„Zwei Dinge bedrohen die Welt: Die Ordnung und die Unordnung.“ Diese tiefe Erkenntnis des französischen Philosophen Paul Valéry (1871-1945) mag dem klarsichtigen Beobachter einleuchten. In der politischen Praxis wird sie jedoch nicht beachtet. Im Gegenteil: Hier ist man offenbar der Meinung, dass die Unordnung die eigentliche Bedrohung darstellt. Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass bei den Brexit-Verhandlungen „beinahe 21.000 EU-Regeln“ diskutiert werden mussten. Und der Verfassungsrechtler Prof. Dr. Ulrich Karpen äußerte im Welt-Interview am 9. Mai 2005 angesichts von rund 150.000 Einzelvorschriften, die einen Deutschen derzeit binden:
„Der Gedanke, ein Bürger könne aufgrund der Kenntnis all dieser Gesetze rechtstreu sein, ist eine reine Fiktion. Ob der Bürger will oder nicht: Er kann gar nicht in Gänze rechtstreu sein. Ich sehe sogar die Gefahr, daß der Rechtsstaat an der Fülle seiner eigenen Gesetze ersticken könnte.“
Das Bundesverfassungsgericht betonte in seinem sogenannten Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 (Randnummer 224) wiederholt das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit und begründet dies wie folgt:
„Der Bürger muß aus der gesetzlichen Regelung klar erkennen können, daß seine Daten nicht allein zu statistischen Zwecken verwendet werden, für welche konkreten Zwecke des Verwaltungsvollzugs seine personenbezogenen Daten bestimmt und erforderlich sind und daß ihre Verwendung unter Schutz gegen Selbstbezichtigungen auf diesen Zweck begrenzt bleibt.“
Volle Bäuche, leere Köpfe?
Der Bürger, den das Bundesverfassungsgericht hier vor Augen hat, ist jedoch ein reines Phantasieprodukt. Denn selbst Volljuristen ohne Spezialkenntnisse ist es völlig unmöglich, den Inhalt zahlreicher den Bürger bindenden Rechtsvorschriften zu verstehen. Wer’s nicht glaubt, der werfe gelegentlich mal einen Blick in das aktuelle Bundesgesetzblatt oder in die gültigen Steuer- und Rentengesetze (Warnhinweis: Auf eigene Gefahr!). Das müsste an sich jeden denkenden Menschen auf die Palme bringen. Doch Politiker handeln nach dem Grundsatz des chinesischen Philosophen Laotse (6., 4. oder 3. Jahrhundert vor Christus):
„Ein weiser Politiker sorgt dafür, dass die Bäuche der Menschen voll sind und die Köpfe leer.“
Zwar werden Politiker jedweder Couleur und Statur nicht müde, die allgegenwärtige Bürokratie zu beklagen und deren Abbau zu fordern. Vor der nächsten Wahl aber präsentieren sie stolz die Liste der Gesetzentwürfe, die sie in der vergangenen Legislaturperiode eingebracht haben. Ein anderer Franzose, der Romancier Honoré de Balzac (1799-1850), hat das so formuliert:
„Die Bürokratie ist ein gigantischer Mechanismus, der von Zwergen bedient wird.“
Gleichwohl hat der seinerzeitige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel, auf die Frage „Wollen oder können die Politiker den Gordischen Knoten der Überbürokratisierung nicht durchhauen?", ohne mit der Wimper zu zucken, geantwortet: „Wir wollen und wir können!"
Zwerge sind nicht gut für's Rückgrat
Wir erinnern uns: „Der Ausdruck Gordischer Knoten bezeichnet ursprünglich kunstvoll verknotete Seile, die einer griechischen Sage nach am Streitwagen des phrygischen Königs Gordios befestigt waren. Sie verbanden die Deichsel des Wagens untrennbar mit dem Zugjoch.“ (Wikipedia) Der Sage nach prophezeite ein Orakel, dass derjenige die Herrschaft über Asien erringen werde, der den Gordischen Knoten lösen könne. Viele kluge und starke Männer versuchten sich an dieser Aufgabe, aber keinem gelang es. Bis Alexander der Große (356-323 v. Chr.) ihn einfach mit dem Schwert durchschlug.
Mich erinnert die wuchernde Bürokratie dagegen eher an den Stall des griechischen Sagenkönigs Augias, in dem 3.000 Rinder standen und der schon seit 30 Jahren nicht mehr gereinigt worden war, so dass das Ausmisten als undurchführbar galt. Herkules erledigte die Aufgabe, indem er das Wasser der Flüsse Alpheios und Peneios durch den Stall leitete und so den gesamten Mist hinweg spülte. Doch Herkules war ein Halbgott und zudem eine Sagengestalt. Und ein Alexander ist weit und breit nicht in Sicht. Vielmehr gilt die Erkenntnis des polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec (1909-1966):
„Der Umgang mit Zwergen krümmt das Rückgrat.“
Bleibt als Trost nur dieser Gedanke des deutsch-israelischen Journalisten und Religionswissenschaftlers Schalom Ben-Chorin (1913-1999, der Name bedeutet übrigens „Frieden, Sohn der Freiheit“):
„Würde ich alles und mich selbst immer ernst nehmen, so müsste ich an der Welt und an mir verzweifeln. Es gibt so vieles, das näher betrachtet, eine komische Seite hat, und auch die soll man sehen.“