Peter Grimm / 22.04.2022 / 06:00 / Foto: Bundesarchiv / 92 / Seite ausdrucken

Es wird wieder zurückgetreten

Seit zwei Wochen deutet sich eine unerwartete Veränderung in der politischen Kultur der Bundesrepublik an: Im Unterschied zu den vergangenen Jahren treten Politiker plötzlich wieder zurück.

Zwei Rücktritte von Ministerinnen und ein Rücktritt einer Parteivorsitzenden innerhalb von zwei Wochen – das gab es in Deutschland schon lange nicht mehr. In den letzten Jahren hat sich kein hochkarätiger Amtsträger freiwillig von seiner Position verabschiedet. Dass Ministerpräsident Armin Laschet vorzeitig aus seinem Amt schied, entsprach seinem Versprechen, nach der Bundestagswahl in jedem Falle nach Berlin zu wechseln und war somit von vornherein geplant. Der letzte Rücktritt in dieser Liga, mit dem die Konsequenz aus eigenem politischen Scheitern gezogen wurde, war wohl der von Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Parteivorsitzende. Der Rückzug von Thüringens Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich zählt nicht, denn der räumte seinen Posten ja schon, bevor er ihn wirklich bezogen hatte.

Rücktritte waren offenbar nicht mehr en vogue bei den deutschen Verantwortungsträgern, auch nicht nach veritablen Fehltritten. Ich erspare mir an dieser Stelle, aufzuzählen, wer in den vergangenen Jahren aus welchen Gründen hätte eigentlich anständigerweise seinen Hut nehmen sollen. Jedem dürften da einige Namen einfallen, denn ein Stoßseufzer war oft zu hören: „Hätte man dafür früher nicht zurücktreten müssen?“

Nun mag das früher mit den Rücktritten auch nicht ganz so berauschend gewesen sein, wie sich manch Ältere jetzt erinnern, aber es kam in den letzten Jahren auf hoher und höchster Ebene kaum noch vor, dass auf einen Fehltritt ein Rücktritt folgte. Rücktrittsforderungen gab es selbstverständlich immer wieder, doch die, so schien es, konnte man heutzutage aussitzen. Insofern war der 7. April dieses Jahres bemerkenswert. Die Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen hatte gerade keine gute Presse, weil sie in der opferreichen Flutkatastrophe vor einem Jahr, nachdem zunächst auch Staat und Behörden versagten, zum Feiern nach Mallorca flog. Doch Konsequenzen für ihre politische Karriere fürchtete sie am Anfang dieses Tages offenbar noch nicht. In einer Meldung von tagesschau.de hieß es zunächst:

„Der Mallorca-Aufenthalt von NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) während der Flutkatastrophe war bereits mehrfach Gegenstand kritischer Betrachtung. Am Mittwochabend veröffentlichte der Kölner Stadt-Anzeiger neue Details dazu, die am Donnerstag von Heinen-Esser bestätigt wurden. Einen Rücktritt wegen dieser Neuigkeiten lehnte sie ab. Den Vorwurf, das Parlament getäuscht zu haben, wies sie entschieden zurück. (…)

In einer Erklärung am Donnerstag in Düsseldorf sagte Heinen-Esser, sie verstehe, „dass es als unsensibel empfunden wird", nach der Flut „eine gute Woche" nicht in NRW gewesen zu sein. „Ich bedauere, dass ein falsches Bild entstanden ist." Heute würde sie sich „anders organisieren". (…)

Ursula Heinen-Esser sagte, sie habe alle Fragen der Parlamentarier in der Sache bislang „in aller Offenheit und Transparenz" beantwortet. Einen Rücktritt lehnte sie mit dem Hinweis auf zwei wichtige Herausforderungen, die sie jetzt verantworten wolle, ab. Dazu gehöre neben den Folgen der Hochwasserkatastrophe die Lebensmittelversorgung in der Ukraine-Krise.“

Soweit entsprach das dem inzwischen üblicherweise gepflegten Umgang mit Rücktrittsforderungen. Aber nur wenige Stunden später meldete rp-online.de:

