Pieter Cleppe, Gastautor / 23.05.2020 / 15:00 / Foto: Yann / 9 / Seite ausdrucken

EuGH contra Verfassungsgericht: Ein Vorschlag zur Güte

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ist der letzte Schiedsrichter, wenn es um die Auslegung der EU-Verträge geht. Dieser Gerichtshof hat viel Gutes getan, um Barrieren zwischen den europäischen Ländern zu beseitigen, indem er beispielsweise Deutschland verurteilt hat, weil es einen französischen Likör, Cassis de Dijon, nicht auf seinem Markt zugelassen hat.

Gleichzeitig wurde dem Gericht vorgeworfen, das Subsidiaritätsprinzip verletzt zu haben, das es eigentlich schützen soll. Das hat zumindest das Bundesverfassungsgericht soeben entschieden, als es zum Urteil des EuGH zu einem der vielen EZB-Programme, die direkt oder indirekt die Staatsausgaben stützen und gleichzeitig die Ersparnisse der Leute untergraben, urteilte, er habe „ultra vires“ gehandelt. Danach stellte der Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber sogar fest, dass es nicht mit der Ewigkeitsklausel in der [deutschen] Verfassung vereinbar ist, keine Bedingungen an die Überlegenheit des EU-Rechts zu stellen. Diese Klausel, die nicht abgeschafft werden kann, schließt eine Beendigung des demokratischen Charakters der deutschen Republik faktisch aus.

Das trifft wirklich den Kern der Demokratie. Auf Bloomberg erklärt Kolumnist und Chefredakteur Andreas Kluth:

„Wenn die EZB, die nicht gewählt wurde und in der Tat unabhängig ist (weil Deutschland in den 1990er Jahren darauf bestand, dass sie es sein muss), beschließt, riesige Mengen ungewisser Anleihen aufzunehmen, dann müssen die nationalen Zentralbanken, denen die EZB gehört, die Geschäfte immer noch ausführen. So häuft beispielsweise die Bundesbank weiterhin risikoreiche Vermögenswerte in ihrer eigenen Bilanz an. Wenn diese an Wert verlieren, muss die deutsche Regierung Geld aus dem Staatshaushalt rausrücken. Aber der Bundestag, der die verfassungsrechtliche Pflicht hat, diesem Haushalt zuzustimmen, war nie Teil der Entscheidung. Und wenn es jenseits des Parlaments ist, ist es auch jenseits der Wähler.“

Entscheidungen auf Basis schlampiger Argumentation

Dies ist eine langjährige Debatte. Der juristische Aktivismus des EuGH hat eine große Rolle bei der Auslösung des Brexit gespielt, aber auch in deutschen politischen Kreisen gab es Unzufriedenheit über die Tendenzen der europäischen Richter.

So hat beispielsweise der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog 2008 dem EuGH schriftlich vorgeworfen, das Subsidiaritätsprinzip, das er schützen soll, verletzt zu haben:

„Die richterliche Entscheidungsfindung in Europa ist in großen Schwierigkeiten. Der Grund dafür liegt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), dessen Rechtfertigungen dafür, dass den Mitgliedstaaten ihre ureigensten Grundkompetenzen entzogen werden und sie sich stark in ihre Rechtssysteme einmischen, immer erstaunlicher werden. Damit hat er einen großen Teil des Vertrauens, das er früher genoss, verspielt.“

Nach Überprüfung einiger Entscheidungen des EuGH ist Herzog zu dem Schluss gekommen, dass „der EuGH die Kompetenzen der Mitgliedstaaten selbst in den Kernbereichen der nationalen Zuständigkeiten untergräbt“. Darüber hinaus stellte er fest, dass „der EuGH absichtlich und systematisch Grundprinzipien der westlichen Rechtsauslegung ignoriert, seine Entscheidungen auf schlampiger Argumentation beruhen, er den Willen des Gesetzgebers ignoriert oder ihn sogar in sein Gegenteil verkehrt und Rechtsgrundsätze erfindet, die als Grundlage für spätere Urteile dienen“.

Verwirklichung einer „immer engeren Union“

Auch der ehemalige Präsident des belgischen Verfassungsgerichtshofs, Marc Bossuyt, beklagte, dass der EuGH seine Kompetenzen ausweitet und damit die ernsthafte Gefahr einer „Regierung durch Richter“ heraufbeschwört.

Dass der EuGH gelegentlich als Motor der EU-Maschinerie und nicht als Kontrollinstanz gewirkt hat, sollte vielleicht nicht einmal den EuGH-Richtern persönlich angelastet werden. In der Geschichte haben auch andere Verfassungsgerichte in föderalen Gebilden, wie der Oberste Gerichtshof der USA, im Laufe der Zeit dazu tendiert, die Zentralisierung zu begünstigen. Darüber hinaus weist die Präambel der EU-Verträge den EuGH an, zur Verwirklichung einer „immer engeren Union“ beizutragen.

