Von Prof. Dr. Wolfgang Bock.
Ein besonders hervorstechendes Krisenphänomen des Völkerrechts ist der palästinensisch-israelische Konflikt. Um das zu verstehen, müssen wir zentrale Elemente dieses Konflikts genauer betrachten, Elemente, die gewöhnlich überhaupt nicht oder nicht genügend deutlich wahrgenommen werden.
Wirkt sich die Beantwortung völkerrechtlicher Grundfragen des palästinensisch-israelischen Konflikts auf die Entstehung, die Verfestigung oder das Fortwirken antisemitischer, antiisraelischer oder schlicht judenhassender Einstellungen aus? Der erste Anschein spricht dagegen: Das Recht und damit auch das Völkerrecht begrenzen nur den Raum möglicher politischer Praxis, bieten aber in der Regel kaum konkrete Handlungsanleitungen für die Lösung komplexer politischer Konflikte an.
Im Falle des palästinensisch-israelischen Konflikts ist die Lage aber eine andere. Das Völkerrecht unterscheidet sich diametral von staatlichen Rechtsordnungen. Es gibt keinen Gesetzgeber, daher nur Verträge und Völkergewohnheitsrecht, und es gibt praktisch kaum eine erzwingbare Durchsetzung. Ein besonders hervorstechendes Krisenphänomen des Völkerrechts ist der palästinensisch-israelische Konflikt. Um das zu verstehen, müssen wir zentrale Elemente dieses Konflikts genauer betrachten, Elemente, die gewöhnlich überhaupt nicht oder nicht genügend deutlich wahrgenommen werden.
Grundelemente der politischen Kultur der Palästinenser
Alle wesentlichen politischen Organisationen der Palästinenser (unter anderem PLO, Fatah, Hamas, Palestinian Islamic Jihad) und die von ihnen besetzten politischen Institutionen sehen den palästinensisch-israelischen Konflikt als einen existenziellen: Der gemeinsame Kampf richtet sich gegen die Existenz Israels. Es geht nicht um die Aufteilung von Territorien. Dies bestätigen auch – seit den Neunziger Jahren konstant – die Ergebnisse zuverlässiger Umfragen: Eine deutliche Mehrheit der Palästinenser befürwortet die Vernichtung Israels und erwartet sie sogar für die kommenden Jahrzehnte. Die Vernichtungsaktion von Palästinensern aus dem Gaza-Streifen vom 7. Oktober 2023 wurde laut jüngsten Umfragen von 80 Prozent der Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen vollständig begrüßt oder zumindest grundsätzlich gebilligt.
Die palästinensische Gesellschaft ist stark islamisch und konservativ geprägt. Die Kultur ist stammes-, clan- und familienorientiert. Insofern wird der Konflikt als eine Frage der Ehre dargestellt. Angebote von Geld oder ökonomischer Entwicklung ändern nichts daran. Die Mehrheit der Palästinenser – übrigens entsprechend den politischen Plänen der PLO – begrüßt einen Staat nur als eine Zwischenstufe in dem tödlichen Kampf gegen Israel. Gesetzlich verankert zahlt die Palästinensische Autonomiebehörde an jeden Palästinenser, der einen Israeli angreift oder tötet, eine sehr erhebliche Prämie. Wird ein Terrorist in Israel zu mehr als zehn Jahren Gefängnis verurteilt, so hat er Anspruch auf eine Beamtenstelle. Die Terrorprämien übersteigen in der Regel die normalen Gehälter von Palästinensern.
Das politische Umfeld Israels
Ein kurzer Blick auf die Struktur und die politischen Kräfte im Nahen und Mittleren Osten sowie in Nordafrika – der MENA-Region – zeigt die erheblichen Bedrohungen für Israel: Im militärisch-politischen Kampf um Vorherrschaft in der Region setzt die theokratisch-schiitische Diktatur im Iran auf die Zerstörung von Staaten durch verbündete Gruppen, seien das terroristische Gruppen wie die Hisbollah im Libanon und Hamas sowie Palestinian Islamic Jihad im Gaza-Streifen, iranisch gesteuerte Milizen in Syrien und im Irak oder die Huthis im Jemen. Das in der nächsten Zeit angestrebte und erreichbare Endziel ist eine iranische Atombombe, um sich unangreifbar zu machen. Zu den iranischen Verbündeten zählen zurzeit Russland, China und Syrien. Extremistische sunnitische Organisation wie die Muslimbruderschaft, unterstützt durch die Türkei und Katar, versuchen Staaten friedlich durch Wahlen oder auf dem Wege der Gewalt zu übernehmen. Für letzteres stehen IS, Al-Qaida und ähnliche Gruppen.
