Am 1. Oktober 2018 habe ich folgende E-Mail an die Bundesagentur für Arbeit (BA) gesandt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Seit längerem quält mich folgende Frage: Wir haben gut zwei Millionen Arbeitslose. Gleichzeitig klagen alle Branchen über Fachkräftemangel. Die über eine Million Menschen, die uns seit September 2015 geschenkt wurden (KGE), ändern daran trotz gegenteiliger Erwartungen (Zetsche u. a.) nichts. Also soll Deutschland auch offiziell werden, was es schon längst ist: ein Einwanderungsland. Was mit all den Fachkräften wird, wenn sich die Visionen bspw. eines Noah Yuval Harari („Homo Deus“) verwirklichen und die meisten Arbeiten von Algorithmen erledigt werden, steht in den Sternen.
Meine Frage ist nun: Was sind das für Menschen, die derzeit ohne Arbeit sind? Alles Trottel oder gar Analphabeten, die den künftigen Migranten nicht das Wasser reichen können? Oder warum können sie nicht für die offenen Fachkräftestellen qualifiziert werden? Was haben die Migranten, auf die wir all unsere Hoffnungen setzen, was die Arbeitslosen nicht haben?
Ich bin sicher, dass die Bundesagentur für Arbeit diese Frage beantworten kann, und wäre sehr dankbar, wenn sie es täte.
Sollte ich bei Ihnen an der falschen Adresse sein, wäre ich für die Weiterleitung meines Anliegens an die richtige Adresse dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Grell
Leitender Ministerialrat a.D.
Hierauf erhielt ich am 9. Oktober folgenden Zwischenbescheid:
Sehr geehrter Herr Grell,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Diese wurde an das zentrale Kundenreaktionsmanagement der Bundesagentur für Arbeit weitergeleitet.
Die Beantwortung Ihrer Fragen wird einige Zeit in Anspruch nehmen.
Ich bemühe mich um schnelle Erledigung und bitte Sie, sich bis dahin zu gedulden.
Mit freundlichen Grüßen
Frau NN
Mit Schreiben vom 24. Oktober kam dann die ausführliche Antwort: Zwei Seiten mit einer Entschuldigung „für die zeitliche Verzögerung“. Ich habe mich für diesen „vorbildlichen Bürgerservice“ bedankt, ohne auf den Inhalt einzugehen. Das möchte ich jetzt hier tun.
Asyl
In meinem Schreiben habe ich das Wort „Asyl“ nicht verwendet; mir ging es in erster Linie um die Arbeitslosen. Im Schreiben der BA lautet gleich der erste Satz nach der Einleitungsformel „Die Gewährung von Asyl ist eine humanitäre und keine wirtschaftliche Frage.“ Dann ist von der „Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte“ die Rede und schließlich von „geflüchteten Menschen“. Diese Mixtur hat mich als Jurist überrascht, weil es an sich um drei verschiedene Tatbestände geht: Asyl, Zuwanderung und Flucht.
Es mag Zufall oder Uninformiertheit sein, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass die Vermischung dieser drei Tatbestände bewusst vorgenommen wurde, entspricht sie doch durchaus der verwirrenden Politik der Regierung Merkel.
Arbeitsmarktintegration
Die folgende Passage in dem BA-Schreiben ist noch verblüffender. Sie lautet:
„Durch die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes sind immer mehr Betriebe bereit, geflüchtete Menschen einzustellen. Insgesamt entspricht die Arbeitsmarktintegration der kürzlich nach Deutschland Geflüchteten in etwa unseren Prognosen:
Im ersten Jahr werden rund 10 Prozent integriert, nach fünf Jahren steigt der Anteil auf 50 Prozent und nach 15 Jahren auf knapp 70 Prozent.
Es wird auch viel in die Integration von Geflüchteten investiert, was die Annahme eines günstigen Integrationsverlaufs zulässt.“
Da sich das Adjektiv „kürzlich“ vermutlich auf die Jahre 2015 ff. bezieht, steht die Verifizierung der BA-Prognose für die Zeiträume fünf und 15 Jahre noch aus.
Die Zahlen der amtlich registrierten „Asylsuchenden“ lauten:
2015: 476.649
2016: 745.545
2017: 222.683
2018: 142.167
Gesamt: 1.587.044
Legt man zugrunde, dass von den fünf Prognose-Jahren rund drei vergangen sind, müssten von den prognostizierten 50 Prozent etwa drei Fünftel erreicht sein. Danach bedeutete die Aussage, dass bisher mindestens 400.000 Schutzsuchende in den Arbeitsmarkt integriert wurden.