„Am späten Donnerstagnachmittag hat die NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) ihren Rücktritt bekannt gegeben – 38 Tage vor der Landtagswahl. „Ich bedaure das Bild, das mein eigenes Handeln und die nachträgliche Darstellung erzeugt hat“, sagte Heinen-Esser im Landtag. „Dieses Bild entspricht nicht dem, wie ich wirklich bin. Aber mit diesem Bild von mir in der Öffentlichkeit ist das notwendige Vertrauen in mich als Ministerin nachhaltig in Frage gestellt.“ Die Politikerin sagte, sie habe Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ihren Rücktritt angeboten – und der habe ihn angenommen.“

Vielleicht ein Einzelfall?

Vielleicht, so konnte man glauben, war das nun ein dem nahenden Wahltag geschuldeter Einzelfall. Doch am 10. April konnten die Zuschauer abends im heute journal sehen, wie Bundesfamilienministerin Anne Spiegel beinahe unter Tränen Fehler als Landesministerin in Rheinland-Pfalz im Umgang mit der Flutkatastrophe eingestand. Sie hatte es vorgezogen, während in den Flutgebieten fürchterliche Zustände herrschten, mit der Familie in einen längeren Urlaub nach Frankreich zu reisen. Dafür bat sie nun um Verständnis und schilderte in einem emotionalen Auftritt ihre private Situation so dramatisch, als hätte sie gar keine Alternative zum Urlaub gehabt. ZDF-Redakteur Theo Koll fand diesen Auftritt dann auch menschlich ergreifend. Einen Rücktritt hielten die ZDF-Kollegen zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht für zwingend.

Doch einen Tag später trat die grüne Ministerin Spiegel bekanntlich zurück. Ein zweiter Einzelfall?

Am 20. April nun überraschte die Linken-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow mit einem Rücktritt, den zuvor noch gar keiner gefordert hatte. Sie hielt ihn, angesichts des Zustands ihrer Partei, für geboten, obwohl sie – im Unterschied zur noch amtierenden Vorsitzenden Janine Wissler – in keinem Bezug zu den Vorwürfen sexueller Übergriffe im hessischen Landesverband steht.

Wissler will die Partei nun zunächst allein weiterführen und nicht zurücktreten. Aber wer weiß? Unter Druck steht die Genossin nun allemal und Rücktritte sind mittlerweile nicht mehr so ungewöhnlich.

Aktuell werden auch noch ein paar andere Rücktritte wegen Fehltritten gefordert. Beispielsweise bekommt Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) selbige gerade aus verschiedenen Richtungen. Die kommen nicht nur von der Opposition daheim in Schwerin, sondern auch aus den Reihen der SPD-Koalitionspartner in Berlin. Bild berichtete beispielsweise:

„FDP-Politikerin Linda Teuteberg (40) fordert die Mecklenburg-Vorpommersche Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (47, SPD) zum Rücktritt auf. Ihr Verhalten in der Nord-Stream-Affäre sei „unanständig und untragbar“.

Ein Rücktritt von Schwesig wäre „angemessen“, sagte sie am Donnerstag bei BILD Live. Teuteberg-Klartext: „Wenn die Vorwürfe gegen Schwesig stimmen, dass sie zwei Leute eingestellt hat, um Genehmigungen für Stiftungen zu erlangen, dann war sie Unternehmens-Lobbyistin eines fremden Landes.“

Seit Tagen lehnt Schwesig einen Rücktritt ab, aber vielleicht lassen sich solche Forderungen nicht mehr so routiniert aussitzen wie noch vor Wochen.

In Hessen wird derweil wegen eines Lebensmittelskandals der Rücktritt der grünen Umweltministerin Priska Hinz gefordert. Und auch Männer werden von Rücktrittsforderungen aktuell erfasst, wie der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU), der wegen des Vorwurfs der Vetternwirtschaft bei Stellenbesetzungen unter Beschuss steht.

Könnte es in den nächsten Wochen also tatsächlich zu einer kleinen Rücktrittswelle kommen? Das wäre in dieser Form zwar neu für die bundesrepublikanische politische Kultur, aber wir erleben ja in diesen Wochen viel Neues. Inflationsraten in der gegenwärtigen Höhe kannten die allermeisten Bundesbürger ja auch noch nicht, zumindest nicht im eigenen Land.

