Muss man zu allem und jedem eine Meinung haben, eine Haltung einnehmen? Kann einem nicht mal etwas völlig wumpe sein? Selbst zu Hülsenfrüchten soll man sich heutzutage erklären.
Es ist einer dieser Momente, in denen man sich fragt… Aber der Reihe nach: Wir sitzen gemütlich beisammen im Freundeskreis, bestimmt sechs Leute (ich zähle nur durch, solange ich die Befürchtung habe, keinen Sitzplatz zu bekommen), als Martin sagt, er würde auch mal wieder Linseneintopf essen. Damit hätte man es dann auch bewenden lassen können und außerdem ist es mir linseneintopfegal, was Martin gerne mal wieder essen würde. Und hätte Sabine jetzt einfach die Klappe gehalten, wären wir noch Freunde. Aber nein, Sabine meinte, Hülsenfrüchte seien ja allgemein sehr nahrhaft.
Worauf der Schatz meinte, dass auch Nüsse sehr nahrhaft wären. Und dass sie gerne Nüsse isst. Und dann habe ich Depp gesagt, dass der Schatz vor allem dann gerne Nüsse isst, wenn sich eine Tafel Schokolade mit Rosinen drumherum befindet. Das hätte ich lieber bleiben lassen sollen, denn jetzt kicherte Sabine, dass der Schatz ja dann wohl keine Hülsenfrüchte möge, wenn keine Schokolade drumherum ist, ja hihi und haha. Bernd meinte, er esse gar keine Hülsenfrüchte, Schokolade hin oder her, und seine Frau, die dumme Gans, meinte, man wisse eh nicht, was in Schokolade so drin sei und Kakaobutter sei sowieso klimaschädlich, und dann ist mir rausgerutscht, dass ich mich fragen würde, ob sie alle, inklusive Schatz, einen am Helm hätten und gab damit indirekt zu verstehen, dass ich dieses Gespräch als Verschwendung meiner doch in meinem Alter limitierten Lebenszeit ansähe.
Ja, ob ich denn keine Hülsenfrüchte mögen würde. Ehrlich gesagt, gehen mir Hülsenfrüchte, wenn nicht im, dann doch quer an Magen und dem dazugehörigen Anus vorbei. Ich saß noch nie in meinen Mußestunden da und fragte mich, welche Bedeutung Linsen, Erbsen, Erdnüsse und Bohnen für mich hätten. Ich weiß, dass Hülsenfrüchte dieses Jahr der heißeste Scheiß auf der Grünen Woche waren, was für mich einmal mehr ein Grund war, die Grüne Woche nicht zu besuchen, weil ich Hülsenfrüchte gähnend langweilig finde. So what? Ich habe nichts für und nichts gegen Hülsenfrüchte, wir akzeptieren uns gegenseitig in unseren Angewohnheiten, und damit können die Hülsenfrüchte und ich gut leben. Was also soll ich dazu sagen?
Keine Haltung. Keine Meinung.
