Thilo Schneider / 11.02.2023 / 14:00 / Foto: Timo Raab / 33 / Seite ausdrucken

Haltungslos

Muss man zu allem und jedem eine Meinung haben, eine Haltung einnehmen? Kann einem nicht mal etwas völlig wumpe sein? Selbst zu Hülsenfrüchten soll man sich heutzutage erklären. 

Es ist einer dieser Momente, in denen man sich fragt… Aber der Reihe nach: Wir sitzen gemütlich beisammen im Freundeskreis, bestimmt sechs Leute (ich zähle nur durch, solange ich die Befürchtung habe, keinen Sitzplatz zu bekommen), als Martin sagt, er würde auch mal wieder Linseneintopf essen. Damit hätte man es dann auch bewenden lassen können und außerdem ist es mir linseneintopfegal, was Martin gerne mal wieder essen würde. Und hätte Sabine jetzt einfach die Klappe gehalten, wären wir noch Freunde. Aber nein, Sabine meinte, Hülsenfrüchte seien ja allgemein sehr nahrhaft. 

Worauf der Schatz meinte, dass auch Nüsse sehr nahrhaft wären. Und dass sie gerne Nüsse isst. Und dann habe ich Depp gesagt, dass der Schatz vor allem dann gerne Nüsse isst, wenn sich eine Tafel Schokolade mit Rosinen drumherum befindet. Das hätte ich lieber bleiben lassen sollen, denn jetzt kicherte Sabine, dass der Schatz ja dann wohl keine Hülsenfrüchte möge, wenn keine Schokolade drumherum ist, ja hihi und haha. Bernd meinte, er esse gar keine Hülsenfrüchte, Schokolade hin oder her, und seine Frau, die dumme Gans, meinte, man wisse eh nicht, was in Schokolade so drin sei und Kakaobutter sei sowieso klimaschädlich, und dann ist mir rausgerutscht, dass ich mich fragen würde, ob sie alle, inklusive Schatz, einen am Helm hätten und gab damit indirekt zu verstehen, dass ich dieses Gespräch als Verschwendung meiner doch in meinem Alter limitierten Lebenszeit ansähe. 

Ja, ob ich denn keine Hülsenfrüchte mögen würde. Ehrlich gesagt, gehen mir Hülsenfrüchte, wenn nicht im, dann doch quer an Magen und dem dazugehörigen Anus vorbei. Ich saß noch nie in meinen Mußestunden da und fragte mich, welche Bedeutung Linsen, Erbsen, Erdnüsse und Bohnen für mich hätten. Ich weiß, dass Hülsenfrüchte dieses Jahr der heißeste Scheiß auf der Grünen Woche waren, was für mich einmal mehr ein Grund war, die Grüne Woche nicht zu besuchen, weil ich Hülsenfrüchte gähnend langweilig finde. So what? Ich habe nichts für und nichts gegen Hülsenfrüchte, wir akzeptieren uns gegenseitig in unseren Angewohnheiten, und damit können die Hülsenfrüchte und ich gut leben. Was also soll ich dazu sagen? 

Keine Haltung. Keine Meinung.

Ich sagte: „Hülsenfrüchte sind mir egal.“ „Also magst du sie nicht!“, stellte Sabine fest. „Das habe ich nicht gesagt, ich sagte, sie sind mir egal“, korrigierte ich sie. „Aber du isst sie“, meinte Martin, der Hülsenfrüchtefreund. „Ja, ich esse sie. Wenn da ein großartiger Linseneintopf steht, der nicht unbedingt mit der Unsitte eines gezuckerten Suds gemacht ist, dann esse ich ihn“, bestätigte ich ihn. „Also magst du sie doch!“, triumphierte Sabine, und ich hatte das Gefühl, mit Vollidioten am Tisch zu sitzen, ohne eine Ahnung zu haben, wie ich in diese Kreise geraten war. Ich hatte jetzt gute Lust, die dumme Sabine zu filetieren, aber wir sind ja Freunde, da macht man das nicht. „Ja, ich mag Hülsenfrüchte“, sagte ich und wechselte das Thema: „Was sagt Ihr zum Ausgang der Berlin-Wahl?“ 

