Es muss ein erschütternder Vortrag des Bürgermeisters der syrischen Stadt Ostaleppo, Brita Haji Hasen, vor den 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) gewesen sein. Unisono zeigten sie sich tief erschüttert, den Tränen nahe, entsetzt über die Barbarei in der syrischen Stadt. Ihr Mitleid war grenzenlos. Und dann rafften sie sich auf, um das zu tun, wozu sie fähig sind: Zu Worthülsen und leeren Drohungen: "Die EU erwägt alle verfügbaren Optionen" und "in aller Schärfe" wird das Vorgehen des syrischen Regimes und seiner Alliierten Russland und Iran verurteilt. Am weitesten ging noch die demnächst nicht mehr zum Palaververein gehörende britische Premierministerin Theresa May: "Alle Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden." Das war das Ende des Konferenzwanderzirkus der europäischen Staats- und Regierungschefs in 2016. Und dann sind sie alle nach Hause gefahren.
So weit ist es also mit der Europäischen Union gekommen, mit diesem Friedensprojekt. Die Verantwortlichen sind nicht einmal mehr in der Lage, einem Massenmörder wie dem syrischen Präsidenten Assad das Handwerk zu legen, geschweige denn, sich mit seinen Schutzpatronen in Teheran und Moskau anzulegen. Trotz aller Recherchen konnte ich noch nicht einmal herausfinden, welche Staaten sich wenigstens zu wirtschaftlichen Maßnahmen gegen Russland aufraffen würden. Zumindest die Sanktionen wegen der Unterstützung der Banden in der Ostukraine sollen bis Juli 2017 bestehen bleiben.
Am Anfang stand die Sehnsucht nach Freiheit
Über Jahrzehnte habe ich die Entwicklung der EWG und dann der EG bis hin zur EU journalistisch begleitet. Habe Sendungen über den Beitritt Irlands, Großbritanniens und Griechenland für das ZDF produziert. Die ersten freien Wahlen in Portugal und Spanien vor Ort erlebt. Es war jedes Mal ein unbeschreibliches Gefühl, wenn Hunderttausende Menschen zum Beispiel auf der Liberdade in Lissabon oder vor dem griechischen Parlament in Athen ihre neugewonnene Freiheit feierten, die immer mit einer unglaublichen Begeisterung für die europäische Idee verbunden war. Diese Eindrücke haben mich geprägt und ich werde sie nie vergessen.
Auch über die Vorteile des Euro habe ich noch in der ARD berichtet. Ja, ich bin begeisterter Europäer, fühle mich in diesem kulturell so bunten und spannenden Kontinent sehr wohl - gerade weil er so vielfältig ist. Aber auf diese impotenten Konferenzreigen, in denen über heiße Luft diskutiert oder auf schräge Solidarität verwiesen wird, kann ich nicht stolz sein. Diese Salongesellschaft ist weder lebens- noch gar nicht liebenswert. Glücklicherweise finden nicht noch mehr Abstimmungen in den restlichen 27 Mitgliedsstaaten über einen Verbleib in der Union statt. Wahrscheinlich würden sich weitere Staaten verabschieden - etwa die Niederlande oder Italien. Teilweise wird sogar Frankreich als wackelig angesehen.
Was sind Verträge noch wert?
Ja, Europa braucht einen Neustart, muss sich entscheiden, ob es nur palavert oder ob es seine eigenen Regeln beachtet, und die Verträge, die von den Mitgliedsstaaten abgeschlossen wurden, auch einhält. Beschwörungsrituale des obersten Steuervermeidungsspezialisten Jean-Claude Juncker zu mehr Solidarität erzeugen bei mir Würgeeffekte. Die Auftritte der Berufseuropäer Martin Schulz, SPD, und Elmar Brok, CDU, beschwören ein Europa, das es nicht gibt, aber ihre persönliche Bedeutung stärkt. Sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass der Euro Europa spaltet und die Verträge, die nach schönen europäischen Städten benannt sind, von kaum noch einem Land eingehalten werden, gleich ob sie in Lissabon, Schengen, Dublin oder Maastricht unterschrieben wurden.
Die Gemeinschaft, die mit den Römischen Verträgen 1957, also vor bald 50 Jahren, begonnen hat, war für alle, die sich europäische Einigung wünschten, vor allem ein Zusammenschluss demokratischer Staaten, die gemeinsame Werte verkörperten: Freiheit des Einzelnen, Rechtsstaatlichkeit, freier Zugang zu gemeinsamen Märkten, unabhängige Justiz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit und vor allem eine strenge Gewaltenteilung. Das waren alles neue Errungenschaften für die südeuropäischen Staaten Portugal, Griechenland und Spanien, die teilweise jahrzehntelang unter faschistischen Diktaturen gelitten hatten. Und es waren wieder die gemeinsamen Werte, die dazu führten, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die osteuropäischen Länder die Mitgliedschaft in der EU angestrebt haben und fast alle auch aufgenommen wurden. Die Aufnahme in diesen, früher doch hoch angesehenen Club freier Staaten war immer auch mit einem Geldsegen verbunden. Eines der Ziele der Gemeinschaft war und ist die Herstellung gleicher Lebensbedingungen durch einen solidarischen Finanzausgleich.
Ja, das war die EU, in der ich mich wohl fühlte, eine europäische Staatengemeinschaft, die sich zum Ziel gesetzt hatte, alte Grenzen, nationale Vorurteile und historische Spannungen abzubauen. Das sind die in den Römischen Verträgen festgelegten Werte.