Gegen dieses Lager mit überwiegend extremistisch-islamischen Orientierungen steht die Gruppe der Staaten, die auf der Grundlage konservativ-erhaltender Programme politischen und wirtschaftlichen Fortschritt anstreben: Israel, Ägypten, die weiteren Golf-Staaten samt Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko. Die Abraham-Abkommen ermöglichen Normalisierung und feste politische, ökonomische und kulturelle Verbindungen mit Israel. Ein grundlegender politischer Wandel wird erst möglich, wenn die iranische Theokratie zusammenbricht. Jordanien muss in diesem Lager gehalten werden. Ein islamistisches Jordanien würde politisches Verderben in die Region bringen.
Die politischen und völkerrechtlichen Positionen Deutschlands und der EU
Motiviert durch die arabische Erpressung mit Öl im Jahr 1973 sprechen die EU und Deutschland erstens den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat in der Westbank, in Ostjerusalem und im Gaza-Streifen zu. Zweitens halte Israel diese Gebiete besetzt, es habe dort keine Souveränität. So explizit die Erklärung von Venedig 1980.
Ansteigend seit etwa 2005 zahlt die EU jährlich zwischen 700 Millionen und 1 Milliarde Euro an die Palästinensische Autonomiebehörde und andere palästinensische Einrichtungen. Man fördere so die Bildung eines palästinensischen Staates. Das Beispiel der Polizeiförderung zeigt keine nennenswerten Erfolge für die palästinensische Gesellschaft. Hinzukommen noch etwa 500 Millionen von einzelnen Staaten Europas. Die Zahlungen werden nicht davon abhängig gemacht, dass die totalitäre Verhetzung der Kinder und Jugendlichen oder die Terrorrenten gestoppt werden.
Darüber hinaus behaupten Deutschland und die EU in völliger Missachtung geltenden Rechts, das in den Oslo-Vereinbarungen israelischer Verwaltung unterstellte Gebiet C – die PA regiert weitgehend autonom in den Gebieten A und B – gehöre rechtlich den Palästinensern. Die EU unterstützt seit 2012 die illegale palästinensische Besiedlung des Gebiets C in Form der Errichtung von Gebäuden und der koordinierten Bereitstellung von Infrastrukturen: Schulgebäude, Elektroversorgung, Straßen, Wasserversorgung. Das sind pro Jahr Millionen Euros, die in die Errichtung von etwa 90.000 illegalen Bauwerken geflossen sind. Die genauen Einzelheiten werden unter der Decke gehalten. Die UNRWA, zuständig für palästinensische Flüchtlinge, betreibt unter anderem viele Schulen. 80 Prozent der Lehrer, deren Gehälter von der UNRWA aus UN-Mitteln bezahlt werden, stehen auf Seiten der Hamas. In den Schulen und Kindergärten der UNRWA lagert die Hamas Waffen und Raketen.
Die Instrumentalisierung des Völkerrechts gegen Israel
Die zwei angeführten, von der EU und Deutschland aufgestellten Behauptungen sind völkerrechtlich – freundlich gesprochen – äußerst problematisch.
Die Balfour-Deklaration 1917 – zuvor abgestimmt mit den wesentlichen Alliierten des 1. Weltkriegs –, die Konferenz von San Remo 1920 und das Palästina-Mandat des Völkerbunds 1922 sprechen allein dem jüdischen Volk das politische Recht zu, im gesamten Mandatsgebiet eine nationale Heimstatt und damit einen Staat zu gründen. Entsprechend wird unter Zustimmung der UNO und gleichzeitiger Verweigerung der Araber 1948 rechtlich gültig nur ein Staat, nämlich der jüdische Staat Israel, gegründet und sofort anerkannt. Nach dem im Völkerrecht unstreitig anerkannten Prinzip „uti iure possidetis“ wurden die 1948 bestehenden Grenzen des Mandatsgebiets rechtlich die Grenzen des Staates Israel, auch wenn vorerst die Westbank, Ostjerusalem und Gaza widerrechtlich von arabischen Staaten besetzt wurden.
Diese Gebiete rang Israel in dem Defensivkrieg von 1967 den illegalen Besatzungsmächten Jordanien und Ägypten ab. All das führt zu einer notwendigen rechtlichen Konsequenz: Israel stehen entweder die alleinigen Souveränitätsrechte über die Gebiete zu oder es hat bessere Rechte als jeder andere mögliche Mitbewerber. Wie kann man von besetzten Gebieten und von Israel als einer illegalen Besatzungsmacht sprechen, wenn es völkerrechtlich keinen anderen Staat gibt, der Souveränität über diese Gebiete ausüben darf? Weder die erste noch die zweite völkerrechtliche Behauptung der EU sind aufrechtzuerhalten. Sie zeichnen sich aus durch eine politisch motivierte, brennende Einseitigkeit.
Seit 1948 und erst recht seit 1967 möchte Israel den Konflikt durch Verhandlungen lösen, aber die Araber, die sich seit etwa 1967 als Palästinenser bezeichnen und behaupten, eine Befreiungsbewegung zur Befreiung von ganz Palästina – natürlich vom Staat Israel – zu sein, haben selbst für sie beste Lösungen immer abgelehnt, weil sie die Existenz Israels ablehnen.
