Am Samstag ging es bei den Grünen um den EU-Asyl-Kompromiss. Es war eine weitere der unzähligen Debatten zu Asyl und Zuwanderung, die Deutschland seit Jahrzehnten führt. Ohne Erfolg. Gewiss gab's etliche neue Regeln und Gesetze, doch die Probleme wuchsen und wachsen in Qualität und Quantität, während Politik und Medien ihre alten Textbausteine pflegen.
Am Samstag traf sich bekanntlich der Länderrat der Grünen, eine Art kleiner Parteitag, um über den EU-Asylkompromiss zu reden oder zu streiten – da konnte man verschiedentliche Interpretationen lesen. Wer es sich zumuten will, der kann sich dieses Grünen-Partei-Event hier fünfeinhalb Stunden lang anschauen. Ein Vergnügen ist es nicht. Die Szene mit dem höchsten Unterhaltungswert ist im Netz von missgünstigen Teilen der Öffentlichkeit schon verbreitet worden, als Parteivorsitzende Ricarda Lang kämpferisch laut verkündet: „Wir werden nicht zurückgehen in die Nische, wir werden genau jetzt in die Breite gehen“.
Immerhin war es interessant zu sehen, wie harmonisch sich die führenden Vertreter der Partei gegenseitig stützten. Man dankte Außenministerin Annalena Baerbock und pries ihren Einsatz für eine „humane Flüchtlingspolitik“. Dass es einen EU-Asylkompromiss gibt, sei doch ein Fortschritt. Die für viele Grüne eigentlich unerträglichen Härten, die die EU den illegalen Einwanderern künftig zumuten will, würden sich ja im Verhandlungsprozess mit dem Europäischen Parlament auch sicher noch hinreichend aufweichen lassen. Der Beobachter bekam das Gefühl, dass – so grüne Politiker weiter erfolgreich sind – der Zustrom ins Asylverfahren und ins Sozialsystem nicht abebben wird. Dieses Gefühl sollte er sicher auch bekommen, denn die Veranstaltung diente ja der Beruhigung der Mitgliedschaft, die sich einfach gut dabei fühlt, wenn hierzulande weiterhin viele „Geflüchtete“ aufgenommen, beherbergt und versorgt werden. Was diesen Teil der Öffentlichkeit beruhigt, wirkt auf viele Bürger außerhalb des grünen Kosmos' allerdings eher beunruhigend. Das ist für die Partei nicht schön, aber am Samstag ging es vordringlich um die eigene Geschlossenheit.
Deshalb drehten sich auch die Reden – wie manche Berichterstatter vermerkten – vor allem darum, was die neue Asylpolitik für die Zuwanderer bedeutet. Ob und welche Probleme die autochthone Bevölkerung mit dem erneuten Massenzustrom hat, spielte hingegen kaum eine Rolle. Warum auch? Potenzielle Kritiker der rot-grünen Zuwanderungspolitik gehörten für die beim grünen Länderrat auftretenden Redner nicht zur Zielgruppe.
Eine Zeitreise zwanzig Jahre zurück
Dass der neue EU-Asylkompromiss ohnehin nicht der Befreiungsschlag in der Zuwanderungspolitik ist, als der er in Brüssel angepriesen wird, ist an dieser Stelle schon beschrieben worden. Und wer etwas reicher an Jahresringen ist und das politische Geschehen von Berufs wegen oder aus Interesse verfolgt, der hat das alles schon seit Jahrzehnten so oft gehört. Bekanntlich plant ja die rot-grüne Bundesregierung mit ihren Mehrheitsbeschaffern von der FDP so einige Neuregelungen, die Migranten hierzulande das Leben erleichtern sollen. Beispielsweise soll es die deutsche Staatsangehörigkeit bald nach wenigen Jahren und ohne anspruchsvolle Gegenleistungen geben, Doppelstaatsbürgerschaft inklusive. Das soll bekanntlich die „Integration“ der Zuwanderer fördern.
Hat das schon mal funktioniert? Immerhin sind solche Ideen nicht ganz neu, ebenso wie Textbausteine, die in jeder Zuwanderungs- und Asyldebatte verwendet werden. Vielleicht ist der 20. Juni ein geeigneter Tag für eine kleine diesbezügliche Zeitreise.
