Michael Miersch / 26.10.2011 / 22:00 / 0 / Seite ausdrucken

Jetzt mal ein ganz anderes Thema: Der Rothirsch in den Medien

Vortrag, gehalten auf dem Rotwild-Symposium der Deutschen Wildtier Stiftung

Bevor ich zum Rothirsch komme, möchte ich ein paar Worte darüber sagen, unter welchen Bedingungen Tiere überhaupt in die Medien geraten. Wenn ich hier den unscharfen Begriff Medien benutze, meine ich die Tageszeitungen, die Publikumszeitschriften, Radio und Fernsehen. Es gibt natürlich darüber hinaus zahlreiche Fachzeitschriften und wissenschaftliche Publikationen und – im Falle des Rothirsches – die in Deutschland sehr vielfältige Jagdpresse. Diese Veröffentlichungen sind nicht gemeint, denn dort sind der Rothirsch und andere Wildtiere Dauerthema. Ich spreche von jenen Medien, die sich an jedermann wenden. Auch an die Menschen, die – und das sind gar nicht wenige – die das Reh für das Weibchen des Hirsches halten. 

Also: Wann machen Tiere Schlagzeilen?

Im Großen und Ganzen lässt sich dies in drei unterschiedliche Kategorien einteilen:

Erstens: Tiere machen Schlagzeilen als Protagonisten unterhaltender, anekdotischer Geschichten. Zum Beispiel der verlorene Hund, der nach Jahren zurückkehrt. Die Vogelspinne, die in einer Bananenkiste entdeckt wird. Solche Meldungen finden sie auf den vermischten Seiten der Tagspresse. Und als so genannte „Rausschmeißer“ in den Fernsehnachrichten: Das ist die amüsante Geschichte, die nach den Schreckensmeldungen aus aller Welt am Ende für ein Schmunzeln sorgen soll.

Zweitens: Tiere machen Schlagzeilen als apokalyptisches Menetekel, als Boten eins bevorstehenden Untergangs. Der letzte Panda, der letzte Tiger, der letzte Elefant. Sie gehören zum populären „Fünf vor zwölf“ Szenario, das seit vielen Jahrzehnten mit wechselnden Anlässen von Bevölkerungsexplosion, über Waldsterben bis zur Klimakatastrophe stets in möglichst grellen Farben gemalt wird. Wildtiere werden fast grundsätzlich als vom Aussterben bedroht beschrieben. Auch dann, wenn sie in erfreuliche großer Zahl existieren - oder sogar wenn ihre Bestände anwachsen. Aussterben ist das mindeste, was ein Wildtier dem Journalisten bieten muss. Ist noch kein Artentod in Sicht, hilft man sich mit der Prognose, dass er bald kommen wird. Es findet sich immer ein Umweltverband, der das bestätigt. Sie alle kennen diese immer gleichen letzten fünf Minuten am Ende von Tierfilmen. In der Branche werden sie der „Ethik-Schwanz“ genannt, der etwa so lautet: „Noch konnten wir die letzten dieser Art filmen, aber wenn wir nicht aufhören CO2 zu emittieren, Auto zu fahren und Getränkedosen zu benutzen, werden sie für immer verschwunden sein.“ Zu einer besonders steilen Karriere hat es hier im vergangenen Jahrzehnt der Eisbär gebracht. Er wurde zum Menetekel einer kommenden Klimakatastrophe. Millionenfach publizierten Verlage, Sender und Filmproduktionen das Bild vom einsamen Eisbären auf schmelzender Scholle. Mit der realen Entwicklung der arktischen Großraubtiere hat dies wenig zu tun. Der Bestand der Polarbären lag in den 50er Jahren bei etwa 5000 Exemplaren. Heute leben trotz Klimaerwärmung nach offiziellen Schätzungen etwa 20 000 bis 25 000 Eisbären in den arktischen Regionen. In der Logik des Katastrophismus sind also immer mehr Eisbären gefährdet - die Situation verschärft sich dramatisch.