Das real existierende Europa ist fade
Die Hilflosigkeit der Krokodilstränen vergießender Staats- und Regierungschefs zum Jahresausklang in Brüssel ist vor allem das Ergebnis davon, dass die EU seit Jahren zu viele Ihrer Grundsätze aufgegeben hat. Die wichtigste Säule eines jeden Staates und eines jeden Staatenbundes ist die Vertragstreue und die Einhaltung der gemeinsamen Werte und damit der Verträge. Aber genau diese Grundsätze haben die Berufseuropäer mit ihrem Geschwätz weggeredet. Warum soll ich noch an dieses heute real existierende Europa glauben? Woher soll die Begeisterung junger Menschen kommen, die das Europa des Zusammenwachsens nicht kennen gelernt haben - sondern nur den heutigen desolaten Zustand wahrnehmen?
Nein, ich glaube nicht dass die "Rechtspopulisten" für die Abwendung großer Bevölkerungsgruppen in fast allen Staaten von Europa verantwortlich sind, wie es die Berufseuropäer zusammen mit den Linken gern darstellen. Im Gegenteil, sie sind selbst die Versager. Wie soll sich ein denkender Mitbürger irgendwo in Europa für diese endlosen massenhaften Konferenzen begeistern, wenn dabei entweder Verträge herauskommen, an die sich niemand hält, oder eine neue Verordnung für den Wasserdurchlauf in der Dusche und die Saugkraft des Staubsaugers? Entweder finden sich genug Kräfte, die Europa wieder auf eine rechtsstaatliche Grundlage stellen, oder die EU ist eine Gemeinschaft, die keine Existenzberechtigung mehr hat.
Erste Entscheidungen müssen die Grundprinzipien der gemeinsamen Werte wieder in den Mittelpunkt stellen. Das heißt: Gewaltenteilung, persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit und Transparenz. Wer diese Grundprinzipien verletzt, muss mit Konsequenzen rechnen, und das heißt: Verringerung oder sogar Einstellung der Zahlungen aus Brüssel, wenn Abmahnungen nicht dazu führen, dass Rechtsgrundlagen der Union beachtet und vertragliche Verpflichtungen erfüllt werden. Hilft das immer noch nicht, muss das jeweilige Land die EU verlassen. Scheindemokratien gehören nicht in die Gemeinschaft.
Kein Platz für Freiheitskämpfer
Betrachten wir die Konferenzteilnehmer des jüngsten Gipfeltreffens: Da ist Polen noch stimmberechtigt, obwohl die Regierungspartei PIS die Gewaltenteilung unterminiert, indem sie die Gerichte entmachtet, die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränkt und offene Hetze gegen andere EU-Partner mit Lügen betreibt. Mit so einer Regierung will ich nicht solidarisch sein müssen, nur weil ihr Land einmal in die EU aufgenommen wurde.
In Brüssel dabei war auch Victor Orban, der Ungar. Er testet ständig, wie sehr er die EU herausfordern kann. Auch er spielt mit der Gleichschaltung der Justiz und der Medien - auch ihm begegnen die Berufseuropäer mit Samthandschuhen, anstatt klipp und klar zu sagen, wann er draußen ist, wenn er so weitermacht. Dann gab es auch noch den korrupten rumänischen Ministerpräsidenten Victor Ponta, der sein Heimatland skrupellos mit seinen Kumpanen ausgebeutet hat.
Und was tun die EU-Politiker? Die Konservativen haben Geduld mit Orban, die Sozialdemokraten halten zu Ponta. Nun hat seine Partei wieder die Mehrheit im rumänischen Parlament erobert und viele der Ganoven, gegen die Europas Korruptionsbehörde ermittelt, schwimmen wieder wie Fettaugen oben auf der trüben Brühe. Aber auch Bulgarien und Kroatien müssten strenger kontrolliert werden, damit die EU nicht zum Geldgeber für Paten des organisierten Verbrechens verkommt. Eine Union, die konsequent gegen Korruption und Klientelwirtschaft vorgeht, würde sicher sowohl in den geldgebenden als auch in den unterstützten Ländern ungleich mehr Zustimmung finden als es derzeit der Fall ist.
Subventionsjäger und Steuertrickser
An der EU-Konferenz zum Jahresabschluss in Brüssel nahm auch der irische Ministerpräsident Enda Kenny teil. Seine Regierung weigert sich, von Apple 13 Milliarden Euro an Steuern einzufordern, die dem Staat laut EU-Prüfung zustehen, die er aber nicht haben will, weil er auf seine Vorteile als Steueroase nicht verzichten möchte. Da stellt sich schon die Frage, weshalb die anderen EU-Staaten weiter Hilfszahlungen an Irland leisten, obwohl sich das Land unsolidarisch verhält. Die Rolle von Luxemburg als Steuersparmodell sei hier wenigstens erwähnt, Junckers Rolle dabei wäre einen eigenen Beitrag wert.
Widersprüche und Willkür: Die EU hat ihre Anziehungskraft als Vorbild der Freiheit verloren. Deshalb ist es so leicht, gegen sie Stimmung zu machen. Die Gemeinschaft ist zu einem Verein der Subventionsverteilung degeneriert und das ist der Nährboden, auf dem vom griechischen Linkspopulisten Tsipras bis hin zum polnischen Rechtspopulisten Kaczynski die Nationalisten grasen. Versperren wir ihnen mit der Rückkehr zu den Regeln der Rechtsstaatlichkeit den Zugang zu den fetten Wiesen eines erfolgreichen Europas.
Im zweiten Teil lesen Sie morgen: Was geschehen muss, um Europa zu retten.