Auf der Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (die BA unterliegt als Körperschaft des öffentlichen Rechts der Rechtsaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales) liest man dagegen:
„Seit Beginn des Programms [Passgenaue Besetzung] im März 2016 haben die Willkommenslotsen insgesamt rund 7.700 Vermittlungen von Flüchtlingen erzielt: 3.878 in Praktika, 542 in Hospitation, 1.156 in die Einstiegsqualifizierung, 1.344 in Ausbildung und 766 in Arbeit.“ (Artikel – Flucht und Integration)
Aktuellere Daten
Da nicht erkennbar ist, auf welchen Zeitraum sich diese Angaben beziehen, habe ich das Bundeswirtschaftsministerium danach sowie nach Zahlen bis in die Gegenwart gefragt. Das Ministerium hat mir folgendes geantwortet:
„Ihre Daten entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand. Hier sind die aktuellen Daten zum Stichtag 31.07.2018.
Seit Beginn des Programms im März 2016 wurden in dem Programm Willkommenslotsen 16.593 Geflüchtete vermittelt (Stand: 31.07.2018). Davon konnten 3.739 Geflüchtete in Ausbildung und 1.770 Geflüchtete in Arbeit vermittelt werden. Hinzu kommen Vermittlungen in Praktika (7.480), Hospitationen (917) und Einstiegsqualifizierungen (2.687), die der Vorbereitung eines Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses dienen.“
Das sind zwar in der Tat höhere Zahlen, die sich aber letztlich immer noch im marginalen Bereich bewegen.
Erstaunlich an der BA-Antwort ist weiterhin, dass die Schutzsuchenden ungeachtet ihres unterschiedlichen Rechtsstatus wie normale Zuwanderer angesehen werden, sonst wäre die Prognose für einen Zeitraum von 15 Jahren kaum plausibel.
Allerdings besteht auch insoweit faktische Übereinstimmung mit der Bundesregierung. Am 31. Januar 2016 meldete die FAZ noch:
„Bundeskanzlerin Angela Merkel erwartet, dass viele Flüchtlinge, die sich derzeit in Deutschland aufhalten, in ihre Heimatländer zurückkehren. Nur ein geringer Teil habe Anspruch auf klassisches Asyl, sagte sie in Neubrandenburg auf der Landesvertreterversammlung der CDU in ihrem Heimatverband Mecklenburg-Vorpommern.
Die meisten Flüchtlinge genössen derzeit nur zeitweiligen Schutz vor allem nach den Vereinbarungen der Genfer Flüchtlingskonvention. Dieser Schutz sei zunächst auf drei Jahre beschränkt. Bei allem, was an Integration zu leisten sei, sagte Merkel weiter, müsse den Betroffenen auch klar gemacht werden, dass es sich um einen zeitweiligen Aufenthaltsstatus in Deutschland handele.“
Und nachdem die „nationale Kraftanstrengung“ für Rückführungen, zu der die Bundeskanzlerin im Herbst 2016 aufgerufen hatte, erwartungsgemäß im Sande verlaufen ist, wehrten sich Merkel und Seehofer noch gegen den sogenannten Spurwechsel. „Wir sind für eine klare Trennung zwischen der humanitären Aufnahme und der Arbeitskräftemigration“, sagte auch eine Sprecherin des Innenministeriums. Wenn man beides miteinander verknüpfe, „dann wäre eine Steuerung nicht mehr möglich“ (Zeit Online vom 17. August 2018).
Aber diese „Steuerung“ ist schon seit Jahren reine Fiktion. Denn: „Wer einmal in Deutschland ist, bleibt auch hier“, wie die Süddeutsche schon am 2. September 2015 einen „Faktencheck zur Einwanderung“ überschrieb. Und Merkel selbst hatte am 22. September 2015 vor der beunruhigten Unionsfraktion trotzig erklärt: „Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flüchtlinge bin, nun sind sie halt da“.
Vermittlungshemmende Merkmale
Dann nähert sich das BA-Schreiben der Beantwortung meiner eigentlichen Frage, an sich waren es die folgenden vier:
- Was sind das für Menschen, die derzeit ohne Arbeit sind?
- Alles Trottel oder gar Analphabeten, die den künftigen Migranten nicht das Wasser reichen können?
- Oder warum können sie nicht für die offenen Fachkräftestellen qualifiziert werden?
- Was haben die Migranten, auf die wir all unsere Hoffnungen setzen, was die Arbeitslosen nicht haben?
Ich erkenne an, dass sich die BA um möglichst konkrete Antworten bemüht hat. Die verehrten Achse-Leserinnen und -Leser mögen selbst entscheiden, ob dieses Bemühen von Erfolg gekrönt war.