Drittens: Ein weiteres Genre, das Tiere für Journalisten interessant werden lässt, sind Tiere als Opfer. Tierversuche, landwirtschaftliche Tierhaltung, Pelzfarmen. Wie das Narrativ vom Artensterben sind diese Geschichten moralisch aufgeladen, und transportieren ebenfalls eine immer gleiche Botschaft: Der Mensch ist grausam zu unschuldigen Tieren. Hinter dieser Grausamkeit steckt zumeist Geldgier. Ob diese These mit der Logik zu vereinbaren ist, spielt dabei keine Rolle. So wäre es zum Beispiel für die pharmazeutische und chemische Industrie wesentlich billiger, keine Tierversuche durchzuführen.

Die Stärke solcher journalistischen Produkte liegt in der klaren moralischen Botschaft. Es gibt die Bösen - Wissenschaftler, Landwirte, Jäger - und die unschuldigen Opfer, die Tiere. Der Autor wird mit dem angenehmen Gefühl belohnt, sich für Schwache eingesetzt zu haben und zu den Guten zu gehören. Er muss nicht differenzieren, er muss nicht genauer hinsehen. Es genügt die moralische Überzeugung. Aus der Sicht journalistischer Professionalität ist das bedauerlich. Mit der Suche nach Wahrheit haben die meisten Berichte dieser Art wenig zu tun. Der Zeitgeist triumphiert über die Tatsachen. Und der Zeitgeist hat den Tieren eine klare Rolle zugewiesen.

Tiere sind gut. Das weiß heute jedes Kind. In meiner Kindheit war dies noch nicht so. Wer sich alte Tierfilme anschaut, bemerkt einen deutlichen Bruch in der Mitte der 50er Jahre. Vorher galten wilde Tiere als gefährliche Bestien. Der jeweilige Held schoss sie mit bestem Gewissen tot. Ungefähr Mitte der 50er Jahre fand dann ein Paradigmenwechsel im westlichen Denken statt. Die allgemeinen Annahmen (was die Engländer „conventional wisdom“ nennen) änderten sich innerhalb kurzer Zeit, sodass die heutigen Menschen Tiere völlig anders betrachten als ihre Großeltern und Urgroßeltern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Einer der Gründe, warum der Blick sich geändert hat, ist der Wandel der Lebenswelt. Nur noch eine kleine Minderheit der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. Die Mehrheit wohnt in Städten und kauft Fleisch und Milch im Supermarkt ein. In Metzgereien und auf den Märkten sind keine toten Tierkörper mehr zu sehen.

Wie sehr sich der Blick auf die Tierwelt verändert hat, zeigen Kinderbuch-Texte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wirken aus heutiger Sicht ziemlich seltsam. Niemand würde heute solche Tierbeschreibungen mehr drucken, schon gar nicht in Kinderbüchern. Über das Spitzmaulnashorn heißt es beispielsweise in dem bis in die 60er Jahre populären Sammelwerk „Das Tierreich“: „Es lauert oft im tiefen Dickicht, wirft den ahnungslosen Verfolger zu Boden und rennt ihm das furchtbare Horn durch die Rippen.“ Der Leopard wird folgendermaßen beschrieben: „Mit den körperlichen Vorzügen verbinden sich List und Tücke, Verschlagenheit und Rachsucht, Wildheit und Blutdurst, Raub- und Mordlust. Kein Wunder, dass er überall dort wo er auftritt, ein Schrecken der Gegend ist.“ Noch unsympathischer fand man nur die Tüpfelhyäne, ein „feiges … Nachttier von hässlichem Aussehen … Die schief liegenden, unheimlich funkelnden Augen haben einen boshaften Blick. Sie ist ein höchst unangenehmes Tier.“

Wildtiere, die dem Menschen, seinem Vieh oder seinen Ackerpflanzen schadeten, galten grundsätzlich als böse - und dies war durchaus auch im moralischen Sinne gemeint. Die ersten zaghaften Versuche, von diesem Naturbild abzukommen, muten aus heutiger Sicht geradezu rührend an. In dem populären Buch „Vögel der Heimat“, das bis Ende der 60er Jahre immer wieder aufgelegt wurde, heißt es im Vorwort: „Der Text vermeidet absichtlich die allzu menschliche Einteilung der Vögel in nützliche und schädliche“. Als Konsequenz teilt der Autor jede Art mit Minus- und Pluspunkten ein, die für Nützlichkeit und Schädlichkeit stehen. Eine Buchhaltung, die aus heutiger Sicht wunderlich erscheint. Bei der Kohlmeise stehe das Verhältnis von Nützlichkeit zu Schädlichkeit 20 zu 6, beim Eisvogel 9 zu 5. Und beim Habicht werden die guten Eigenschaften mit
10 quantifiziert, die schlechten mit 24.