Vor zwanzig Jahren, am 20. Juni 2003, wurde im Bundesrat zum zweiten Mal ein Zuwanderungsgesetz einer rot-grünen Bundesregierung verhandelt und abgelehnt. Diesmal war die Debatte in der Länderkammer nicht so spektakulär wie die erste Sitzung zum gleichen Gesetz im Jahr zuvor.
Zur Erinnerung: Seit 1998 regierte in Deutschland eine rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder (SPD). Die Grünen hatten im Koalitionsvertrag einige Kernanliegen unterbringen können, wie den Einstieg in den Atomausstieg und eine erleichterte Einbürgerung von Ausländern unter Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft. Entsprechend war das Zuwanderungsgesetz gestaltet, das die Bundesregierung auf den Weg brachte und der Bundestag mit Koalitionsmehrheit beschloss.
Damals waren CDU/CSU und FDP in der Opposition, was seinerzeit noch nicht hieß, den meisten Anträgen der Regierungskoalition zuzustimmen. Und im Bundesrat gab es keine Mehrheit für das rot-grüne Vorhaben, sondern eine Stimmengleichheit. Am 22. März 2002 führte der Bundesrat dann ein ganz besonderes Stück Staatstheater auf. Der Bundesratspräsident, seinerzeit Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD), fragte das Stimmverhalten der Länder ab. Jeder wusste, spannend ist es bei Brandenburg. Das wurde von einer SPD/CDU-Koalition regiert. Eigentlich ist es üblich, dass sich ein Bundesland, dessen Regierungsparteien sich nicht auf ein Stimmverhalten im Bundesrat einigen können, der Stimme enthält. Das hätte das Aus des Gesetzes bedeutet. Als die Reihe nun an den Vertretern des Landes Brandenburg war, beantwortete Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) die Frage des Präsidenten mit einem lauten „Ja“, woraufhin sein Innenminister Jörg Schönbohm laut „Nein“ ins Plenum rief. Der Genosse Wowereit entschied, dass die Stimme des Ministerpräsidenten zählt, und erklärte, dass der Bundesrat dem neuen Zuwanderungsgesetz zugestimmt habe. Im WDR hieß es dazu später:
„Ein Tumult bricht aus, es gibt Proteste und Zwischenrufe. Die Unionspolitiker verlassen den Saal und werfen Wowereit Kaltschnäuzigkeit und Verfassungsbruch vor. Friedrich Merz (CDU) sagt: ‚Wir werden von einer Gruppe von Leuten regiert, die ohne jeden Respekt sind, wenn es darum geht, ihren machtversessenen Anspruch durchzusetzen.‘ Und Roland Koch, ebenfalls CDU: ‚Dieses ist ein kalkulierter Bruch mit unserer Verfassung. Es muss korrigiert werden.‘ Sigmar Gabriel von der SPD kontert: ‚Das einzige, was es hier gegeben hat, Herr Kollege Koch, ist nicht ein kalkulierter Rechtsbruch, aber ein kalkulierter Ausbruch von Ihnen.‘ Die Sitzung wird unterbrochen, doch Wowereit bleibt bei seiner Wertung. Damit ist die Mehrheit im Bundesrat für das Gesetz gesichert und Bundespräsident Johannes Rau (SPD) unterschreibt das Gesetz, verbunden mit einer Rüge an Stolpe, Schönbohm und andere Akteure der Versammlung.“
„Nicht zustimmungsfähig“
Das nahm die damalige Opposition im Bund nicht hin. Die CDU zog vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und gewann. Kurz bevor das Zuwanderungsgesetz am 1. Januar 2003 in Kraft getreten wäre, erklärten die Verfassungsrichter die Wertung der Bundesratsabstimmung als Zustimmung für verfassungswidrig.
