Hanau – eine Antithese

Der 10-fache Mord von Hanau ist erschütternd, schürt Angst und verlangt nach einer Erklärung für die schreckliche Bluttat. Der erste Gedanke ist naheliegend: Die Opfer sind fast ausschließlich Ausländer, der Täter veröffentlichte Videos und Schriften, in denen er davon spricht, dass bestimmte Länder ausgelöscht werden sollen und er Nicht-Weiße hasst – es muss also ein rechtsradikaler Terrorakt gewesen sein. Oder auch nicht. Seine kuriosen Verschwörungstheorien scheinen für mich kein Deckmantel zu sein, um seinen rassistischen Hass zu rechtfertigen, sie sind ein Symptom einer Krankheit.

In seinem „Bekenner-Video“ beschreibt Tobias R. Geheimverschwörungen, von denen das amerikanische Volk nichts ahnt – von unsichtbaren, geheimen Gesellschaften. Er spricht von unterirdischen militärischen Anlagen, über die der Satan selbst herrscht und in denen Kinder gefoltert und ermordet werden. Wer sich das Video ansieht, erschauert an der Härte seines Gesichts, seinem starren Blick und vor allem der absoluten Ruhe, mit der er diese völlig verrückten Theorien von sich gibt. Dieser Mann, der anscheinend wirklich davon überzeugt ist, dem amerikanischen Volk die Augen zu öffnen und zum gerechten Kampf aufruft, ist kein Hassprediger oder Terrorist. Er ist in seinem Wahn gefangen.

Ich bin kein Psychiater, aber nach sechs Jahren, in denen ich durch meine Arbeit ständig mit psychisch Kranken, ihren ärztlichen Unterlagen und ihren Geschichten konfrontiert wurde, erscheint mir das Ganze doch allzu bekannt. Er meint, als Einziger von schrecklichen Geheimverschwörungen zu wissen, und sei dazu berufen, die Welt aufzuklären. Er fühlt sich sein ganzes Leben lang von Geheimdiensten verfolgt und denkt, dass berühmte Menschen wie Donald Trump seine Ideen und Strategien gestohlen haben – das sind klassische Wahninhalte eines paranoid Schizophrenen. Ich könnte etliche ähnliche und mindestens genauso verrückte Geschichten von unseren Klienten erzählen.

Das Thema Nationalsozialismus ist außerdem häufig Inhalt der Wahnfantasien aller möglichen Psychotiker – woran das liegt? Wer weiß, wir haben uns das im Büro schon oft gefragt. Vielleicht kommt hier ein gesellschaftliches Trauma zum Ausdruck. Vielleicht liegt es auch an etwas anderem. Fest steht aber, dass sich sehr viele von ihnen entweder selbst von den Nazis verfolgt, ausgespäht und bedroht fühlen oder sich selbst für hohe Offiziere der Nationalsozialisten halten, die eine Mission zu erfüllen haben. Manche halten sich sogar für den Führer persönlich – so wie einer unserer Klienten, der seine eigene Mutter getötet hat.

Psychotische Menschen haben ein enormes Bedrohungspotenzial. Eines, das dem politisch motivierten kaum noch nachsteht und trotzdem in vielen Fällen einfach ignoriert wird. So, wie wohl auch in diesem Fall. Man sucht lieber nach einem Hassverbrechen, das sich für politische Zwecke nutzen lässt.

 

Pauline Schwarz ist Berlinerin, studiert Psychologie und arbeitet in einem Betreuungsbüro. Dieser Beitrag erschien heute auch auf Apollo News.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Karl-Heinz Vonderstein / 20.02.2020

Und wieder reflexartig sieht man die AfD für mitverantwortlich an.Die NSU-Mordserie war zwischen 2000 und 2006.Die AfD wurde 2009 gegründet und da galt sie noch nicht als rechtsextrem oder faschistisch.Will das jetzt nicht Vergleichen, aber hat man Parteien wie die Linke oder die Grünen für die Gewalt 2017 von Linksextremisten in Hamburg zum G-20 Gipfel mitverantwortlich gemacht oder macht man beide für Aktionen der Antifa mitverantwortlich?Was ja auch nicht richtig wäre.