Selbst in den Naturfilmen der damaligen Zeit wimmelt es im Tierreich von Bösewichtern und Schädlingen. Hans Hass, der berühme Unterwasserpionier der 50er Jahre, kommentierte in einem seiner populären Filme die Begegnung mit einer Muräne folgendermaßen: „Da bemerkte ich den gewundenen Leib einer giftigen Muräne, des mir am meisten verhassten Tieres, die mir wie eine Kobra entgegendroht. Sie funkelt mir mit ihren tückischen Augen entgegen. Jetzt ist es höchste Zeit. Ich bin selbst schon ganz erregt, von dem Jagderlebnis, das uns nunmehr bevorsteht.“

Wenige Jahre später werden wilde Tiere in Filmen und populären Bücher nicht mehr als bedrohlich, sondern als bedroht dargestellt - was ja der Realität auch näher kommt. Fast alle haben jetzt ein Herz für Tiere. Ein erfreulicher Fortschritt, wenn man daran denkt, was Tieren im Laufe der Menschheitsgeschichte alles angetan wurde. Für die nach Deutschland zurückgekehrten Wölfe gibt es nun freundliche Wolfsbeauftragte, die zwischen Wölfen und besorgten Schäfern moderieren.

Der Paradigmenwechsel in den Medien von der bedrohlichen zur bedrohten Natur verlief in relativ kurzer Zeit, beginnend Ende der 50er Jahre. Bernhard Grzimeks immens erfolgreicher Film „Serengeti darf nicht sterben“ markiert diese Wende. Die Zeit des technischen Machbarkeitswahns ging zu Ende. Der Glaube, dass alles möglich sei und alles immer besser würde, verblasste. Statt Mondreisen, Atomenergie und Überschallflugzeugen standen bald Umweltverschmutzung und Naturausbeutung im Mittelpunkt des Publikumsinteresses. Der Mensch wurde mehr und mehr als Plage des Planeten dargestellt. Tierwelt und Natur wurden idealisiert, bis hin zu einem neuen Pantheismus, der Delfine und andere Super-Tiere zu göttlichen Wesen erhebt.

Dem Hirsch kommt bei alldem eine Sonderrolle zu. Nicht nur, weil er immer schon als besonders bedeutungsvolles Tier galt, das Künstler und Dichter inspirierte. Sondern auch, weil das ansonsten in den Medien alles beherrschende Paradigma des Tierschutzes beim Hirschen außer Kraft gesetzt wurde - zumindest von einem Teil der Journalisten. Während die einen gegen die Jagd an sich schreiben und filmen, fordern die anderen mehr Abschüsse. Die Rolle des Hirsches ist eine erstaunliche Ausnahme in der üblichen Darstellung von Tieren in den Medien. Ironischerweise wird ja die übertriebene Sentimentalität, welche Tieren in Filmen, Büchern und Zeitungsartikeln zuteil wird, als „Bambi-Syndrom“ bezeichnet: Also nach einem Hirsch, zumindest wenn man sich auf den Disney-Film bezieht, in dem Bambi ja ein Weißwedelhirsch ist. Was wenige wissen: Die literarische Vorlage von Bambi war allerdings ein Reh, erdacht von dem Wiener Autor Felix Salten, der auch „Josefine Mutzenbacher“ geschrieben hat. 

