Auf die Bildung kommt es an. Ja! Aber das Bildungsniveau sinkt, und die Zahl der Kinder, die Probleme mit Lesen, Schreiben und Rechnen haben, steigt. Für eine Industrienation kann das verheerende Folgen haben.
Vor einigen Tagen stieg ich morgens um elf Uhr am Bahnhof Zoo aus der U-Bahn-Station ans Tageslicht, um über den Breitscheidplatz zum Kurfürstendamm zu gehen. Mein Blick traf durch eine Fensterfront auf mir unbekannte Automodelle. Das dort lange angesiedelte Schuhgeschäft war verschwunden, der Berliner Flagship-Store von Görtz war der Einzelhandelskrise zum Opfer gefallen. Ich trat näher, das Kind im Manne wurde wach. Ein freundlicher junger Mann erspähte mich durch die Panoramascheibe, eilte hinaus, und unversehens saß ich im ET7, dem Spitzenmodell des chinesischen Autoproduzenten NIO, auch die anderen beiden ausgestellten Modelle, SUV und Mittelklasse, probierte ich aus. Verarbeitung vom Feinsten, und durch das Batteriewechselkonzept des Herstellers schien auch das Ladeproblem lösbar. Die Leasing-Konditionen mit Servicepaket waren sehr ansprechend.
Ich hatte mir ja fest vorgenommen, unseren zehn Jahre alten dieselgetriebenen BMW-SUV noch für zehn Jahre weiterzufahren. Bei 6 ½ Liter-Verbrauch ist der Betrieb auch dann noch günstig, wenn künftig steigende CO2-Abgaben den Liter-Preis auf drei Euro treiben. Und 900 km Reichweite – ohne Tankpause von Berlin nach Zürich – sind auch nicht zu verachten.
Als ich den NIO-Showroom verließ, war mir gleichwohl klar geworden, wie schwer es die deutsche Autoindustrie künftig haben wird: Ohne Verbrennungsmotor hat sie keinen technischen Vorsprung mehr. Der Schwerpunkt der Wertschöpfung verlagert sich in Richtung Batterie und Elektronik, also dahin, wo China und die USA besonders stark sind: Wird es den deutschen Autoherstellern so ergehen wie den britischen vor sechzig Jahren?
Der Standort wackelt
Und es ist ja nicht das einzige Problemfeld: In der Kernenergie hat sich Deutschland, einst weltweit führend, selbst aus dem Spiel genommen. In der Grundstoffindustrie und bei allen energieintensiven Produktionen fehlt es zunehmend an sicher verfügbarer preisgünstiger Energie, der Standort wackelt. Die Gentechnik hat Deutschland bereits seit Jahren weitgehend aus dem Lande verjagt. Kann die deutsche mittelständische Industrie, können die vielgerühmten „Hidden Champions“ das alles auf die Dauer ausgleichen?
Die Optimisten setzen ungebrochenes Vertrauen in deutschen Einfallsreichtum und deutschen Tüftlergeist, und auch ich möchte das gerne glauben. Schön und anheimelnd ist die Idee, dass der wichtigste natürliche nachwachsende Rohstoff für die deutsche Wirtschaft die geistigen Gaben der Kinder und Jugendlichen sind, die in unseren Kindergärten und Schulen heranwachsen und sodann an den deutschen Universitäten auf internationales Höchstniveau getrimmt werden. Da macht es auch nichts, dass mittlerweile 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben, während der Anteil der „Bio-Deutschen“ fortlaufend sinkt. Entscheidend ist doch nicht die ethnische Herkunft, sondern die Bildungsleistung!
Richtig, die Bildungsleistung ist entscheidend, und an genau diesem Punkt sollten die Alarmsirenen schrillen, wenn man sich aktuelle Erkenntnisse zu ihrer Entwicklung anschaut. Aus PISA 2018 ergibt sich, dass in den Ländern Ostasiens der Anteil der Schüler mit Spitzenleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften rund dreimal so hoch liegt wie in Deutschland.
Es fehlt an elementaren Voraussetzungen
Kürzlich machte die Meldung die Runde, dass an einer Grundschule in Ludwigshafen ein Drittel der Kinder das erste Schuljahr wiederholen muss, weil es an elementaren Voraussetzungen fehlt. Dabei sind unter den Ursachen sozialer Hintergrund, ethnische Herkunft und Migrationsgeschichte untrennbar miteinander vermischt. Als skandalträchtiger Einzelfall ist dies aber quasi nur die Spitze des Eisbergs.
Für 2021 ergab die im Auftrag der Kultusminister durchgeführte IQB-Länderstudie über die Leistungen der Schüler im vierten Schuljahr, dass bundesweit in Mathematik nur noch jedes zweite Kind die Anforderungen bewältigt, die dem Regelstandard entsprechen, und jedes fünfte Kind selbst die Mindeststandards verfehlt. Das sind doppelt so viele wie 10 Jahre zuvor. Auch die Spitzenleistungen sinken: 2011 erreichte noch jedes sechste Kind den Optimalstandard. 2020 war es nur jedes zehnte Kind.
Gerade der Rückgang der Spitzenleistungen, auf die Deutschland als rohstoffarmes Land vor allem angewiesen ist, ist besonders dramatisch. Ähnlich verheerend war die Entwicklung der Leistungen in Lesen und Rechtschreibung. Von dieser negativen Tendenz bleibt kein deutsches Bundesland verschont, auch wenn die Leistungen in Bayern und Sachsen deutlich über, in Nordrhein-Westfalen, Berlin und Brandenburg deutlich unter dem Durchschnitt liegen.
2010 hatte ich in Deutschland schafft sich ab die Ursachen für den Verfall der Bildungsleistung analysiert und die weitere Fortsetzung dieses Negativtrends prognostiziert. Es kam tatsächlich noch schlimmer, als ich es vorhergesagt hatte, und dies wird durch die aktuellen Studien quasi amtlich bestätigt.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche