller Erlösung liegt in den Farben des Regenbogens. Wer gut ist, ist bunt. Ende der Talkshow.
Ob in Werbespots für Küchenrollen oder in Bundestagsdebatten zur Energiepolitik, ob auf Kirchentagen oder Death-Metal-Konzerten – kaum eine Nische des Lebens, in der man nicht daran erinnert wird, welch fantastische Kraft dem Bunten eigen ist. Die Lust, Vielfalt über alles andere zu stellen, spiegelt wie kein zweites Verlangen das Weltbild unserer Zeit wider.
Blumenwiesen, Konfetti und Claude Monets „Seerosen“ sind toll. Kein Wunder also, dass nicht nur Berlin, sondern auch Büsum und Bad Berleburg bunt bleiben wollen. Denn lieber bunt als blöd oder gar – wir klopfen auf Holz – braun. Ekelhaft genug, dass auch „braun“ mit b beginnt.
Um jedem Irrtum vorzubeugen, erläuterte es das farbenfrohe Establishment in den antirassistisch bewegten Monaten Anfang dieses Jahres noch dem blassesten Hinterwäldler: Im Regenbogen gibt es kein Braun. Mic Drop.
Bunte Republik Deutschland
Cui bono? Die Zauderer und Mutlosen, denn Feigheit schweißt zusammen. Wer lieber keine Entscheidungen treffen möchte, weil er negative Konsequenzen fürchtet, findet im Regenbogen seine Community und Komfortzone. Mit dem Satz „Wir sind bunt“ trifft der hasenfüßige Phlegmatiker zwar eine Nullaussage, tut aber glaubwürdig so, als hätte er etwas mit Bedeutung zur Sprache gebracht. Der Beifall der bunten Massen ist ihm sicher.
Doch was, wenn Monet für seine Serie von Seerosengemälden, anstatt eine feine Auswahl an Farben zu treffen und also etliche Schattierung zu ignorieren, tatsächlich an jedem Punkt der Bilder alle Farben aufgetragen hätte? Seine Seerosen wären schwarz oder, da in der Praxis kein Pigment perfekt ist, dunkelbraun ausgefallen. Monet musste diskriminieren, um Meisterwerke zu schaffen. Er wusste es nicht besser.
Natürlich geht es den Vertretern der Villa-Kunterbunt-Antifa nicht um Schönheit, und das Braune in ihren Argumenten spielt insofern keine Rolle. Toleranz ist das Stichwort und Hass keine Meinung.
Auf der Pride-Parade tanzen sie im Ledergeschirr zu den Scissor Sisters und wissen: Das gefällt bald auch dem afghanischen Migranten da drüben an der Ampel. Seine Frau wippt unter ihrer Burka – man muss nur genau hinschauen! – bereits im Takt mit. Alles ist erlaubt und kein Widerspruch zu eklatant. Nicht einmal der Gegensatz zwischen Darkroom-Dauerkartenbesitzern, die Gleitgel in die Menge schleudern, und Salafisten, die schon ein nacktes Frauengesicht für sexuelle Enthemmung halten.
Wenig scheint noch zu taugen, um sichtbar zu machen, dass Vielfalt und Gleichheit sich strenggenommen ausschließen. Die bunte Republik Deutschland ist ein Ort, an dem sich in eine Packung Smarties greifen lässt, ohne jemals verschiedenfarbige Schokolinsen zutage zu fördern. Am Ende des Zaubertricks sind alle gleich: Pazifist und Dschihadist, Zehnkämpfer und Couchpotato, Person mit Uterus und Person mit Mundgeruch … Tod den Kategorien!
Rückendeckung aus der Uni
Woher aber nimmt der bunte Fanblock seine Gewissheit, in den wildesten Strudel von Unvereinbarkeiten tauchen zu können, ohne dabei Schaden zu erleiden? Immerhin galt das Prinzip „Alle Farben sind gleich“ vor nicht allzu langer Zeit noch als etwas, das man buntstiftbewehrten Kleinkindern überließ, weil es der Priorisierungsschwäche des Nachwuchses entgegenkam, sich für Erwachsene aber als nutzlos erwies.
Die kurze Erklärung: Es verleiht Sicherheit, ungezählte Bibliotheksregale mit intellektueller Munition hinter sich zu wissen. Postmoderne Philosophen wie Michel Foucault, Jacques Derrida oder Jean Baudrillard konnten über Jahrzehnte ganzen Studenten-Generationen einbläuen, dass Wahrheit relativ sei (fast gönnt man den Franzosen ihre Banlieues). Das akademische Fundament, das den Wokismus stützt, ist mittlerweile so gewaltig ausgeufert, dass es vielen als Common Sense erscheint.