Während also Wale, Elefanten, Robben und fast alle anderen populären Großtiere unbedingt zu schonen sind, schallt dem Medienpublikum seit den 70er Jahren der Ruf entgegen: Tötet mehr Hirsche! Dass Hirsche für völlig gegensätzliche Naturauffassungen herhalten müssen, hat Tradition: Menschen haben ganz unterschiedliche Hirsch-Kulturen erschaffen. Einst ließen sich Aristokraten das Edelwild vor die Büchse treiben. Später, in der bürgerlichen Epoche, wurde auch der Hirsch gut bürgerlich, ein fester Bestandteil häuslicher Idylle. Ob billiger Kitsch oder große Kunst: Wohl kein Wildtier wurde in der abendländischen Kulturgeschichte häufiger dargestellt als der Rothirsch. Seine Karriere führte von der Höhlenmalerei, über mittelalterliche Allegorien und höfische Pracht bis zur Kaufhauskunst. Heute haben junge Künstler in der Folge des Hirschkult-Schamanen Joseph Beuys das Thema wieder entdeckt, und verfremden es ironisch. Ebenso, wie die Werbewirtschaft: Jägermeister, die Marke mit dem Hirsch, schaffte es in den 90er Jahren, den Ruf als „Spießergetränk“ abzustreifen, und legte sich mit Hilfe des Hirschs ein jugendliches Image zu.

Jedes Zeitalter interpretiert das Tier auf neue Weise. Und so findet jedes Zeitalter zu seinem eigenen Hirsch. In den deutschen Medien erlebte die veröffentlichte Sicht auf den Rothirsch drei Phasen:

Erstens, die Verklärung: Der röhrende Hirsch.
Zweitens, die Verdammung: Der störende Hirsch.
Drittens, die Versachlichung: Der Hirsch als Bestandteil der europäischen Natur.

Eigentlich ein mustergültiger dialektischer Dreischritt. Aber bevor ich darauf komme, möchte ich zunächst auf etwas hinweisen, was in der stets erregten Fachdebatte leicht in Vergessenheit gerät: Das breites Publikum hat diese Diskussion ignoriert. Es blieb seinem Bambi treu. Dass Naturschützer fordern, mehr Rothirsche und Rehe sollten geschossen werden, ist den meisten Menschen nicht bekannt. Bis heute ist der Unterschied zwischen Naturschutz und Tierschutz einer großen Mehrheit nicht geläufig. Und auch in den meisten Medien werden diese beiden Begriffe unverdrossen durcheinander gebracht. Die nicht jagende und nicht in Naturschutzverbänden organisierte Bevölkerung denkt beim Thema „Wald, Wild und Jagd“ eher an die grundsätzliche Frage, ob Jagd an sich unmoralisch ist, weil man Tiere nicht töten darf. Forstliche, ökologische und wildbiologische Fragestellungen interessieren nur eine kleine Minderheit von Journalisten. Meistens solche, die selbst als Jäger oder Naturschützer engagiert sind.

Die Debatte trat relativ selten aus der Fachpresse hinaus in die Publikumsmedien. Und wenn, dann meistens in solche, die sich an ein speziell interessiertes, gebildetes Publikum wenden, zum Beispiel Zeitschriften wie NATUR, KOSMOS, DAS TIER oder GEO. Nur zuweilen wurde die Diskussion von den großen Printmedien aufgegriffen; besonders in den 80er Jahren tauchte die Wald-Wild-Jagd Problematik auch öfter mal in ZEIT, SPIEGEL und STERN auf. Alle paar Jahre erschienen auch Artikel dazu auf den Wissenschaftsseiten der großen Tageszeitungen. Ein wirklich populäres Thema wurde aber nie daraus. Insgesamt steht die Erregung, welche die Debatte in Fachkreisen erzeugt, in einem krassen Gegensatz zum Desinteresse des breiten Publikums. Die öffentliche und die mediale Aufmerksamkeit ist wesentlich schwächer, als bei Themen wie „Waldsterben durch Luftschadstoffe“ oder „Atomkraft“ oder „Klimawandel“, welche große Teile der Bevölkerung bewegen.

