Von Sabine Drewes.
Ich möchte vorausschicken, dass ich im freien Teil Deutschlands geboren und aufgewachsen bin, als Deutschland noch geteilt war. Ich möchte vorausschicken, dass ich damals alt genug war, um die Brutalität der Teilung noch bewusst mitzuerleben, bevor die Mauer fiel.
Der Beitrag von Arnold Vaatz hier auf der Achse hat mir keine Ruhe gegeben. Er hat mir einmal mehr gezeigt: Es ist offenbar noch immer nicht selbstverständlich, dass Deutsche in Ost und West einander verstehen. Dies ist ein Armutszeugnis vorrangig für unsere Politiker (und weniger für die Bürger selbst), die das Zusammenwachsen unseres Landes viel zu lange entweder unter rein wirtschaftliche Betrachtungen („Angleichung der Lebensverhältnisse“) gestellt oder es als Anbiederung an die SED-Nachfolger missverstanden haben.
Heute wird die Diskussion durch Aufforderungen an die „schon länger hier Lebenden“, die doch bitte die „noch nicht so lange hier Lebenden“ alle freudig begrüßen und akzeptieren sollten, komplett überlagert. Der mutige Freiheitskampf, der 1989 vollendete, was 1953 begann und schließlich 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führte, er wird schon lange nicht mehr thematisiert. Das ist schwer verständlich in einem Land, das lange damit haderte, nie eine „richtige Revolution“ gehabt zu haben. Es hatte eine viel bessere, eine, die uns noch niemand so nachgemacht hat: die friedliche Revolution.
Liebe Grüne, wo blieb euer so freudiger Aufschrei?
Die Ostdeutschen spüren, wie sehr bei der Beurteilung und Verurteilung der beiden deutschen Diktaturen mit zweierlei Maß gemessen wird; sie spüren, dass man ihrem Kampf gegen ein menschenverachtendes Regime nicht die Anerkennung zollt, die sie verdient hätten, weil sich ihr Kampf gegen das vermeintlich „falsche“, das sozialistische Regime richtete. Und sie fragen sich, habt ihr Wessis euch je gefragt, wie das auf uns Ossis wirkt, die wir das SED-Regime einst ins Wanken brachten, ohne vorher zu wissen, ob wir wieder zusammenkartätscht werden, wie am 17. Juni 1953 und wie die Chinesen im Juni 1989 auf dem Tiananmen?
Und, liebe Grüne, wo blieb euer so freudiger Aufschrei, als der Westen Deutschlands im Sommer und Herbst 1989 „Menschen geschenkt bekam“? Lieber wäre es euch gewesen, hätten den Sozialismus in seinem Lauf weder Ochs noch Esel aufgehalten. Mit Erich war man in eurer Partei schließlich fast per „Du“. Es ist genau diese Selbstgefälligkeit der politischen und medialen Gutmenschen (West), die die öffentlichen Debatten fortwährend dominiert und die im Osten eine abwehrende Trotzhaltung erzeugt.
Im Leitartikel der WELT zur Erinnerung an den Fall der Mauer („Den Stolz nicht stehlen lassen“) schrieb Enno von Loewenstern am 7. November 1992 jene Schlüsselsätze, die ich hier gerne zitieren möchte, um klarzumachen, welche Lebensleistung die oft gescholtenen Ostdeutschen eingebracht haben in das geeinte Deutschland, eine Leistung, die so oft zu unrecht verkannt wird:
„Aber es ist nicht wahr, und das sollten sie endlich sagen, daß sie gar nichts eingebracht haben. Sie haben etwas eingebracht, etwas ungeheuer Wertvolles, das einzige, was unterdrückte Menschen einbringen können: ihren Freiheitswillen. Sie haben das Regime gestürzt mit dem Spruch: ‚Wir sind das Volk!‘ Sie haben dann gegen die SED und deren Freunde im Westen die Wiedervereinigung durchgesetzt: ‚Wir sind ein Volk!‘ Sie haben einer satten Anpassergeneration im Westen gezeigt, was Mut ist. Das ist wichtiger als jede Unternehmerleistung, denn vor jeder Unternehmerleistung kommt der Mut, sich der Gefahr zu stellen. Wer sich gar der Lebensgefahr stellt, um der Freiheit und des Rechts willen, der darf wahrhaft stolz sein. Dieser Stolz soll ihnen nun gestohlen werden. Sie sollten ihn sich nicht stehlen lassen.“
Leipzig, Plauen, Dresden und anderswo
Man sieht: An dem seltsamen Widerwillen, diese herausragende Leistung der Ostdeutschen angemessen zu würdigen, hat sich bis heute nichts geändert. Wann haben unsere Politiker diesen mutigen Kampf für die Freiheit und Einheit Deutschlands zuletzt hervorgehoben? Wann hat zuletzt in der WELT ein auch nur annähernd vergleichbarer Leitartikel mit Aussagen wie oben gestanden? Wann wurde zuletzt daran erinnert, dass die ersten Widerstände gegen jenes menschenverachtende Regime von Sachsen ausgingen? Von den Menschen in Leipzig, Plauen, Dresden und anderswo?