Ulla Schneider / 20.02.2020

Hallo Frau Weider, eine Einweisung liegt nur vor, wenn eine Fremd- oder Eigengefährdung vorliegt. Schauen Sie mal nach und schauen sie auch, warum das so ist(geschichtl. Hintergrund). Hier waren aber schon offensichtlich Vorboten erkennbar und es nichts geschehen.  Das ist das Entsetzliche, aber nichts neues. Ebenso entsetzlich finde ich die Instrumentalisierung seitens der Politik. Das lässt sehr tief “blicken”. Was ist das für ein Land!

Anke Zimmermann / 20.02.2020

Kai Nissen, ich gebe ihnen uneingeschränkt Recht. Nicht zu vergessen allerdings, das unser auf Gewinn optimiertes Gesundheitswesen, also ein in der Qualität reduziertes, viele Betroffene nicht mehr kompetent behandelt. Man denke nur an den erweiterten Selbstmord eines Kopiloten. Die Zahl verzweifelter Menschen in unserer Gesellschaft wächst. Ein Kind wurde vor einen einfahrenden Zug gestossen. Verzweiflung und Zukunftsangst auf Seiten derer, die schon länger hier leben und auf Seiten der Anderen. Da brodelt viel Leid.

Christina Dr.Ziemann-Hoederath / 20.02.2020

Frau Schwarz, Sie haben gut beobachtet und klug und mutig geschrieben. Ich teile Ihre Meinung.

Peter Michel / 20.02.2020

Ich bin nicht immer Ihrer Meinung Frau Schwarz, aber diesmal haben Sie zu 100% recht. Bin schon 26 Jahre in dem Metier

Laura Renner / 20.02.2020

Hervorragender Artikel ! vor allem der Hinweis, dass die Wahnideen von Psychotikern sich im Nazismus suhlen trifft voll auf Teile der AFD zu. Das aktuelle Hassverbrechen ist auch Ergebnis der Aufforderung zur Jagd. Diese Beziehung wird leider wieder mal als Fliegenschiss linker Spinner abgetan.

Marco Stein / 20.02.2020

Ein Aspekt wir bei derartigen Vorfällen komischerweise immer ausgeblendet. In Deutschland leben ja nicht nur Migranten aus islamischen Ländern, sondern auch Migranten aus christlichen, hinduistischen, shintoistischen, budhistischen….etc. Ländern. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang nicht an einen einzigen schlimmen ausländerfeindlichen Anschlag dieser Brutalität auf zB. Japaner, Brasilianer oder Spanier, oder umgekehrt Anschläge selbiger auf Deutsche. Irgendwie scheint mir,  das solche schlimmen Anschläge immer entweder von Christen auf Muslime oder umgekehrt verübt werden. Es drängt sich die Frage auf, ob es generell um ausländische Herkunft ansich geht, oder ob die unterschiedlichen Religionen und Weltbilder von Christen und Muslimen bei solchen schlimmen Taten eine Rolle spielen.

Eleonore Weider / 20.02.2020

Der mutmaßliche Attentäter von Hanau soll sich bereits kurz nach der Jahrtausendwende mit Strafanzeigen an Verfolgungsbehörden gewandt haben. Konkret bezieht sich R. in seinem Bekennerschreiben auf Strafanzeigen aus den Jahren 2002 und 2004. Angeblicher Grund damals: „illegale Überwachung“. So die Welt. Und alle verbinden das jetzt mit der AfD - dabei sollte man sich eigentlich fragen, wie ein offensichtlich paranoider Psychopath so lange unter Anderen leben konnte, ohne eingeliefert zu werden. Ich nehme an Staatsversagen wie bei Lübke und den NSU Morden.

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