Aber nicht mit denen da am Tisch: „Magst du jetzt Hülsenfrüchte oder nicht? Lenk jetzt nicht vom Thema ab!“, nahm mich Bernd ins Kreuzverhör, und mir platzt der Kragen: „Ich habe keine Haltung zu Hülsenfrüchten jedweder Art, ich kenne mich mit Linsen, Erbsen, Bohnen, Erdnüssen, Kichererbsen und Platterbsen und ob ihre einzelnen Klappen der Perikarps auch als Valven bezeichnet werden, nicht aus. Und ob sie einen hohen Eiweißgehalt haben, ist mir ebenso latte wie ihr Geschmack. Es ist mir egal. Keine Haltung. Keine Meinung. Es gibt in keiner aller möglichen Kombinationen in diesem und anderen Paralleluniversen irgendeine Chance, dass ich zu Hülsenfrüchten irgendeine Meinung haben könnte. Der eine mag sie, der andere nicht, der eine isst sie, der andere nicht, beides halte ich in einer funktionierenden Demokratie für einen tolerablen und achtbaren Standpunkt, Hülsenfrüchte sind mir wirklich wirklich und ehrlich, ehrlich vollkommen gleichgültig. Wir führen eine Koexistenz der gegenseitigen Nichtbeachtung, mit der wir beide gut leben können, und selbst wenn Martin gerne in Linsen badet oder mit der Gabel Jagd auf die letzte Erbse unter der Prinzessin macht, so tangiert mich dies in keinerlei Weise. Ist das nun umfassend geklärt oder braucht Ihr einen Nachschlag?“

Schweigen. Langes Schweigen. Alle sahen mich entsetzt an. 

Einfach nur hier sitzen

„Man muss aber doch einmal eine Haltung haben, eine Meinung…“, fand Sabine als erste die Sprache wieder. „Nein!“, blaffte ich sie an, „…muss man nicht! Man muss eben NICHT zu allem eine Haltung und eine Meinung haben! Nicht zu allem und erst recht nicht zu Hülsenfrüchten oder dem Ausgang der Berlin-Wahl oder zu Corona oder zum Ukraine-Krieg, nicht zum Gendern, nicht zu der verkniffenen, schwarzhaarigen Tusse der Berliner Grünen, nicht zu Inklusion, der Fußballnationalfrauschaft oder dem Steuersystem von Botswana. Dazu gibt es keine Pflicht. Haltungslosigkeit ist ein Menschenrecht, erst recht, wenn ich mir nie sicher sein kann, ob mir eine der Haltungsseiten gerade faustdicke Lügen auftischt oder ich keine Chance habe, auch eine andere Meinung zu hören!“ 

„Na, ja“, lenkt Martin ein, „aber es gibt schon Fälle, die unstrittig sind. Beispielsweise, dass es nur zwei Geschlechter gibt…“ „Das sehen andere Menschen aber anders, ebenso, wie es Leute gibt, die behaupten, die Erde sei eine flache Scheibe! Ich weiß es nicht, ich kann es nicht beurteilen, ich kann im Stehen pinkeln und rasiere mich jeden Morgen, es liegt nahe, dass ich männlich gelesen werde, aber möglicherweise bin ich auch nur ein soziales Konstrukt und bilde mir das alles ein. Ich weiß es nicht, vielleicht bin ich auch nur eine dämliche Hülsenfrucht, was weiß ich denn? Ich habe es satt, zu jedem Scheiß eine Haltung und eine Meinung haben zu müssen. Ich möchte einfach nur hier sitzen und in Ruhe diese hervorragenden Spaghetti genießen, für die sich hier irgendjemand in die Küche gestellt hat, wenn das okay für Euch ist!“

Das war es. An diesem Abend hat mich niemand mehr angesprochen und eine Meinung von mir gefordert. Und ich empfand das als wohltuend. Einfach nur Spaghetti essen. Einfach nur zum Fenster hinaussehen. Einfach einmal keine Haltung zu haben. Nächstes Mal machen wir Linseneintopf. 