Längst muss man kein Einführungsseminar „Poststrukturalismus“ mehr besucht haben, um gleichberechtigt beim großen Gleichsetzen mitzumachen. Wahrheitsfeinden begegnet man heute, ohne groß suchen zu müssen, in der freien Wildbahn. Von ihren akademischen Vorreitern haben sie gelernt, sobald ein Widerspruch ihr Argument zu erschüttern droht, diesen mit dem Verweis darauf zu entschärfen, dass objektive Wahrheit ein Mythos sei.
Es gibt nur eine Voraussetzung für die Aufnahme in den Club der Relativisten: Unter allen Umständen ist Stillschweigen darüber zu bewahren, dass, wenn Wahrheit relativ ist, dies auch für die Aussage „Wahrheit ist relativ“ gelten muss. Vollbringt man jetzt nicht das Kunststück, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, muss man wohl oder übel mit dem Durcheinander leben, das man aus Faul- und Feigheit beschworen hat.
Murphys Gesetz
Kein Feind der Wahrheit, sei er auch noch so windig, kommt jedoch an folgendem Fakt vorbei: Das Bunte zum allgemeingültigen Prinzip zu erheben, endet notwendig im Chaos. Beschweren Sie sich beim Universum. Entropie ist King.
Das Kernproblem am bunten Weltbild unserer Zeit geht weit über die reine Logik hinaus – es bedeutet, wenn wir die Naturgesetze ernstnehmen, nicht Vielfalt, sondern garantierten Niedergang. Ohne Marshall-Plan, dafür aber mit physikalischer Notwendigkeit.
Versprochen, nur ein kurzer Ausflug in die Naturwissenschaften: Laut zweitem Hauptsatz der Thermodynamik nimmt die Unordnung in einem geschlossenen System immer zu oder bleibt zumindest unverändert. Entropie beschreibt diese Tendenz der Natur, von einem Zustand höherer Ordnung in einen Zustand geringerer Ordnung überzugehen. Metall rostet und Holz verrottet, Motoren versagen und Zivilisationen gehen unter, Sonnen erlöschen … Kurz: Atome neigen dazu, sich gleichmäßig im Raum zu verteilen. Mit ihrer Verteilung erhöht sich die Entropie, also der Grad der Unordnung des Systems.
Im Zuge dessen nehmen auch die Vorhersagbarkeit der Teilchenzustände und die (organisierte) Komplexität innerhalb des Systems ab. Ein Beispiel: Stirbt ein Lebewesen, bedeutet dies, dass die Strukturen, die es als lebenden Organismus charakterisieren – wie Zellen, Gewebe, Organe – in einfachere Bestandteile zerfallen. Der Organismus wird zerstört. Wie für jeden Teil des Universums gilt auch für ihn am Ende „Murphys Gesetz“: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.
Widerstand gegen das Chaos
Strukturen aufzulösen, ohne sie durch neue, ähnlich komplexe und organisierte Strukturen zu ersetzen, heißt, diese Strukturen zu vernichten und das System, in das sie eingebunden waren, ebenfalls zu zerstören oder zumindest zu gefährden. Wem als Antwort auf gesellschaftliche Probleme lediglich einfällt, mehr Buntheit zu fordern, der leistet einen destruktiven Beitrag zur Debatte. Er treibt die Zerstörung der fraglichen Struktur voran oder nimmt sie billigend in Kauf.
Das Bunte, verstanden als zufällige Mischung aller Farben, ist letztlich nicht mehr als eine Metapher für ein steigendes Maß von Unordnung. Ein Maß, das wir, geht es nach dem Zeitgeist, lieben lernen sollen. Bunt ist, was wir dem Zufall und der zerstörerischen Wucht der Entropie überlassen. Haben Büsum und Bad Berleburg das verdient?
Steigende Entropie stellt den Grundzustand unserer Welt dar. Die gute Nachricht: Wir sind dem anbrandenden Chaos des Bunten nicht hilflos ausgeliefert. Widerstand gegen Entropie kann Erstaunliches zeitigen. Der Reichtum etwa, den westliche Gesellschaften seit der industriellen Revolution genießen, lässt sich auf menschliches Handeln zurückführen, das Unordnung und Gleichförmigkeit zugunsten von Ordnung und Komplexität zurückgedrängt hat.