Der Film „Bemerkungen über den Rothirsch“ von Horst Stern ist in Fachkreisen Legende. Jeder kennt ihn und viele haben ihn nach fast vierzig Jahren noch vor Augen. Er stieß eine Diskussion an, welche forstpolitische Folgen hatte, die sich bis heute auswirken. Doch wenn man Menschen des entsprechenden Alters fragt, die mit Jagd, Forst oder Naturschutz nichts zu tun haben - dann erinnern sich zwar viele an den Journalisten Horst Stern und seine Tätigkeit als Filmautor. Doch man findet wenige, die sich an den Inhalt des Rothirschfilms erinnern. Wir reden also über einen Mediendiskurs, der etwas mehr ist als ein Insiderthema – der aber auch kein populäres Thema ist, sondern der irgendwo dazwischen steckt.

Zurück zu den drei Phasen: Verklärung - Verdammung – Versachlichung. Bis in die 70er Jahre war die mediale Rezeption des Hirsches die gleiche wie im 19. Jahrhundert. Kaum etwas hatte sich daran geändert. Das Motiv des „röhrenden Hirschs“ war einer der Standards der so genannten Kaufhauskunst, von Malmanufakturen in Massenauflage erstellte Ölbilder für die Wohnzimmer der breiten Bevölkerung. Röhrende Hirsche schmückten auch Gläser, Geschirr, Wandteppiche und Wanduhren. Produkte der Populärkultur damaliger Zeit waren auch Sammelalben, in die man Bilder einkleben konnte, welche man als Zugabe in Margarine-, Zigaretten oder Haferflockenpackungen bekam. Damals eine beliebt Methode, um Kundenbindung herzustellen. Diese Werke spiegeln sehr gut den Zeitgeist wieder – und auch die Sicht auf die Natur und speziell auf den Rothirsch:

Ich habe für Sie mal in einigen solcher Sammelalben gestöbert, um Ihnen daraus zu zitieren:

• Das Tierreich (Auflage von 1953)
Hier ist zu lesen: In der Brunft des Rothirsches Liegt eine tiefe
Poesie des deutschen Waldes.“

• Tiere des Waldes (Auflage 1966)
Darin heißt es: „An der Spitze steht unbedingt das Rotwild; es ist unser stolzestes , herrlichstes Wild,…ein unvergessliches Bild der Schönheit und Kraft. Darum ist er auch von jeher eine Lieblinsgestalt unserer deutschen Sagen gewesen. Immer wieder hat er die Begeisterung der Helden der Vorzeit erregt, und immer wieder war er der Kunst ein Urbild der idealen Schönheit.“ Besonders interessant ist, was hierin zum Lebensraum und zum Verhalten des Rothirsches geschrieben steht: „Der Rothirsch ist ein scheuer Waldbewohner, er bleibt seinem angestammten Revier treu und liebt vor allem die Ruhe.“ Der Autor zitiert einen anonymen alten Waidmann: „Seit vielen Jahrzehnten ist für mich der erste Brunftschrei stets ein weihevolles Erlebnis gewesen. Ich schäme mich nicht, dass ich stets den Hut abgenommen und in andachtsvoller Stimmung hinausgehorcht habe.“ Weiter heißt es: „Jäger, die in Indien auf Tiger, in Afrika auf Elefanten und Löwen jagten, haben es immer wieder bestätigt: Es geht nichts über den Brunfthirsch. Der Rothirsch ist und bleibt eben der König des Waldes.“

• Großwildjagd in aller Welt (Auflage 1952)
„Den Rothirsch nennt man mit Recht den König der Wälder. Im vollendeten Ebenmaß seines Körpers, in seiner Größe und Haltung und nicht zuletzt mit seinem weit ausgelegten Geweih bietet er ein eindrucksvolles und majestätisches Bild.“ Weiter heißt es, an der Hirschjagd werde „die deutsche Jagdauffassung als hoher ethischer und moralischer Begriff deutlich.“ Besonderen Wert legt der Text auf die Selektionswirkung der Jagd, es ist von „Artverderbern“ und „schlecht veranlagten Hirschen“ die Rede, die dringend entfernt werden sollten.