(Weitere schmackhafte Geschichten des Autors unter www.politticker.de)  

 

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

Foto: Timo Raab

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Sam Lowry / 11.02.2023

Was halten Sie eigentlich von Tee, Herr Schneider? Ich finde, Tee hat den Vorteil, dass man kein Leergut wegbringen muss und hinter so einer Voll-Deppin wie gerade eben im REWE zu stehen, die jede Flasche vorher nochmal einzeln sorgfältig anschaut. Könnte da ein Freilos oder Handy-Code dran sein? Als dann die Roulette-Kugel in ihrem Kopf bei “Einwerfen” landete, hätte ich fast Beifall geklatscht. Nee, einmal bin ich fast ausgetickt und sagte was zu solchen Nebochanten. Es kam fast zu Handgreiflichkeiten, in meinem Fall möglicherweise auch mehr, da ich manchmal mit 2 Promille einkaufen gehe. Ach so, ja, Tee. Man muss zudem kein H2O schleppen, das kommt dann nebenan aus der Leitung. Einziger Nachteil: “Tee frisch, kann man nicht direkt mit Sangria abmisch´” (also beginne ich erstmal pur…)

Knapp,Heinerich / 11.02.2023

Das ist aber noch harmlos gegenüber dem, was ich heute in einer angesehenen Pizzeria auf der aktuellen Speisekarte gelesen habe. Jede zweite Pizzavariante beinhaltet FRISCHE EGERLINGE ! ! !  ( Tja Herr Schneider, da kommt ihre Linsengeschichte auf keinen Fall mit ! ) Habe selbstredend die NON-EGERLING-Variante bestellt und mit Genuß verzehrt. Bei der höflichen Verabschiedung durch den Patron des Hauses “....und beehren Sie uns bald wieder !”  konnte ich Ihm ein fröhliches ” Auf gar keinen Fall !” entgegnen…

Ludwig Luhmann / 11.02.2023

Kommt mir vor wie eine Runde Geimpfter, die im Jahre 2025 noch immer nicht verstanden haben wird, wie 2020 alles anfing.

Sam Lowry / 11.02.2023

“Eine zynische, käufliche, demagogische Presse erzeugt auf Dauer ein Volk, das genauso niederträchtig ist wie sie selbst.” (Pullitzer?)

Andreas Elmshorner / 11.02.2023

Spaghetti können eine Haltung haben, wenn sie ungegart sind, gekocht gefrostschockt werden oder auf dem Teller liegend an provozierende Symbole erinnern (ginge auch, wenn man die ans Fenster klebt) oder einfach so auf Haufen liegend an Klimakinderfrisuren denken lassen. Man sollte sich dieser problematischen Thematik stellen und nicht, wie der Autor es versucht, mit Nebenkriegsschauplatz Hülsenfrucht ablenken. Achten Sie mal auf die Plastikbänder, mit denen manche Hobbygärtner ihre Stangenbohnen oder -erbsen anbinden. Mittels der Farben dieser Kletterhilfen werden wahrscheinlich geheime Signale übermittelt, welche Reichsbürgern Botschaften senden oder auch Zwergen, die bekanntlich nachts Erbsenfelder plündern - ähnlich wie Aale, womit wir dann wieder bei den Spaghetti wären. Man sollte derlei stets ernst nehmen und wachsam sein! Und was noch die Hülsenfrüchte betrifft: Geheimstudien internationaler Fachwissenschaftler legen nahe, daß Extremistende einander an der Tonhöhe geräuschvoller Blähungen erkennen. Geschulte Fahrstuhlbenutzer wissen das, besonders am Freitagmorgen, wenn am Donnerstag zuvor besonders viele Donnerfrüchte verzehrt wurden.

