Es war ein historischer Tag. Ein Tag, der in keinem krasseren Gegensatz stehen konnte als zu dem Tag, an dem Bundeskanzler Helmut Schmidt eine gespenstische Reise in das vom Staatssicherheitsdienst besetzte Güstrow am 13. Dezember 1981 antrat. Ziemlich genau acht Jahre später, am 19. Dezember 1989, reiste sein Amtsnachfolger Helmut Kohl für zwei Tage in den damals noch anderen Teil Deutschlands, nach Dresden.
Die Stadt an der Elbe bereitete dem Kanzler einen begeisterten, einen geradezu triumphalen Empfang. Dazu mussten die Menschen nicht überredet werden. Es war noch bei seiner Ankunft nicht geplant, dass Kohl eine Rede vor den Dresdnern halten wird. Es sollte für ihn ursprünglich ein reines Arbeitstreffen mit dem amtierenden Ministerpräsidenten der „DDR“, Hans Modrow, werden, allenfalls verbunden mit einer Kranzniederlegung für die Opfer der Bombenangriffe in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 vor den Ruinen der Frauenkirche. Doch am Ende wird der Besuch sich als eine einschneidende Wegmarke in Richtung eines wiedervereinigten Deutschlands erweisen. Kohl habe an diesem Tag gewusst, der Weg in Richtung deutsche Einheit sei jetzt unumkehrbar, „weil die Menschen das wollen“. „Dieses Regime ist definitiv am Ende“, befand Kohl.
Schon sein Eintreffen am Flughafen, seine Fahrt in die Stadt wurden von Jubel und von „Helmut, Helmut“ und „Einheit, Einheit“-Rufen begleitet. Die Stadt versank regelrecht in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer, ganz ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Die Fahne der Bundesrepublik Deutschland symbolisierte eindrücklich, wohin die Reise nach dem Wunsch der versammelten Menschen gehen sollte. Sogar die weißgrüne Flagge des Freistaats Sachsen wurde wieder gesichtet. Auch die den Weg säumenden und später vor den Ruinen der Frauenkirche hochgehaltenen Plakate ließen nicht den geringsten Zweifel zu, was die Deutschen hier ersehnten und sich für die nahe Zukunft erhofften:
„Einigkeit und Recht und Freiheit – daß die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint“, „Deutschland einig Vaterland“, „Wiedervereinigung ins Programm, Herr Modrow!“, „Deutsche reichen sich die Hand – das ist gut für unser Land – Dresden grüßt den Kanzler“, „Bundesland [sic!] Sachsen grüßt den Bundeskanzler“, „Mit Kohl zur Einheit Deutschlands“. Ein Transparent beeindruckte den Kanzler ganz besonders. Auf ihm stand: „Unsere Heimat ist Sachsen, unser Vaterland ist Deutschland, unsere Zukunft ist ein vereintes Europa“. Immer und immer wieder riefen die Menschen „Wir sind ein Volk“, „Helmut, Helmut“, „Deutschland, Deutschland“.
Die schwierigste Rede seiner Amtszeit
Vor der öffentlichen Ansprache des Kanzlers vor den Ruinen der Frauenkirche fand eine Unterredung zwischen ihm und Modrow statt, der sich schon auf der gemeinsamen Fahrt im Auto, die teils nur im Schrittempo erfolgen konnte, sichtlich unbehaglich in seiner Haut fühlte. Die Begeisterung der Zehntausenden aus allen Schichten des Volkes, die die Straßen säumten, galt allein Helmut Kohl. Kohl zu Modrow: „Lassen Sie das jetzt mal außer acht. Wichtig ist jetzt, daß wir vernünftige Arbeit machen. Wir müssen jetzt den Hoffnungen und Erwartungen all dieser Menschen gerecht werden.“ Es wurde eine „Vertragsgemeinschaft“ vereinbart, die nach den Vorstellungen des Kanzlers über eine Konföderation zu einer Föderation führen sollte, wie er schon am 28. November vor dem Deutschen Bundestag ausgeführt hatte.
Auch die Öffnung des Brandenburger Tores in drei Tagen wurde hier in Dresden beschlossen. Kohl sicherte Finanzhilfen für die „DDR“ zu, im Gegenzug versprach Modrow die Abschaffung der Visumspflicht und des Zwangsumtausches. Auch wurde Kohl zugesichert, dass die letzten einsitzenden politischen Häftlinge noch vor Weihnachten freikommen sollten. Einer davon war Bodo Strehlow. Er wird als letzter Gefangener der berüchtigten Haftanstalt Bautzen II diese am 21. Dezember 1989 verlassen. Damit hat ein über zehn Jahre währendes unvorstellbares Martyrium ein Ende.
Seinen großen Auftritt hat Helmut Kohl am späten Nachmittag. Vor den Ruinen der Frauenkirche, so der Vorschlag des Dresdner OB Wolfgang Berghofer, würde man ihm eine provisorische Bühne errichten, von der aus er zu den Menschen reden könnte. Und so geschah es. Dies war, so Kohl, mit die schwierigste Rede seiner Amtszeit, für die er zudem keine Vorlage hatte. Er durfte die Stimmung einerseits nicht weiter anheizen und Hoffnungen machen, die sich möglicherweise nicht erfüllen könnten. Gleichzeitig aber war es wichtig, den Menschen ebendiese Hoffnungen nicht zu nehmen, die sie auf diesen Kanzler setzten. Kohl wird dieses Kunststück gelingen, und seine Zuhörer werden nicht enttäuscht werden.