Ich sagte: „Hülsenfrüchte sind mir egal.“ „Also magst du sie nicht!“, stellte Sabine fest. „Das habe ich nicht gesagt, ich sagte, sie sind mir egal“, korrigierte ich sie. „Aber du isst sie“, meinte Martin, der Hülsenfrüchtefreund. „Ja, ich esse sie. Wenn da ein großartiger Linseneintopf steht, der nicht unbedingt mit der Unsitte eines gezuckerten Suds gemacht ist, dann esse ich ihn“, bestätigte ich ihn. „Also magst du sie doch!“, triumphierte Sabine, und ich hatte das Gefühl, mit Vollidioten am Tisch zu sitzen, ohne eine Ahnung zu haben, wie ich in diese Kreise geraten war. Ich hatte jetzt gute Lust, die dumme Sabine zu filetieren, aber wir sind ja Freunde, da macht man das nicht. „Ja, ich mag Hülsenfrüchte“, sagte ich und wechselte das Thema: „Was sagt Ihr zum Ausgang der Berlin-Wahl?“
Aber nicht mit denen da am Tisch: „Magst du jetzt Hülsenfrüchte oder nicht? Lenk jetzt nicht vom Thema ab!“, nahm mich Bernd ins Kreuzverhör, und mir platzt der Kragen: „Ich habe keine Haltung zu Hülsenfrüchten jedweder Art, ich kenne mich mit Linsen, Erbsen, Bohnen, Erdnüssen, Kichererbsen und Platterbsen und ob ihre einzelnen Klappen der Perikarps auch als Valven bezeichnet werden, nicht aus. Und ob sie einen hohen Eiweißgehalt haben, ist mir ebenso latte wie ihr Geschmack. Es ist mir egal. Keine Haltung. Keine Meinung. Es gibt in keiner aller möglichen Kombinationen in diesem und anderen Paralleluniversen irgendeine Chance, dass ich zu Hülsenfrüchten irgendeine Meinung haben könnte. Der eine mag sie, der andere nicht, der eine isst sie, der andere nicht, beides halte ich in einer funktionierenden Demokratie für einen tolerablen und achtbaren Standpunkt, Hülsenfrüchte sind mir wirklich wirklich und ehrlich, ehrlich vollkommen gleichgültig. Wir führen eine Koexistenz der gegenseitigen Nichtbeachtung, mit der wir beide gut leben können, und selbst wenn Martin gerne in Linsen badet oder mit der Gabel Jagd auf die letzte Erbse unter der Prinzessin macht, so tangiert mich dies in keinerlei Weise. Ist das nun umfassend geklärt oder braucht Ihr einen Nachschlag?“
Schweigen. Langes Schweigen. Alle sahen mich entsetzt an.
Einfach nur hier sitzen
„Man muss aber doch einmal eine Haltung haben, eine Meinung…“, fand Sabine als erste die Sprache wieder. „Nein!“, blaffte ich sie an, „…muss man nicht! Man muss eben NICHT zu allem eine Haltung und eine Meinung haben! Nicht zu allem und erst recht nicht zu Hülsenfrüchten oder dem Ausgang der Berlin-Wahl oder zu Corona oder zum Ukraine-Krieg, nicht zum Gendern, nicht zu der verkniffenen, schwarzhaarigen Tusse der Berliner Grünen, nicht zu Inklusion, der Fußballnationalfrauschaft oder dem Steuersystem von Botswana. Dazu gibt es keine Pflicht. Haltungslosigkeit ist ein Menschenrecht, erst recht, wenn ich mir nie sicher sein kann, ob mir eine der Haltungsseiten gerade faustdicke Lügen auftischt oder ich keine Chance habe, auch eine andere Meinung zu hören!“
„Na, ja“, lenkt Martin ein, „aber es gibt schon Fälle, die unstrittig sind. Beispielsweise, dass es nur zwei Geschlechter gibt…“ „Das sehen andere Menschen aber anders, ebenso, wie es Leute gibt, die behaupten, die Erde sei eine flache Scheibe! Ich weiß es nicht, ich kann es nicht beurteilen, ich kann im Stehen pinkeln und rasiere mich jeden Morgen, es liegt nahe, dass ich männlich gelesen werde, aber möglicherweise bin ich auch nur ein soziales Konstrukt und bilde mir das alles ein. Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich auch nur eine dämliche Hülsenfrucht, was weiß ich denn? Ich habe es satt, zu jedem Scheiß eine Haltung und eine Meinung haben zu müssen. Ich möchte einfach nur hier sitzen und in Ruhe diese hervorragenden Spaghetti genießen, für die sich hier irgendjemand in die Küche gestellt hat, wenn das okay für Euch ist!“
Das war es. An diesem Abend hat mich niemand mehr angesprochen und eine Meinung von mir gefordert. Und ich empfand das als wohltuend. Einfach nur Spaghetti essen. Einfach nur zum Fenster hinaussehen. Einfach einmal keine Haltung zu haben. Nächstes Mal machen wir Linseneintopf.
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Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.