Haben die Palästinenser ein Recht auf einen eigenen Staat? Die Palästinenser können sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Völkerrechtlich beinhaltet dieses Recht aber nur ein Recht auf Autonomie, also eine gewisse Art von politischer, kultureller und wirtschaftlicher Selbstverwaltung, nicht hingegen ein Recht auf Staatlichkeit. Ansonsten hätten wir in vielen Teilen der Welt rechtliche, politische und oft gewaltsame Kämpfe um die Entstehung neuer Staaten durch Abspaltung. Ebendies soll das Völkerrecht verhindern oder einhegen. Rechtlich könnte ein palästinensischer Staat aus Verhandlungen der arabisch-palästinensischen Seite mit dem Staat Israel entstehen, wenn die palästinensische Seite Israel auf Dauer anerkennen würde. Daran fehlt es weiterhin. Niemand wird jemanden einladen, sein Nachbar zu werden, wenn dieser erklärt, er werde ihn bei nächster Gelegenheit überfallen und ausrauben.
Das Völkerrecht und internationale Institutionen werden auf vielfache Weise missbraucht, um Israel zu beschuldigen, herabzusetzen und zum Paria zu machen: Das gilt für nahezu jeden Schritt der Verteidigung gegen terroristische Angriffe. Kurz zu zentralen Vorwürfen: Wenn sich die Hamas hinter zivilen Einrichtungen versteckt, werden diese Einrichtungen dadurch von der Hamas auf strafbare Weise zu legitimen Zielen der Kriegsführung. Die IDF ist nach dem Urteil anerkannter Experten die westliche Armee, die sich mehr als jede andere und weit mehr als rechtlich vorgeschrieben darum kümmert, Zivilisten zu schonen. Der Vorwurf des Genozids ist eine Fortsetzung der schon im Mittelalter üblichen Verleumdungen aus Judenhass.
Ergebnis und weitere Perspektiven
Israel hält sich sehr weitgehend in mustergültiger Weise an das Völkerrecht. Das Völkerrecht wird von der EU, Deutschland und einer Vielzahl von Regierungen – nicht zuletzt von der UNO und ihren Einrichtungen – verdreht und als Kampfwaffe gegen Israel missbraucht. Dies sollten aufgeklärte Politiker, Juristen und Menschen, die den Werten der gerade in Europa und im Westen entstandenen Kultur verpflichtet sind, und damit: wir alle, verhindern.
Die Politik der EU, aber auch Deutschlands hat dazu beigetragen, dass sich unter den Palästinensern eine extremistische, terroristische, israelfeindliche und judenhassende Kultur der Gewalt etablieren konnte.
Die Ziele für die Bevölkerung von Gaza und der Westbank sollten lauten:
- Keine Errichtung eines palästinensischen Staates, solange sich die dort herrschende Kultur nicht um 180° gedreht hat.
- Deradikalisierung der palästinensischen Kultur, Gesellschaft und Führungsschichten.
- Keine Finanzierung korrupter und radikalisierter palästinensischer Einrichtungen und Organisationen, insbesondere solange Terrorrenten gezahlt werden.
- Abhängigkeit möglicher Hilfszahlungen an Palästinenser von wirklichen und überprüfbaren Schritten in Richtung Rechtsstaat, gleichen Bürgerrechten und Menschenrechten für alle, auch für Juden und Christen, und in Richtung Normalisierung mit Israel entsprechend dem Beispiel der Abraham-Abkommen. Dazu gehören auch eine wirksame parlamentarische Kontrolle und verantwortliche Prüfung dieser Ausgaben und ihrer Effekte.
- Keine illegalen Bauten der EU im Gebiet C.
- Israels Rechte in der Westbank sind bis zu einer künftigen Vereinbarung zu respektieren.
Israel kann völkerrechtlich und politisch legitim darauf bestehen, nur eine gewisse politische Autonomie der Palästinenser anzuerkennen und ihnen keine Staatlichkeit einzuräumen, solange sie ihre permanente Anerkennung des Staates Israel nicht glaubhaft machen können. Israels Recht auf sichere Grenzen im Rahmen des gesamten Mandatsgebiets ungeachtet künftiger Vereinbarungen mit den Palästinensern sollte respektiert werden.
Prof. Dr. Wolfgang Bock, Richter a.D. am Landgericht Frankfurt/M. und am VG Wiesbaden, Professor für öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsgeschichte an der Universität Gießen, 2012 bis 2017 Referent für Völkerrecht und Verfassungsrecht an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin, Veröffentlichungen unter anderem zum Nahen Osten und zum Islam.
Der Vortrag wurde am 08.12.2023 auf der Konferenz „Antisemitismus in der islamischen Welt und in Deutschland“ des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam in Frankfurt am Main gehalten.