Auf dieses Motiv der Degenerierung, des Verfalls, treffen wir auch im Deutungsmuster, dass in den 70er Jahren die alte Verklärung des
„Königs der Wälder“ radikal ablöste: Auf den röhrenden Hirsch folgte der störende Hirsch. Doch die Sorge um schlechtes Erbgut blieb. Die Kritiker des alten Hirschkultes griffen auf Muster zurück, von denen sie sich selbst meilenweit entfernt wähnten.

Horst Stern behauptete in „Bemerkungen über den Rothirsch“ (1971), dass bei den Rothirschen „Kümmerlinge“ „weit verbreitet“ seien. Dies sei ein „sicheres Anzeichen einer zu hohen Wilddichte.“ Erstaunlich auch, dass er sich in seiner Kritik auf den Nationalsozialisten und Reichslandschaftsanwalt Alwin Seifer bezieht (der bis 1963 Vorsitzender des Bund Naturschutz war).  Im Alter von über 80 Jahren forderte Seifert Anfang der 70er Jahre als einer der ersten den „radikalen Abschuss überzähliger Rothirsche“. Auch andere einschlägige Formulierungen in Sterns Filmkommentar fallen auf. Der Wald sei „pervertiert“ durch „ungezügelte Vermehrung“ der Rothirsche.  „Jagdliche Entartung“ greife um sich. Auch DER SPIEGEL vermeldet eine „überall sichtbar werdender Degeneration der Jagdtiere“. Scheinbar drohte dem deutschen Wild genetischer Verfall, weil schlechtes Blut nicht mit genügender Härte ausgemerzt wird. Das gleiche wurde ein Vierteljahrhundert zuvor vom deutschen Volk und der arischen Rasse behauptet. Es ist schon seltsam: Der als progressiv gedachte Angriff auf muffigen Trophäenkult und kitschige Hirsch-Verklärung bedient sich völkischer Sprachbilder und eines völkischen Kronzeugen.

Während dies Rekurse auf eine Sprache des Dritten Reiches sind, greifen Sterns Sprachbilder andererseits der Zeit voraus, und klingen wie aus dem Öko-Jargon der 80er Jahre. Ein Jahrzehnt vor der Waldsterbenshysterie sagt er: „Der deutsche Wald ist krank auf den Tod.“ Sterns Film legt die Grundlage für ein Denkmuster, dass die Diskussion um Wild und Wald jahrelang beherrschen wird: Er setzt die Forstökonomie mit der Ökologie gleich. Das „Zehnfache des natürlichen Wildbestandes“ sei „herangehegt worden“. Selbst wenn die Fichtenmonokulturen in Mischwald umgewandelt würden, so Stern, müssten die großen Pflanzenfresser auf ein Minimum dezimiert werden. Zitat: „Ein gesunder Wald verträgt eine radikal kurz gehaltene Anzahl von Rehen und Hirschen.“ Im künstlichen – also aus Sterns Sicht kranken – Wald schwingt zwischen den Zeilen mit, sollten diese Tiere am besten überhaupt nicht existieren.

Kritik am Trophäenkult war übrigens nichts Neues. Bereits im Jahr 1911 stand in der österreichischen Jagdzeitschrift „Waidmannsheil“ unter der Überschrift „Eitle Trophäensucht – des edlen Waidwerks sichere Gruft“: „Wir Kulturmenschen haben uns zwar von dem schönen Brauch des Kopfabschneidens oder des Skalpierens unserer Kriegsgegner glücklich emanzipiert. Doch als Vermächtnis unserer wilden Vorfahrenhaben wird das Sammeln des Jagdtrophäen getreulich behalten.“