Die BA sieht es als eine ihrer wichtigsten Herausforderungen (der Begriff kommt fünfmal vor) an, „auch Langzeitarbeitslose entsprechend zu qualifizieren, um sie auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren.“ Bei diesem Satz fiel mir zuerst auf, dass der Begriff „integrieren“ bezüglich des Arbeitsmarktes offenbar nicht zwischen denen, „die neu dazugekommen sind“ und denen, „die schon länger hier leben“ unterscheidet. Der Integration (von Langzeitarbeitslosen) stehen „vermittlungshemmende Merkmale“ entgegen:
- Betreuung eines Kindes unter drei Jahren
- eine fehlende oder geringe Qualifikation
- sprachliche Defizite
- gesundheitliche Einschränkungen
- ein hohes Lebensalter.
„Diese schlechteren Chancen auf eine Beschäftigung spiegeln sich auch in den Strukturen der Arbeitslosigkeit wider.“
„Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit sind Personen ohne Berufsabschluss.“ Im Durchschnitt des Jahres 2017 waren das 1,16 Millionen (fast die Hälfte der 2,533 Millionen Arbeitslosen). Eine zweite Problemgruppe sind „ältere Personen“.
Entwicklung des Fachkräftebedarfs
Hier lauten die Kernaussagen:
„Prognosen unseres Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) deuten auf Beschäftigungsverluste im verarbeitenden Gewerbe bei gleichzeitigem Beschäftigungswachstum in der Dienstleistungsbranche hin.“
„Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung werden neue Arbeitsformen und Kompetenzanforderungen entstehen (Stichwort ‚Industrie 4.0‘).“
Auch Arbeitsminister Hubertus Heil beruft sich im Focus-Interview am 6. Oktober auf die IAB-Studie und bleibt bei der Prognose ebenfalls vage: „Wir sehen schon jetzt eine wachsende Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen von Menschen für Menschen. Hier können Roboter unterstützen, aber menschliche Arbeit nicht ersetzen. Wir müssen die Entwicklung der Arbeitsmärkte in der Digitalisierung differenziert betrachten. Wenn Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften jetzt die richtigen Weichen stellen, sehe ich mehr Chancen als Risiken für die Beschäftigten.“ Und: „Die Digitalisierung wird DIE soziale Frage des 21. Jahrhunderts sein. Und wir kümmern uns jetzt darum.“
Risiken: „Berufsbilder verschwinden zu Lasten von Geringqualifizierten.“
Chancen: „Aber es entstehen eben auch viele neue Berufe, nicht nur für höher Qualifizierte“.
„Wir müssen die Arbeitnehmer weiterbilden, umschulen, neu qualifizieren, je nach Fall und Beruf. Ordnungspolitisch betrachtet, ist das erst einmal Sache der Unternehmen. Aber in den Umbrüchen der Digitalisierung müssen wir neu denken. Zum Beispiel, indem wir solche Unternehmen mit dem Qualifizierungschancengesetz [im Augenblick handelt es sich allerdings erst mal um einen Regierungsentwurf] auch finanziell unterstützen. Nur so können die Beschäftigten von heute auch die Arbeit von morgen machen.“
Der entscheidenden Frage aber weichen alle aus: Was ist mit all denen, die einfach nicht in der Lage sind, den Anforderungen der Weiterbildung, Umschulung oder Neu-Qualifizierung zu genügen? All jenen, die Henryk M. Broder schon Ende August 2015 als „Das Proletariat von morgen“ bezeichnet hat?
Auf den „Spurwechsel“ angesprochen, antwortete Heil: „Wer die deutsche Sprache beherrscht und in Arbeit ist, sollte bleiben dürfen. Es ist doch aberwitzig, dass wir Flüchtlinge erst fit für den Arbeitsmarkt machen und dann wieder heimschicken.“ Er vergaß, zwei Aspekte zu erwähnen:
- Wenn ein Flüchtling, der heute (eine wenig qualifizierte) Arbeit hat, diese morgen verliert, erhöht er die Zahl der „Transferempfänger“.
- Wie können denn Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpft werden, wenn wir gerade die kräftigsten und gut oder wenigstens einigermaßen Ausgebildeten bei uns behalten, statt sie nach Hause zu schicken. Natürlich nicht, um dann im Gegenzug andere zu holen – das wäre in der Tat ein Schildbürgerstreich.
Gerade hieraus ließe sich eine umgekehrte Kolonialisierungslegende stricken: Die reichen Ländern gehen nicht mehr in die armen, um diese vor Ort auszubeuten, sondern werben die besten Köpfe von dort ab, damit sie den Lebensstandard der Reichen zu Hause sichern. Die BA-Antwort enthält hierzu keine Zeile.
Zusammenfassende Bewertung
Über den Bürgerservice der BA (und des Ministeriums) kann ich mich nicht beklagen. Auch inhaltlich hat sich die Bearbeiterin große Mühe gegeben. Es bleibt aber ein flaues Gefühl zurück. Doch das ist bei Fragen, die in die Zukunft gehen, normal. Außer dem lieben (?) Gott weiß doch niemand, was uns erwartet. Und der lässt leider nichts raus.