„Armut muss nicht erklärt werden“, sagt der Kognitionspsychologe Steven Pinker. „In einer durch Entropie und Evolution bestimmten Welt ist sie der Grundzustand der Menschheit. Materie arrangiert sich nicht einfach zu einem Obdach und Kleidung, und Lebewesen tun alles, was sie können, um nicht zu unserer Mahlzeit zu werden. Es ist Wohlstand, der einer Erklärung bedarf.“
Weil das Universum zu Unordnung, Fragmentierung und Verfall tendiert, tut eine Gesellschaft, die überleben will, gut daran, auf das Gegenteil dieses Trios zurückzugreifen. Ordnung, Konsolidierung und Fortschritt sind jedoch aus der Mode gekommen, und so fällt die Zahl ihrer Verfechter übersichtlich aus.
Verständigung oder Zerstörung
Zu jenen, die sich nicht vom Geist unserer Epoche beirren ließen, gehörte Christopher Alexander. Dieser britisch-amerikanische Architekturtheoretiker hielt unter anderem Schönheit weiterhin für einen wichtigen Begriff und widmete seine Karriere der Entwicklung einer Theorie, die Architektur, Stadtplanung und menschliches Wohlbefinden versöhnen sollte.
Alexanders Werk ist klar an dem Gedanken ausgerichtet, dass mit dem reinen Kunterbunten und extremen Individualismus, das heißt: Zufall, Fragmentierung und Atomisierung, nichts gewonnen wäre, sondern im Gegenteil alles verloren ginge. „In jedem organisierten Objekt“, schreibt er, „sind extreme Unterteilung und die Dissoziation interner Elemente die ersten Anzeichen bevorstehender Zerstörung. In einer Gesellschaft bedeutet Dissoziation Anarchie. Bei einer Person ist Dissoziation ein Anzeichen von Schizophrenie und drohendem Selbstmord.“ Alexander suchte Designprinzipien, die der Tendenz zu Chaos und Auflösung entgegenwirken – geordnete, organisch aufeinander bezogene Muster, die das menschliche Wohlbefinden fördern.
Ein System muss, soll es dem Dissoziationsdruck standhalten und sich womöglich sogar weiterverbreiten, aus Elementen bestehen, die in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Damit das gelingt, bedarf es geteilter Standards. Je weniger Standards in einem (und zwischen mehreren) Systemen geteilt werden, desto höher fallen die Grade von Atomisierung und Zufälligkeit aus – fast immer zum Nachteil des Menschen.
Sich auf gemeinsame Standards zu einigen, ist das Gegenteil von bunt. Es setzt voraus, zu akzeptieren, dass eben nicht alle Farben in jedem Kontext gleichermaßen dienlich sind. So bildet es die erste Bedingung dafür, dass es dem Menschen gut geht.
Atomisiert im 21. Jahrhundert
Technologische Gesellschaften belohnen Effizienz. Atomisiert können wir räumlich und zeitlich flexibler eingebunden werden und sorgen für weniger Reibung in der Mechanik des sozialen Systems, in das wir integriert sind. Im Westen gilt Bindungslosigkeit deshalb in etlichen Ausprägungen bereits als Merkmal eines gut geführten Lebens. Dementgegen stehen Konzepte wie Ehe, Familie, Heimat und Eigentum, die mit jedem Jahr weiter an Coolness einbüßen. Wer hip sein möchte, setzt besser auf Polyamorie, Schoßhündchen statt Nachwuchs, Weltbürgertum und Vanlife. Je bunter, desto bindungsloser.
Aber auch alle, die gerne als Spießbürger leben, sehen ihre zwischenmenschlichen Kontakte zunehmend durch Technik eingeschränkt. Der Wandel ist umfassend: Internet-Shopping statt Einkaufsbummel, Home-Office statt Büropräsenz, Streaming statt Kino, soziale Medien statt Stammtisch … Datenströme lassen sich effizienter leiten als menschliche Körper. Gleichzeitig sorgt die digitale Atomisierung dafür, dass wir seltener mit den Auswirkungen unserer bunten Weltanschauung konfrontiert werden, weil die Filterblasen-Bildung im digitalen Leben leichter fällt als im analogen.
Wohin soll die Reise gehen?