Die Diagnose des Stern-Film sorgte in Fachkreisen zwar für heftige Debatten. Die großen politischen Publikumszeitschriften griffen die Wildproblematik jedoch erst auf, als ein anderes Wald-Thema die Republik erschütterte. In den 80er Jahren war ganz Deutschland davon überzeugt, dass die Wälder bereits in wenigen Jahren überall und flächendeckend abgestorben sein werden. „Oben stirbt uns der Wald durch Immissionen weg,“ zitiert DER SPIEGEL 1985 den Münchner Forstprofessor Richard Plochmann, „unten raubt eine Überzahl von Rehen und Hirschen den jungen Bäumen jede Überlebensmöglichkeit.“ Im gleichen Jahr heißt es in einer anderen Ausgabe des SPIEGEL: „Als Umweltschädlinge ins Schussfeld geraten sind die Jäger vor allem, seit das bundesweite Waldsterben zum deutschen Nationalproblem geworden ist. Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass nicht nur der Saure Regen die Wälder ruiniert; auch die im Übermaß vorhandenen Hirsche sind zu einer Gefahr für den Baumbestand geworden.“ DIE ZEIT schreibt, den Jägern sei es gelungen, „im Wald eine Art Massentierhaltung aufzuziehen.“ DER SPIEGEL behauptet: „in Süddeutschland weisen schon mehr als 50 Prozent aller Bäume schwere Rindenschäden auf.“

So bleibt die Tonlage dann bis in die 90er Jahre. Bis in einem kleineren Artikel im hinteren Teil der Zeitschrift GEO im Jahr 1998 plötzlich ganz neue Argumente zu lesen sind, Überschrift: „Der Hirsch als Förster.“ GEO berichtet über eine Langzeitstudie zum Pflanzenwachstum im hirschreichen Schweizer Nationalpark, die ein Team von Wissenschaftlern der schweizerischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft durchgeführt hat. In dem Artikel steht der ungeheuerliche Satz: „Die natürliche Waldverjüngung hat vom Rotwild deutlich profitiert.“ Die Forscher konnten belegen, dass es in dem Gebiet des späteren Nationalparks zwischen 1914 und 1930 eine Zeitspanne gab, in der weder Alpwirtschaft betrieben wurde, noch Hirsche dort lebten. In dieser Phase wuchsen wesentlich weniger Bäume auf, als später in Zeiten hoher Hirschbestände. Der Grund ist wohl, dass die Tiere Lücken in die verkrautete Vegetationsdecke reißen, sodass die Baumkeimlinge sich gegen die Bodenpflanzen besser durchsetzen können. „Angesichts dieser Erkenntnis,“ resümiert GEO „wird sich das Dogma der Forstwirtschaft, Huftiere schaden dem Wald prinzipiell, kaum noch halten lassen.“

Anfang der 2000er Jahre schwenkt der Medientenor dann langsam um. „Freiheit für den Rothirsch!“ fordert 2001 der Autor Till Meyer in der Zeitschrift NATUR & KOSMOS. Er kritisiert in seinem Artikel, dass „Rothirsche nur noch in 140 gesetzlich definierten Rotwildgebieten leben dürfen“, und richtet das Augenmerk auf ökologische und wildbiologische Fragen, die im Wald-Wild-Grabenkampf bis dahin wenig beachtet wurden: Den Mangel an ungestörtem Grasland und die überaus lange Jagdzeit auf Rothirsche. Der Rothirsch, so die durch die Wildbiologie abgesicherte Kernthese, will gar nicht im Wald stehen und Bäume schälen. Er wird dorthin gedrängt. Viel lieber würde er im Offenland Gras fressen – doch dort lauert der sichere Tod. Als Beleg führt Meyer auch das Verhalten der amerikanischen Wapitis an, einer Schwesterart des Rothirsches. Durch die kürzeren Jagdzeiten in Amerika trauen sich die Tiere auf offene Flächen, um dort zu grasen.

Eine neue Sichtweise steht von nun an im Raum: Der Hirsch ist kein Schädling, kein „großer brauner Rindenfresser“, wie er von Forstleuten in der Folge des Stern-Films genannt wurde. Er wird auch nicht zu selten geschossen. Sondern ein falsches Jagdsystem macht ihn zu dem scheuen Waldgespenst, das die Rinden der Bäume abschält. In den folgenden Jahren bis heute schließen sich immer mehr Journalisten in den großen Printmedien dieser Sichtweise an. Im Sommer 2002 fragt die FAZ: „Wie könnte der Rothirsch in Deutschland tatsächlich artgerecht leben?“ Und kommt zu den gleichen Schlüssen wie Meyer: Mehr Toleranz für die Tiere im Offenland und kürzere Jagdzeiten. Als 2003 die damalige Landwirtschaftsministerin Renate Künast eine Reform des Jagdrechts ankündigt, gewinnt die Debatte um Jagdzeiten neu an Fahrt.