Während es umstritten ist, welche rechtliche Bedeutung dies tatsächlich hat, hat der derzeitige Präsident des EuGH, Koen Lenaerts, selbst zugegeben, dass der EuGH die Präambel als Richtschnur benutzt. Er sagte auch, dass unklare Textstellen in den EU-Verträgen oft „ganz bewusst“ eingefügt worden seien, wenn Politiker sich nicht einigen konnten, so dass es dem EuGH überlassen bleibt, die Lücken zu füllen, wenn Probleme auftreten.

Ab 2010 hat der Vertrag von Lissabon die Befugnisse des EuGH erweitert, sodass er zum Beispiel in den Bereich der EU-Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres eindringen und die Charta der Grundrechte der EU als Grundlage für die Beurteilung der nationalen Gesetzgebung heranziehen kann, wodurch der Einfluss der EU immer größer wird.

Verlassen der Kernaufgaben

Ein Beispiel dafür, wie der EuGH übers Ziel hinausschießen kann, war sein „Mangold“-Urteil aus dem Jahr 2005, mit dem er eine deutsche Maßnahme verbot, die es 52-Jährigen vorübergehend erlaubte, ohne Einschränkungen Zeitarbeitsverträge abzuschließen, um ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Zuvor musste man mindestens 58 Jahre alt sein. Der EuGH berief sich nicht einmal auf eine Richtlinie, gegen die verstoßen worden wäre, sondern behauptete, dass ein „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“, ein Verbot der Altersdiskriminierung, nicht eingehalten worden sei.

Man kann nur vermuten, was dieses – ansonsten lobenswerte – Prinzip mit der Kernaufgabe der EU zu tun hat, Barrieren zwischen den Ländern zu beseitigen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied 2010 in dieser Frage. Es stimmte zwar inhaltlich mit der Einschätzung des EuGH überein, erinnerte aber vor allem ausdrücklich daran, dass es seine eigene Aufgabe ist, zu prüfen, ob das Gleichgewicht der Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten respektiert wurde.

Dies führt uns zu der Frage, wie der EuGH in Schach gehalten werden kann. Anstatt in Erwägung zu ziehen, rechtliche Schritte gegen Deutschland einzuleiten, hätte die Europäische Kommission in der Tat eher mit dieser Frage auf das jüngste Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts reagieren müssen.

Politikbereiche der EU-Kontrolle unterwerfen

Die Schaffung eines EU-Subsidiaritäts-Gerichts könnte ein kreativer Kompromiss zur Beilegung der Angelegenheit sein. Dies würde eine Änderung der EU-Verträge erforderlich machen. Diese neue Institution würde sich aus den Präsidenten der Verfassungsgerichte der Mitgliedsstaaten zusammensetzen. Man wäre in der Lage, gegen jede Entscheidung des EuGH aus Gründen der „Subsidiarität“ oder der Kompetenzverteilung Berufung einzulegen. Abgesehen davon könnten die Mitgliedstaaten, unabhängig von einem konkreten Fall, die EU-Kommission, die in dieser Hinsicht nicht viel unschuldiger ist als der EuGH, durch ein sogenanntes „umgekehrtes Vertragsverletzungsverfahren“ vor das Subsidiaritätsgericht bringen, um sie zu zwingen, die EU-Gesetzgebung zu ändern, wenn die EU die nationale Souveränität verletzt hat.

Ähnlich wie in der belgischen und französischen Rechtsordnung prüft der „Kassationsgerichtshof“ nur, ob das rechtliche Verfahren eingehalten wurde, ohne sich mit den spezifischen Fakten eines jeden Falles zu befassen, könnte ein solches EU-Subsidiaritäts-Gericht den EuGH nur dann außer Kraft setzen, wenn die EuGH-Richter erneut ihr Mandat missbraucht hätten, um Politikbereiche der EU-Kontrolle zu unterwerfen, indem sie beispielsweise einen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ aufgestellt hätten, um die Ungültigkeitserklärung spezifischer nationaler Gesetze zu rechtfertigen.

Ein zwischenstaatliches Kindermädchen für den EuGH

Eine Variante dieses Vorschlags des spanischen EU-Rechtsprofessors Daniel Sarmiento ist die Schaffung einer „Verfassungskammer“ innerhalb des EuGH, ein Ad-hoc-Gremium, das über Kompetenzstreitigkeiten entscheidet und sich aus EuGH-Richtern und nationalen Spitzenrichtern zusammensetzt.