Thomas Szabó / 11.02.2023

Genosse Schneider! Nächstes Mal machen Sie Linseneintopf? Einfach so? Verstehe ich Sie richtig, “einfach so”? Mit ihrer gleichgültigen Haltung Hülsenfrüchten gegenüber hätte Genosse Hồ Chí Minh niemals die Việt Minh (Việt Nam Độc lập Đồng minh Hội) gegründet und die Parteien zur Việt cộng (Mặt trận Dân tộc Giải phóng Miền Nam Việt Nam) vereint, um den Weg für die glorreiche und beglückende Đảng Cộng sản Việt Nam zu ebnen! Glauben Sie etwa, dass die Versorgung der Vietnamesischen Volksarmee (Quân Đội Nhân Dân Việt Nam) auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad (Đường mòn Hồ Chí Minh) ohne Hülsenfrüchte wie Linsen möglich gewesen wäre?! Denken Sie nach. Gerade bei kleinen Dingen wie Linsen muss man eine große Haltung zeigen, wie Genosse u Tôn Đức Thắng im Geiste des Genossen Hồ Chí Minh, im harmonischen Gleichklang mit Genossen Phạm Văn Đồng so vorbildlich formulierte!

Gerhard Schmidt / 11.02.2023

Wissen muss man sich erwerben, eine Meinung begründen. Aber mit “Haltung” kann jedes A…loch Wind machen - Womit wir wieder beim Thema Hülsenfrüchte wären…

Karl Heinz Münter / 11.02.2023

War die in der Küche Spaghetti zubereitende Person auch am verbalen Austausch beteiligt oder kochte die nur? Es gibt da eine Begebenheit im Neuen Testament wo eine gewisse Maria und viel andere gebannt den Worten des Meisters gelauscht haben nur die Magdalena (hoffentlich benenne ich sie richtig) mühte sich in der Küche ab weil sie sehr weise davon ausging daß nach einer geistigen Erbaung sich ganz banale Hungergefühle einstellen würden. Mir war diese pragmatische Frau schon als ganz junger Mensch sehr sympathisch. Aus dieser Einstellung heraus kommt meine Frage zu dem in der Küche werkelnden Menschen.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Thilo Schneider / 19.11.2023 / 13:30 / 10

Die Jagd nach dem versteckten Schlüssel

Gökhan hat die Inspektion an meinem alten Renno durchgeführt. Jetzt muss ich den Wagen nur noch abholen. Da Gökhan aber in Urlaub fährt, muss er…/ mehr

Thilo Schneider / 06.11.2023 / 11:00 / 57

Wann ist man beim ZDF ein Türke?

Nachdem ein Mann seine Tochter als Geisel genommen hatte, berichtete das ZDF live vom Tatort. Der Reporter erklärte, dass der Täter zwar verlangte, auf Türkisch…/ mehr

Thilo Schneider / 13.08.2023 / 14:00 / 7

Die Konferenz der Hirtenkasse

Es ist eine dieser Online-Konferenzen via Zoom und es geht um die wunderbare Welt der Versicherungsbedingungen der megastarken und superneuen „Hausratversicherung 2023“ der Griechischen Hirtenkasse…/ mehr

Thilo Schneider / 23.04.2023 / 16:00 / 17

Der Erfolgscoach

Wie ich es hasse: Da will ich als YouTube-Nutzer ganz unschuldig Musik hören oder eine Doku sehen und werde erst mal ungefragt minutenlang von windigen…/ mehr

Thilo Schneider / 17.01.2023 / 14:00 / 38

An der Abbruchkante. Eine Relotiade

Claas Relotius hat endlich einen neuen Job. Künftig wird er für die Werbeagentur „Jung von Matt“ Texte fabrizieren. Als kleine Hommage an ihn präsentiere ich…/ mehr

Thilo Schneider / 12.11.2022 / 16:00 / 13

Kartoffelsolidarität

Wir erwarten Gäste und ich soll dem Schatz beim Kartoffelschälen helfen. Würde ich ja gern, muss aber dringend einen Artikel fertigschreiben. Bis dahin muss ihr…/ mehr

Thilo Schneider / 10.10.2022 / 14:00 / 24

Am nächsten dran. Eine Parabel

Die Polizei hält mich wegen eines theoretisch möglichen Verstoßes gegen §37 StVO an, weil der Typ VOR MIR bei Rot drübergefahren ist und sie seiner…/ mehr

Thilo Schneider / 02.10.2022 / 16:00 / 30

Der Kindermussolini

Eine junge Mutter steht mit ihrem sündhaft teuren Familienfahrrad mit Helmchen am Fahrradständer, und der ältere Spross ihrer Lenden, vielleicht fünf Jahre alt, steht daneben…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com