„Wird's besser? Wird's schlimmer?“ fragt man alljährlich./ Seien wir ehrlich:/ Leben ist immer/ lebensgefährlich.
Mit diesen Zeilen „Zum Neuen Jahr“ von Erich Kästner ist an sich alles gesagt. Nun mag zwar die Würze durchaus in der Kürze liegen, aber für die Darstellung mancher Sachverhalte und Zusammenhänge muss man doch ein bisschen ausholen. Fangen wir also bei den Jägern und Sammlern an. Keine Angst. Das war nur ein Scherz. Aber ein kurzer Blick auf eine der ältesten Kulturtechniken, das Fischen, kann dennoch nicht schaden.
Egal, wie man es anstellt: Beim Fischen oder Fishing geht es immer darum, die Fische, die man fangen möchte, die Opfer also, zu einem Verhalten zu veranlassen, man könnte auch sagen zu verführen, als dessen Folge sie am Ende in unseren Mägen landen: Sie sollen den Köder schlucken oder in eine aufgestellte Falle „tappen“. Die Fische werden dadurch ihrer Existenz und damit auch ihrer Identität beraubt.
Um solchen „Identitätsdiebstahl“ geht es auch beim Phishing. Man spricht hier offenbar deshalb nicht von Raub, weil keine Gewalt im Spiel ist (sondern nur List und Tücke). Jeder E-Mail-Nutzer hat solche gefälschten E-Mails schon in seinem Posteingang gefunden und sie schnell als solche erkannt oder auch nicht. Doch von dieser verbreiteten Form von Kriminalität will ich gar nicht sprechen, sondern von einer legalen Form dieser Täuschung.
Natürlich ahnen Sie schon, dass ich da nicht selber drauf gekommen bin. Vielmehr gebraucht kein Geringerer als der amerikanische Wirtschaftsprofessor (Yale, promoviert übrigens am MIT) und Nobelpreisträger (2013, gemeinsam mit Lars Peter Hansen und Eugene Fama) Robert James Shiller diesen Begriff, um damit auszudrücken, dass Kapitalismus und Marktwirtschaft uns täglich hinters Licht führen und über den Tisch ziehen. Nun ist diese Erkenntnis nicht ganz neu, wissen wir doch durch Vance Packard bereits seit 1957, dass überall „Die geheimen Verführer“ (“The Hidden Persuaders“) lauern, um uns in „Die nerzgefütterte Mausefalle“ (Cyril Northcote Parkinson, “The fur-lined Mousetrap“, 1973) zu locken, um uns dann das Fell über die Ohren beziehungsweise das Geld aus der Tasche zu ziehen. Haupttatort ist laut Shiller der Supermarkt, wo die Verführer keineswegs im Verborgenen agieren, sondern ganz offen und ungeniert ihr Unwesen treiben. Der Weg zur Kasse mag zwar mit guten Vorsätzen gepflastert sein. Aber hinterher stellen wir fest, dass sämtliche Vorsätze beim Teufel sind und unser Geld dazu.
Jemand, der den Köder geschluckt hat und an der Angel hängt, ohne es zu merken
Wie gesagt, alles nicht neu. Dazu brauchen wir keinen Nobelpreisträger. Da reicht unsere eigene Alltagserfahrung. Doch Shiller lässt es natürlich nicht bei dieser Trivial-Analyse bewenden, sondern hat auch eine Lösung parat: staatliche Regulierung. „Die Politik müsse die Menschen vor den schlimmsten Phishern schützen“, wie Anja Ettel und Holger Zschäpitz kürzlich in der Welt berichteten.
Shiller stellt diesen Gedanken zusammen mit seinem Kollegen George Arthur Akerlof (ebenfalls Nobelpreisträger, 2001) in einem Buch vor: „Phishing for Phools: The Economics of Manipulation and Deception“, auf Deutsch „Phishing for Fools. Manipulation und Täuschung in der freien Marktwirtschaft“. A Phool ist laut Shiller „A person who doesn’t know they’re being phished“, also jemand, der den Köder geschluckt hat und an der Angel hängt, ohne es zu merken, ein Depp eben.
Regulierung ist also nötig, um Menschen vor ihrer eigenen Dummheit zu schützen. Vor so viel Arroganz wird doch der Hund in der Pfanne verrückt. Das erinnert ja fatal an jene Politiker-Sprüche, wonach die X- oder Y-Partei es leider nicht verstanden habe, ihr tolles Programm den Wählern zu vermitteln. Was nichts anderes heißt, dass das Stimmvieh einfach zu blöd war, die Genialität des Programms zu kapieren. Stopp. So einfach ist es nun auch wieder nicht.
Niemand bestreitet ernsthaft, dass Regulierung notwendig ist. Schon das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene BGB schützt, bei grundsätzlicher Vertragsfreiheit, den Partner eines Rechtsgeschäfts vor arglistiger Täuschung (dem dolus malus des römischen Rechts), indem es ihm einen Anfechtungsgrund einräumt. Bei Geschäften am Telefon oder über das Internet, bei denen man erfahrungsgemäß schnell am Haken zappeln kann, gewährt das moderne BGB ein zweiwöchiges Widerrufsrecht. Ferner schützt das Recht die Verbraucher, die anderen Marktteilnehmer und die Allgemeinheit vor unlauteren Machenschaften im Geschäftsleben (Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb).
Das wirksamste Mittel gegen „Manipulation und Täuschung in der freien Markwirtschaft“ heißt Bildung
Und das Kartellgesetz, mit vollem Titel „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ soll die Konzentration und den Missbrauch von Machtmacht verhindern und dadurch den für das Funktionieren einer Marktwirtschaft unerlässlichen Wettbewerb gewährleisten. Neben diesen beiden Grundgesetzen der Marktregulierung gibt es eine Fülle weiterer Regulierungsgesetze, nicht zuletzt aus dem Füllhorn der EU, so dass nicht wenige eher die Gefahr einer Überregulierung sehen, anstatt nach weiterer Regulierung zu rufen.
Erstaunlich ist, dass das wirksamste Mittel gegen „Manipulation und Täuschung in der freien Markwirtschaft“ gar nicht erwähnt wird. Es heißt Bildung. Neben den vielbeschworenen „mündigen Bürger“ muss der „mündige Verbraucher“ treten, der sich kein X für ein U vormachen lässt und beim Gang durch den Supermarkt oder beim Online Shopping seinen Kopf benutzt und nicht seinen Bauch oder welches ungeeignete Organ auch immer. Aber vielleicht ist dieser Zug schon abgefahren, hört man doch allenthalben Klagen über die Misere unseres gesamten Bildungssystems, das mehr von Ideologie als von Sachkunde geprägt wird. Und in den USA sieht es offenbar noch schlimmer aus. Doch auch nach einer Regulierung à la Shiller werden die einschlägigen Marktakteure nichts unversucht lassen, uns über den Tisch zu ziehen – ob sie uns nun einen Qashqai, einen Twix-Riegel oder eine Kreuzfahrt mit Frühbucher-Rabatt andrehen wollen oder ob Katie Ball uns weismachen will, dass sie ihre Bikini-Figur dem einzigartigen Almased verdankt. Leben ist und bleibt nun mal lebensgefährlich.