Sich dem Kult des Bunten zu entziehen, bedeutet nicht, sich dem Konformismus hinzugeben. Es heißt aber, bei allem Dissens gemeinsame Standards anzuerkennen. Denn um Widerspruch zu leisten, das wissen wir spätestens seit Ludwig Wittgenstein, muss zunächst Übereinkunft bestehen. Uneinigkeit in Punkt A setzt Einigkeit in Punkt B (C, D …) voraus, weil es sonst keine Basis gäbe, auf der man diskutieren könnte. Angefangen bei der Einigkeit darüber, was bestimmte Wörter bedeuten, bis hin zu moralischen Urteilen wie der Überzeugung, dass Verständigung überhaupt wünschenswert ist.
So wie Freiheit als Selbstzweck reichlich unbefriedigend bleibt, verhält es sich auch im Fall des Bunten, wenn allein um der Buntheit willen danach gerufen wird. Wer ein gutes Leben bloß am Grad seiner Freiheit misst, hat Form und Inhalt verwechselt. Er verkennt, dass es nichts nützt, sich in alle Richtungen bewegen zu können, wenn nicht klar ist, wohin die Reise gehen soll.
„Freiheit im modernen Sinne bedeutet nur, dass das Subjekt frei wählen kann, wofür es verantwortlich sein will“, schreibt die französische Philosophin Chantal Delsol. „In dem Maße, in dem diese Freiheit so verstanden wird, dass es für nichts verantwortlich ist, zerstört sich das Subjekt selbst, weil es das Mittel mit dem Zweck verwechselt.“
Das Bunte ist der Raum, in dem man sich auf bestimmte Farben zubewegt. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Künstler werden es begrüßen, potenziell jede Farbe auf ihre Leinwand bringen zu können. Allein aufgrund dieser Möglichkeit aber schon zu denken, man hätte etwas gemalt, wäre so falsch, wie zu glauben, dass es einen zum Auschwitzbefreier macht, wenn man John Lennons „Imagine“ auf dem Marktplatz von Bad Berleburg singt.
Jede Farbe für sich!
Als grundlegende Wahrheit über das Universum schließt Entropie die Drift der Galaxien genauso ein wie das Muster, das Milch in unserem Morgenkaffee hinterlässt. Das Gegenteil hiervon kann niemand wollen, denn eine absolut rigide geordnete Welt brächte absoluten Stillstand.
Auf geistiger Ebene würde so eine Welt ausschließlich für perfekt vorhersehbaren Kitsch sorgen, auf physischer Ebene alles Lebendige auslöschen. Es braucht Unterschiede, Kreativität und Kritik, um Fortschritt möglich zu machen. Als Schuss Buntes hat das Chaos deshalb nicht nur seine Berechtigung, sondern ist lebenswichtig. Diversität stellt einen unschätzbaren Wert dar.
Wer allerdings den ganzen Papageienkuchen verputzen will, kann sich auf Bauchweh gefasst machen. Eine Gesellschaft, die behauptet, Vielfalt sei ihre Stärke, aber zu Themen wie Einigkeit, gemeinsamen Standards und Zielen nichts zu sagen hat, darf sich nicht wundern, wenn diese Dinge sich nicht einstellen.
Macht man das Bunte zur Forderung, die alles andere aussticht, bleiben auf gesellschaftliche Probleme nur noch negative Antworten. Frei nach „Imagine“ schwebt der Mensch nun atomisiert im Leeren: Kein Himmel und keine Hölle belasten ihn; er kennt weder Religion, Besitz noch Länder, hat kein Interesse an einer eigenen Kultur und maßt sich nicht an, über Gut und Böse oder Schön und Hässlich zu entscheiden, wenn das Urteil seinen Kaleidoskop-Blick trüben könnte.
In den La-La-Ländern des Westens zerlegt das Volk sich in Humanatome und könnte dabei kreischen vor Freude. Der Refrain unseres eigentlichen Feel-Good-Songs lautet: „Jede Farbe für sich!“
Frei aller Verantwortung, ja, durchweg ohne etwas, das über ihn selbst hinausweisen könnte, baumelt der redliche Mensch vom Regenbogen. Sein Style ist bunt, unabhängig und widerständig. Er fühlt es einfach. Nur manchmal, wenn er sein Handy neu starten und eine Minute überbrücken muss, denkt er: Ganz schön kalt hier oben. Und grau.
Florian Friedman ist freier Journalist. Für zahlreiche Zeitschriften, Zeitungen und Blogs schreibt er über gesellschaftliche Themen, Kunst, Technologie und Musik. Friedman lebt in Hamburg. Seine Homepage finden Sie hier.