Die Bundesregierung machte einen neuen Vorstoß, und so hatte sich der Bundesrat genau vor zwanzig Jahren wieder mit dem rot-grünen Zuwanderungsgesetz zu befassen. Nur eine Mehrheit gab es wieder nicht. Der Spiegel berichtete:
„Saarlands Ministerpräsident Peter Müller (CDU) kritisierte, der rot-grüne Entwurf weite die Zuwanderung aus, statt sie zu begrenzen. In Zeiten einer wirtschaftlichen Krise drohe damit jedoch eine stärkere Zuwanderung in die Sozialsysteme und eine Belastung des Arbeitsmarktes. ,Es geht nicht um Zuwanderungsverhinderung, sondern um eine Zuwanderungsbegrenzung (...). Dem trägt das Gesetz nicht Rechnung und deshalb ist das Gesetz nicht zustimmungsfähig', fügte Müller hinzu.“
Die CDU gab sich seinerzeit als Zuwanderungsbremser. Und manche Rede der damaligen CDU-Vorsitzenden Angela Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag im gleichen Jahr würden die heutigen Parteifreunde wahrscheinlich als „AfD-Sprech“ ablehnen. Aber solche Distanzierung hätte man zu dieser Zeit – zehn Jahre vor der AfD-Gründung – für unmöglich gehalten. Falls Sie jetzt das gern genutzte Merkel-Zitat mit der Warnung vor der Parallelgesellschaft erwarten, muss ich Sie enttäuschen. Das steht zwar in einem von der Zeit veröffentlichten Redemanuskript, wurde aber von ihr weggelassen. Und da ja auf den Manuskripten ausdrücklich vermerkt ist, dass das gesprochene Wort gilt, halten wir uns hier lieber ans Parteitagsprotokoll, und da findet sich folgende Passage:
„Wollte man den Bevölkerungsrückgang durch Zuwanderung vollständig ausgleichen, dann müsste im Jahre 2050 ein volles Drittel der Wohnbevölkerung Deutschlands aus dem Ausland gekommen sein oder von ausländischen Zuwandern abstammen. Das sind, wenn ich noch einigermaßen rechnen kann, zwischen 20 und 30 Millionen Menschen, um die es da geht.
Wer ein solches Konzept vertritt, der muss Zuwanderung in einer Größenordnung zulassen, die die Integrationskraft der in Deutschland ansässigen Bevölkerung um ein Vielfaches übersteigen würde. Und er würde, wenn man das Wort ‚Integration‘ nur halbwegs ernst nimmt, Integrationskosten verursachen, deren Finanzierung überhaupt nicht mehr geschultert werden könnte. Nehmen Sie nur 20 Millionen Menschen und kalkulieren vorsichtig, dass die Integration eines einzelnen Menschen – soweit man sie in Geld beziffern kann – mindestens 5.000 Euro kostet. Dann sind wir schon bei 100 Milliarden Euro. Das ist eine gegriffene Zahl, aber Sie werden erkennen, wie riesig dieses Problem ist. [...]
Man mag zu mehr Zuwanderung stehen, wie man will. Mehr Zuwanderung ist jedenfalls keine Lösung unserer demographischen Probleme."
Auffanglager auf dem EU-Gipfel
Die spätere Merkel hörte sich anders an, allerdings gibt es das Argument immer noch. Es wird nur von Anderen verwendet.
Ebenfalls am 20. Juni vor 20 Jahren tagte übrigens ein EU-Gipfel. Damals noch in ganz anderer Zusammensetzung, denn die ost- und ostmitteleuropäischen Staaten fehlten noch, dafür gehörte der britische Premier noch zur Runde. Mag dieser Gipfel in Porto Carras auch wirken wie aus einer anderen Welt, bei einem Thema hört es sich ziemlich vertraut an, was Spiegel Online vor 20 Jahren berichtete:
„Großbritannien und Dänemark wollen weltweit in Krisenregionen Auffanglager für Asylsuchende schaffen. Erst wenn deren Anträge angenommen sind, dürften die Flüchtlinge die EU dann betreten. Die anderen Staaten wollen lieber Europas Grenzen besser bewachen. [...] Das alleinige Vorpreschen der beiden EU-Staaten wird in der Kommission mit Sorge beobachtet. Auch Menschenrechtsgruppen fürchten, dass die Bemühungen zur Harmonisierung der europäischen Asylpolitik dadurch einen Rückschlag erfahren wird. Die anderen EU-Staaten, etwa Deutschland oder Frankreich, würden auf diese Weise für Asylsuchende attraktiver als Großbritannien und Dänemark.
Zuvor hatten die Staats- und Regierungschefs die Erhöhung der Ausgaben zum Schutz der EU-Grenzen gegen illegale Einwanderung beschlossen."