„Gott segne unser deutsches Vaterland!“
Schon bevor der Kanzler das Podium betrat, war der Platz voll von Menschen und schwarz-rot-goldenen Fahnen. Mit Kohls Erscheinen und seiner Ansprache mit „Liebe Landsleute“, bei denen er sich sogleich für „dieses freundliche und freundschaftliche Willkommen“ ausdrücklich bedankte und denen er herzliche Grüße von allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland ausrichtete, brandete Jubel auf. Der Jubel wurde immer wieder unterbrochen, wenn der Kanzler zum Weiterreden ansetzte; es wurde in diesen Momenten sogar ganz still.
Kohl würdigte die Friedliche Revolution als einmalig in der Geschichte, betonte das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und dass die Deutschen in der „DDR“ über ihre Zukunft selbst befinden sollten. Es werde eine enge Zusammenarbeit auf allen Gebieten geben, damit die Lebensverhältnisse in der „DDR“ so schnell wie möglich verbessert werden und damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben und sich dort wohlfühlen und ihr Glück finden könnten, versprach der Kanzler.
Er kündigte den Menschen an, dass sie schon im kommenden Jahr freie Wahlen haben werden und sicherte ihnen Solidarität und Unterstützung auf dem schwierigen Weg in eine bessere Zukunft von der Bundesrepublik Deutschland zu. Man werde die Landsleute nicht im Stich lassen. Als der Kanzler ihnen die sich dadurch eröffenden Perspektiven aufzeigte, entstand, so Kohl, eine unbeschreibliche Begeisterung. Kohl bekannte, sein Ziel bleibe, „wenn die geschichtliche Stunde es zuläßt, die Einheit unserer Nation“, vor der sich unsere Nachbarn nicht zu fürchten bräuchten. Er erinnerte an das anstehende Weihnachtsfest, das Fest des Friedens, der Familie, der Freunde; „Gerade in diesen Tagen“, so Kohl, „empfinden wir uns in Deutschland wieder als eine deutsche Familie“. Er erinnerte auch an die vielen Bilder des freudigen Wiedersehens in den vergangenen Monaten, und er dankte allen, die diese Entwicklung möglich gemacht hatten. Von Dresden aus grüßte er „alle unsere Landsleute in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland.“ Kohl beendete seine Rede unter tosendem Applaus mit „Gott segne unser deutsches Vaterland!“
Nie erloschenes Zusammengehörigkeitsgefühl
Es war eine selten emotionale, mitreißende, und doch, wie Kohl sagte, überhaupt nicht fanatische Stimmung, eine Stimmung, die noch heute Gänsehaut erzeugt, wenn man sich die Filmaufnahmen von damals anschaut. Vor allem, wenn man bedenkt, dass dieser Jubel nicht von oben befohlen und gelenkt war und dass auch Feiern in der Bundesrepublik Deutschland niemals eine vergleichbare Atmosphäre hatten erzeugen können; und es war zugleich eine Atmosphäre, die keinerlei Aggressionen hervorrief. Vielmehr blieben die Menschen bei aller Begeisterung sehr besonnen. Kohl selbst gestand, sehr ergriffen gewesen zu sein und Mühe gehabt zu haben, seine Rede zu beenden. Die Menschen, die ihm zuhörten, ließen in ihr Herz schauen, eine unfassbare Freude war in ihre Gesichter geschrieben. Eine ältere Frau stieg nach der Rede des Kanzlers auf das Podium, umarmte Kohl, konnte ihre Tränen nicht zurückhalten und sagte mit leiser Stimme in das noch nicht ausgeschaltete Mikrofon, so dass es jeder auf dem Platz mithören konnte: „Wir alle danken Ihnen!“ Am nächsten Tag wird der Kanzler dann von einer jubelnden Menschenmenge aus Dresden verabschiedet.
Im Dezember erhält der Kanzler mehrere tausend Briefe allein aus dem östlichen Teil Deutschlands, darunter auch ein Fotoalbum eines jungen Dresdners mit Schnappschüssen von Kohls Besuch, über das der Kanzler dann auf das oben genannte Transparent aufmerksam wurde. Er bedankte sich bei dem jungen Mann für das „liebevoll gestaltete Fotoalbum“, das auch wegen der darin dokumentierten Plakate so interessant sei, denn er, Kohl, habe gar nicht die Möglichkeit gehabt, sie alle während seines Besuch zu lesen.
Jedenfalls darf man in der Begeisterung der Menschen und in den vielen Briefen getrost ein bewegendes Dokument für das nie erloschene Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen trotz der über vierzigjährigen Teilung ihres Landes sehen. Und einen Beweis dafür, dass Kohl in jenen Tagen im besten Sinne ein „Elefant im Porzellanladen“ war: Elefanten sind nämlich sehr sensible Tiere und so gar nicht das, was man mit diesem Spruch eigentlich ausdrücken will, nämlich, dass sie alles blindwütig niedertrampeln würden. Kohl hatte kein Porzellan zerschlagen. Er hatte vielmehr das Kunststück fertiggebracht, es heil durch turbulente Zeiten zu bringen, die einer hoffungsvollen Aufbruchsstimmung wichen.
Quellen:
- Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden und Erklärungen zur Deutschlandpolitik. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Februar 1990, Seite 138ff.
- Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands Einheit“, Propyläen, Berlin, 1996, Seite 213ff.
- https://www.welt.de/geschichte/article135550941/Die-wichtigste-Rede-in-der-Karriere-des-Helmut-Kohl.html