Liebe WELT-Redakteure, es sollte für Sie ein leichtes sein, in Ihr eigenes Archiv abzusteigen, um zu erkennen: Es ist in höchstem Maße widerwärtig, die Sachsen ganz pauschal in den braunen Sumpf zu ziehen. Nicht wenige von Ihnen sind stolze Achtundsechziger und bilden sich gehörig etwas darauf ein, die Bundesrepublik überhaupt erst zu einem annehmbaren Staat gemacht zu haben, obwohl Sie Ihre Freiheit – ja auch: Narrenfreiheit! – niemand anderem als Konrad Adenauer und den Amerikanern verdanken.
Aber Ihren Landsleuten im Osten versagen Sie jede Anerkennung, weil Sie sich 1989 auf falschem Fuß erwischt fühlen mussten, wie auch das Gros einer politischen Klasse, die seit zwanzig Jahren immer mehr nach links gedriftet ist. Das geht so weit, dass linksextreme Gewalt und Gewaltaufrufe ganz pauschal „gegen rechts“ offenbar okay sind, so wie jener unsägliche Text einer Musikband, die zu recht längst geächtet worden wäre, wäre ihr Text gegen Ausländer gerichtet. Aber den Sachsen im allgemeinen und den Chemnitzern im besonderen kann man das ruhig zumuten? Noch dazu, wo es die behaupteten Hetzjagden, die unterstellten Pogrome gar nicht gab? Wo ein Verfassungsschutz-Präsident nur deshalb gehen muss, weil er es gewagt hatte, darauf hinzuweisen und der Regierung zu widersprechen? Wird sonst nicht immer genau das verlangt: statt Duckmäusertum und blindem Kadavergehorsam Zivilcourage und Mut zu zeigen? Oder gilt das nur und ausschließlich „gegen rechts“? Dann aber wird der antitotalitäre Konsens endgültig aufgekündigt.
Niemand hat die Hamburger beschimpft
Es wäre naiv zu glauben, dass all diese Vorgänge nicht auch im Osten der Republik aufmerksam registriert werden. Die Menschen merken, dass es offenbar einen gravierenden Unterschied macht, ob links- oder rechtsextremer Mob durch die Straßen zieht. Niemand hat die Hamburger pauschal wegen des tatsächlichen Kontrollverlustes des Staates während des G20-Gipfels mit den Gewalttätern in einen Topf geworfen. Sie dürfen sich, das zeigt ein Blick nach Sachsen, glücklich schätzen, unbehelligt geblieben zu sein. Niemand hat die Hamburger beschimpft, niemand tut es heute.
In dieser Situation soll nun ein Land, das seine innere Einheit noch nicht gefunden hat, Millionen Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen mit uns völlig fremden Sitten und Bräuchen geräuschlos integrieren können („Wir schaffen das!“), welche oft genug mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kollidieren? Das ist schlimmer als ein Verbrechen: Es ist unrealistisch.
Trotzdem läuft jeder, der sich auf unsere gemeinsamen westlichen Werte und Grundüberzeugungen oder gar auf genuin deutsche Interessen und Traditionen beruft, heute automatisch Gefahr, in die äußerste rechte Ecke katapultiert zu werden. Das geht so weit, dass inzwischen selbst der Ehrentag der Deutschen, der 3. Oktober, ganz offiziell zu einem Tag der „Bunten Republik Deutschland“ ausgerufen wird.
Es geht nicht mehr darum, an das Leid der über vierzigjährigen Teilung, an die Schrecken der SED-Diktatur zu erinnern und an das große Glück, das uns Deutschen mit der friedlichen Revolution, dem Zusammenbruch eines menschenverachtenden Regimes und mit der Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit beschieden war. Das ist eine tiefe Verletzung der Gefühle aller Bundesbürger, die Deutschland nach 1945 und 1990 wiederaufgebaut haben; es waren Deutsche, keine Gastarbeiter, wie Steinmeier uns belehren wollte. Es waren Deutsche in Ost und West, die ihr Land nach 1989 in eine bessere Zukunft führten, in der ein Teilvolk nicht länger der politischen Willkür ausgesetzt war. An die Stelle der Willkür wurde auch hier der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat gesetzt, mit allen seinen Stärken und Schwächen. Denn auch der Rechtsstaat ist Menschenwerk und nicht unfehlbar.