In einer Reportage über das Rotwild-Management auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr thematisiert Hans Schuh in der ZEIT im Jahr 2010 den zu hohen Jagddruck auf diese Tierart. Er schreibt:  „Obwohl es in Europa mehr Rothirsche gibt als Elefanten in Afrika, sehen wir unsere größten Wildtiere nur, wenn sie tot am Straßenrand liegen oder als Braten auf dem Tisch. Warum verstecken sie sich im Wald und wagen sich nur nachts auf die offene Flur? Andersherum gefragt: Was ist das Geheimnis des ‚deer heaven’ (gemeint ist der Truppenübungsplatz Grafenwöhr) – was macht einen Schießplatz fürs Rotwild zum ‚Himmel’, und wie ließe sich die Panik der Tiere in unserer Nähe lindern?“ Zu wenig ungestörtes Offenland, zu hoher Jagddruck, zu lange Jagdzeiten, argumentiert der ZEIT-Redakteur.

Die Jagdzeiten sind zwar bis heute noch nicht kürzer geworden,
aber die Darbietung des Wald-Wild-Themas in den Medien hat sich gründlich gewandelt. Der Hirsch als mythisches Edelwild ist kaum noch ein Thema, aber er wird auch nicht mehr als Waldschädling verteufelt. Stattdessen erscheint er in journalistischen Texten und Filmen als Bestandteil der europäischen Landschaft, der durch falsche Jagdausübung ein Gefangener des Waldes geworden ist. Im Sommer 2010 stellt Eckhard Fuhr in der WELT den „Hirsch als Bioingenieur“ vor. Er beschreibt in seinem Text die Landschafts gestaltende Wirkung der Rothirsche, die durch Verbiss und das Verbreiten von Pflanzensamen in Fell und Kot artenreiche Biotope schaffen. „Warum nur,“ fragt er, „gilt das, was frei lebende Schalenwildarten wie Reh, Wildschwein oder Gämse in der Landschaft tun, zunächst einmal als ‚Schaden’ und nicht als selbstverständlicher Teil des Naturgeschehens.“ Fuhr kritisiert die taktischen Tricks in der Sprache von Forst- und Jagdlobby: „Die Kombattanten beanspruchen jeder für sich die höhere Moral der Ökologie, obwohl Ökologie mit Moral nichts zu tun hat. Aber wer sein Anliegen als ‚ökologisch’ ausgeben kann, gewinnt in der Öffentlichkeit.“ Der Artikel endet mit den Worten: „Ein Paradigmenwechsel ist längst überfällig. So viel müssen uns Hirsche schon wert sein, denn dass sie mehr sind als Trophäenträger und Rindenfresser ist längst unstrittig.“

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Laut Hegel schreitet die Weltgeschichte nach dem Prinzip von These und Antithese voran. Liest man die Medien zum Thema „Rothirsch“ gewinnt man den Eindruck, dass auch die Jagd- und Forstgeschichte sich auf diese Weise weiterentwickelt. Der einen geistigen Strömung folgt die nächste, die ihr entgegengesetzt ist. Darauf folgt die Synthese, die das Beste beider Schulen in sich vereint, und damit die Erkenntnis auf eine nächst höhere Stufe stellt. So stellt sich Hegel den Fortschritt vor. Ich weiß nicht ob er mit seiner Dialektik als Welterklärer taugt. Doch in der Wald-Wild-Debatte ist ein Dreischritt der zum Fortschritt führt, deutlich erkennbar. Freuen wir uns darüber.


Allen, die mehr über das Thema wissen möchten, empfehle ich zwei meiner Filme:

„Ach du lieber Hirsch“ - ? 45 Minuten, arte und WDR, 2005.
Über die innigen Beziehungen von Menschen und Rothirschen.
Kann man bei WDR bestellen.

Und ewig sterben die Wälder?- 52 Minuten arte und BR, 2011. Die Waldsterbensangst der 80er Jahre und was daraus wurde.
Kann man hier ansehen: http://www.achgut.tv/20110801828/

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