Wie erfolgreich die EU mit der Harmonisierung der europäischen Asylpolitik in den zwanzig folgenden Jahren war, wissen wir. Die Hoffnung auf irgendeinen Fortschritt durch den neuesten Asylkompromiss, hinter den sich die Länderrats-Grünen in weitgehender Einigkeit gestellt haben, stärkt diese Bilanz allerdings nicht.
Die Ähnlichkeit der Textbausteine verblüfft dennoch, denn seinerzeit war eine solche irreguläre Massenzuwanderung wie in den Jahren 2015/16 und erst recht jetzt, schlicht nicht vorstellbar. Dennoch lässt sich Migrationspolitik offenbar immer noch mit fast den gleichen Textbausteinen machen.
„Bei schwerer See nach Italien unterwegs“
Auch andere zum Thema gehörende Nachrichten des 20. Juni vor zwanzig Jahren klingen vertraut. So berichtete die FAZ:
„Ein Schiff mit rund 200 Flüchtlingen aus Nordafrika ist am Freitag vor der tunesischen Küste gesunken. Ersten Angaben der tunesischen Behörden zufolge ertranken mindestens 20 Passagiere; lediglich etwa 40 seien von der tunesischen Küstenwache gerettet worden. Rund 12 Stunden nach dem Unglück wurden am Abend noch 190 Menschen vermißt, berichtete das italienische Fernsehen.
Das Schiff sei bei schwerer See nach Italien unterwegs gewesen. Das Unglück ereignete sich den Angaben zufolge etwa 20 Seemeilen vor der afrikanischen Küste in der Nähe der Insel Kerkenah. Tunesische Rettungsschiffe seien sofort in die Region ausgelaufen. Vermutlich sei das Schiff wie bei anderen Unglücken dieser Art völlig überladen gewesen.
Es handelt sich um die zweite Katastrophe mit illegalen Einwanderern auf dem Mittelmeer innerhalb weniger Tage. Am Wochenende sank ein lediglich 15 Meter langes Boot mit rund 70 Afrikanern ebenfalls auf dem Weg von Tunesien nach Italien. Nur drei Passagiere wurden gerettet."
Warum zahlen erwachsene Menschen tausende Dollar für die Überfahrt auf einem solchen Seelenverkäufer und setzen sich offensichtlicher Lebensgefahr auf einem überfüllten Schiff aus? Weil es Länder wie Deutschland gibt, die Sozialleistungen und regelmäßige Geldzahlungen für jeden versprechen, der das Land erreicht und einen Asylantrag stellt. Dieser Teil des deutschen Asylsystems ist überall in der Welt bekannt. Er befeuert das Schleusergeschäft, und die Schleuser werben damit, denn die versprochenen Zahlungen des deutschen Sozialstaates wirken wie eine Sicherheit für die Investition in die Schleusung. Dafür lassen sich einige tausend Dollar beschaffen. Statt dieses Geld daheim in die eigene Zukunft zu investieren, fließt es in die Taschen der Schleuser. Diese gern „Pull-Faktoren“ genannten Verheißungen sind es, die mitverantwortlich sind für den Tod all jener, die die verheißungsvolle Überfahrt nicht überleben. Aber die Frage, ob nicht die Abschaffung dieser Pull-Faktoren schon für eine Migrations-Entlastung sorgen könnte, wird in Deutschland, damals wie heute, kaum gestellt. Immer weniger Politiker und Journalisten sprechen sie an. Irgendwie gilt sie als unanständig, egal wie sehr die Probleme wachsen.
Vor dem Ausmaß der problematischen Folgen ungesteuerter Zuwanderung verschließen die meisten Verantwortungsträger lieber die Augen. Sie folgen wohl dem rheinländischen Motto „Et hätt noch immer jot jejange“, obwohl die Bundeshauptstadt schon lange nicht mehr am Rhein liegt. Für den Regierungs-Umzug nach Berlin stimmte der Bundestag übrigens auch an einem 20. Juni, im Jahre 1991.
Das vor zwanzig Jahren gescheiterte Zuwanderungsgesetz wurde übrigens im Vermittlungsausschuss verhandelt, etwas abgeändert und konnte im Jahr darauf auch den Bundesrat passieren.