Tag der deutschen Selbstzerfledderung
Es schmerzt ungemein, wenn der 3. Oktober von unseren politischen Repräsentanten vor allem als ein Tag der deutschen Selbstzerfledderung missbraucht wird. Dabei sollte dieser Tag ursprünglich ein Tag der deutschen Einigkeit und Freude werden, ein Tag, der dem Volk gehört und der ungetrübten Feier seines Glücks. So richtig warm aber wurden die Deutschen mit diesem Tag nie. Ihre Politiker, allen voran ihre Bundespräsidenten, haben es ihnen auch nicht leicht gemacht.
Eine Strahlkraft in Richtung geistigen Zusammenwachsens der Deutschen ging von keinem unserer Präsidenten aus. Wen wundert es da, wenn der 3. Oktober vielen Deutschen zwar als ein willkommener freier Tag, aber weniger als ein Feiertag erscheint? Das erinnert an einen anderen Tag, der im Westen einst ein offizieller, im Osten ein heimlicher Feiertag war: der 17. Juni. Wie verlogen ist es eigentlich, die Sternstunden unserer Geschichte in den Dreck zu ziehen und uns nur an unseren Abgründen zu ergötzen? Auch Steinmeier macht keinen Hehl daraus, seine präsidiale Rolle vor allem darin zu sehen, vom hohen moralischen Ross herab über sein Volk zu richten.
Arnold Vaatz hat recht, wenn er den deutschen Selbsthass beklagt: Er hindert uns daran, die Wiedervereinigung Deutschlands wirklich als einen echten Glücksfall zu erkennen und zu feiern, er hindert uns daran, das Selbstvertrauen zu entwickeln, das wir dringend brauchen, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Selbsthass ist ausnahmslos destruktiv und kann deshalb auch keine Antwort auf jenes unglückselige Kapitel unserer Geschichte sein. Leute, etwas mehr Selbstachtung, bitte! Wir haben allen Grund dazu.
Wir haben im Westen Deutschlands seit 1949 mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung das beste Staatswesen geschaffen, das wir jemals auf deutschem Boden hatten, und die seit 1990 auch für alle deutschen Länder zwischen Elbe und Oder gilt. Es waren die Menschen, die dies in ihrer überwältigenden Mehrheit so wollten, und es war – längst vergessen – die DSU, die am 17. Juni 1990 jenen Antrag in der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer zum „sofortigen Beitritt der DDR“ zur Bundesrepublik Deutschland stellte. Am Ende wurde der fast vergessene Artikel 23 des Grundgesetzes dann tatsächlich genutzt, um, wie es in der Präambel hieß, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“.
Dass sich dieses Geschehen nach außen hin erstaunlich reibungslos abspielte, das verdanken wir einer seltenen politischen Glanzleistung, die der damaligen Bundesregierung und der amerikanischen Administration gelang. Wie wenig selbstverständlich das war, das zeigt uns das Agieren der jetzigen Bundesregierung, die deutsche Interessen oft genug hintenanstellt. Dieses im Nachhinein schwer fassbare Glück herauszustellen, das wir 1989/90 hatten, das Gemeinsame zu betonen, sowie auf das Erreichte stolz sein zu dürfen, täte zur deutschen Selbstvergewisserung dringend not. Wenn wir uns nicht einmal am 3. Oktober mit leisem Stolz daran erinnern dürfen, wann dann? Wenn nicht einmal dieser Tag vor allem uns Deutschen gehören darf, welcher dann?
Wir Deutschen sollten uns die Freude und den leisen Stolz über die Einheit Deutschlands in Freiheit nicht stehlen lassen. Schon gar nicht von den Schamlosen jeglicher Couleur. Wir dürfen stolz auf ein gesamtdeutsches Werk sein, das 1989 mit dem mutigen Aufbegehren unserer Landsleute östlich der Elbe seinen Anfang nahm und mit Hilfe der Bundesregierung unter Helmut Kohl und der amerikanische Regierung unter George Bush sen. 1990 zur Vollendung der Einheit Deutschlands in Freiheit führte. Wir dürfen dankbar sein, nach einer über vierzigjährigen brutalen Teilung unseres Landes die Chance erhalten zu haben, wieder ein geeintes Land zu sein. Nutzen wir sie endlich. Hören wir endlich einander zu, nur dann werden wir einander auch verstehen. Und nur dann haben wir überhaupt eine reelle Chance, die anstehenden Probleme zu bewältigen.
Sabine Drewes beschäftigt sich seit Ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.