Natürlich müssten die nationalen Verfassungsgerichte mehr Personal einstellen, und diejenigen Mitgliedsstaaten, die kein nationales Verfassungsgericht haben, müssten ein neues unabhängiges Justizorgan schaffen, das auf die Verteilung der Kompetenzen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten spezialisiert ist. Die Tatsache, dass das Subsidiaritäts-Gericht unabhängig und der EU-Maschinerie übergeordnet wäre und gleichzeitig ein integraler Bestandteil der nationalen Rechtsordnung bliebe, würde es zu einem echten zwischenstaatlichen Kindermädchen für den EuGH machen.

Dies ist eine Aktualisierung eines ursprünglich in der Zeitschrift New Direction (S.38) veröffentlichten Artikels aus dem Jahr 2020, der das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai über das PSPP-Programm der EZB zum Anleihekauf von Anleihen mit berücksichtigt.

 

Pieter Cleppe ist ein unabhängiger Publizist mit Sitz in Brüssel. Er ist Non-Resident Fellow der Property Rights Alliance. Twitter: @pietercleppe.

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Karla Kuhn / 23.05.2020

“Wie könnte man das Problem lösen?”  Als juristischer Laie aber äußerst pragmatische Person sage Ich, JEDES Land muß ganz einfach ALLEINE die JURISTISCHE Deutungshoheit behalten !!  Einen Europäischen Gerichtshof braucht es meiner Meinung nicht. WARUM sollen wir uns   vorschreiben lassen, WAS wir zu tun und zu lassen haben ?? Vor ALLEM wenn es um die FINANZEN geht ??  Das Geld, was von der EZB verwaltet wird, gehört den STEUERZAHLERN !!  Das BUNDESVERFASUNGSGERICHT hat geurteilt und NUR daran hat sich unsere Regierung zu halten. Das ist meine Meinung und wenn es so weitergeht, daß die Urteile angefochten werden können, vom Eugeh, wird es wahrscheinlich die EU am längsten gegeben haben ! Dazu noch die unselige SCHULDENUNION, die Macron und Merkel den STEUERZAHLERN aufs Auge drücken wollen, wird wahrscheinlich den Untergang noch beschleunigen. Die EU, die als solche gedacht war, ist schon längst nicht mehr die EU, die jetzt- für mich- nur noch ein riesiger Moloch ist,  mit einer Frau an der Spitze, die UNGEWÄHLT auf den Sessel gehievt wurde, trotz der Millionen Affaire ! (Abgesehen von der BW!)

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Pieter Cleppe, Gastautor / 10.04.2024 / 12:00 / 3

Die Bauern lassen Brüssel keine Ruhe – und auch die Industrie nicht!

Die Proteste der Landwirte sind zwar hierzulande aus den Medien verschwunden. Sie erschüttern aber weiterhin Brüssel. Auch die Industrie macht sich immer mehr Sorgen wegen…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 17.02.2024 / 10:00 / 14

EU-Handels-Suizid im Namen des Klimas

Die EU erschwert mit immer bizarreren Auflagen den internationalen Handel und schießt sich dabei selbst ins Knie. „Klimaschutz“ gäbe es auch viel billiger. Im Vorfeld…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 06.02.2024 / 14:00 / 6

Der Welthandel und das Pulverfass Nahost

Viele Frachtschiffe, die von Asien nach Europa fahren, meiden jetzt das Rote Meer und die Suezkanal-Route, weil die jemenitischen Huthi-Rebellen Schiffe in der Region angreifen.…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 18.01.2024 / 11:00 / 32

Muss „Klimarettung“ immer links sein?

... oder gibt es auch eine wirklich marktwirtschaftliche Variante? Vielleicht ist ja gerade die gängige Plan- und Kontrollwirtschaft das Problem. Überlegungen aus Anlass der WEF-Konferenz…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 30.12.2023 / 10:00 / 43

Der EU-Kurs: Ohne Kompass ins Jahr 2024

Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ist eine der treibenden Kräfte des aktuellen EU-Kurses, der aber zunehmend mit den Entwicklungen in den Mitgliedsstaaten…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 13.12.2023 / 12:00 / 20

EU-Gipfel: Zwickmühlen zwischen schlecht und noch schlechter

Vor dem bevorstehenden EU-Gipfel haben sich zahlreiche Probleme aufgestaut. Wie die oft fundamentalen Zwickmühlen gelöst werden sollen, weiß eigentlich keiner. Und es geht um Geld,…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 01.12.2023 / 14:00 / 16

Saubere Energie durch freie Märkte

Von Pieter Cleppe und Rod Richardson. Ein internationales Klimaabkommen ist in Arbeit. Es soll die Märkte für Wettbewerb, Handel, Innovation und beschleunigte Kapitalflüsse öffnen, indem wichtige Markt- und…/ mehr

Pieter Cleppe, Gastautor / 21.11.2023 / 14:30 / 4

Mark Rutte – der Nachgeber

Im Vorfeld der niederländischen Wahlen am 22. November lohnt es sich, eine Bilanz der Leistungen des Mannes zu ziehen, der die niederländische Politik seit 13…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com