Nachtrag:

Kurz nach Erscheinen dieses Artikels ließ Sachsens Ministerpräsident Kretschmer verlauten, dass er seinen Innenminister Roland Wöller entlässt. Wer nicht zurücktreten will, muss inzwischen in manchen Fällen also nun sogar den Rauswurf fürchten.

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Karsten Dörre / 22.04.2022

Vielleicht liegt es nur daran, dass die bleierne Merkel-Zeit vorbei ist.

Rainer Niersberger / 22.04.2022

Selbst wenn es mit den Ruecktritten so waere oder kaeme, wuerde damit das Problem nicht geloest. Zum einen kosten uns die Damen auch nach dem Rücktritt noch viel Geld wie wir wissen, zum andern kommt es auf die Nachfolge an. Zu glauben, diese waere besser, grenzt schon ziemlich an Naivität, denn die Mechanismen bei der Auswahl aendern sich nicht. Es folgt die naechste, mindestens aehnlich Nichtqualifizierte, nach und so kann man moeglichst vielen zur Alimentation verhelfen.  Es geht nicht um permanente Ruecktritte wegen offenkundiger, bereits vorher bekannter, Unfähigkeit, sondern ein voellig neues Politsystem, womit wir wieder einmal beim Problem der systemkonformen Liberalkonservativen waeren.

Michael Schauberger / 22.04.2022

Manuela Schwesig…war das nicht eine der ganz wenigen Politiker, die korrekterweise an einer Inbetriebnahme von Nord Stream II festgehalten hat? Insofern müßte man ihr dankbar sein, anstatt sie des Lobbyismus für fremde Länder zu bezichtigen. Wäre das Ding heute in Betrieb, so hätten wir jetzt keine explodierten Energiekosten. Rücktritt, Herr Grimm, ist also nicht gleich Rücktritt! Apropos Lobbyismus für fremde Länder: Wer so etwas fordert, der muß auch die ganzen Lobbyisten in Brüssel und Berlin ausladen. Ferner sind sämtliche US-Funktionäre als Berater der Bundesregierung sofort zurückzusenden. Dann, und erst ab dann, wäre es EU-Europa möglich, mit Rußland in einem vernünftigen Ton über Frieden auf dem eurasischen Kontinent zu verhandeln. Aber in Sachen Kriegstreiberei und widerrechtliche Waffenlieferungen, auch über Bande, sind keine Rücktritte zu erwarten, denn sie kämpfen ja für “die Guten”. Mahlzeit!

A.Heinz / 22.04.2022

Ändern diese Rücktritte irgend etwas an den angerichteten Schäden? Kommt einer der knapp 2000 Toten der Ahrtalkatastrophe wieder? Ich kann dieses “ich übernehme die politische Verantwortung” dieses “Spitzen"personals nicht mehr hören. Solange diese Versager ihre Pfründe mitnehmen und behalten können sowie nicht persönlich haften, ist etwas grundlegend falsch und weitere Nieten werden sich im Postengeschacher um diese Ämter wie Fliegen um eine ...-Haufen ratzfatz einfinden. Denn es gibt ja nichts zu verlieren (außer vielleicht einem Ruf) Nein, solche Ämter müssen mit einer persönlich Haftung verbunden sein und eine parlamentarische Immunität darf solches Treiben nicht schützen: Solange “nur” Millionen oder Milliarden an Euro Schaden entstanden ist (Scholz’ Cum-Ex- & Wirecartskandal , Wowereit’s & Platzeck’s Flughafendesaster) würde mir eine Verweigerung aller Pensionsbezüge und Übergangsgelder noch genügen. Da wo (zusätzlich) Tote zu verantworten sind (Spiegel, Heinen-Esser) und/oder aktiv gegen bestehendes Recht verstoßen wurde (Merkel, ... von den Verantwortlichen für die Toten der Coronamaßnahmen, sei es nach der sogenannten “Impfung” oder den Suiziden, weil man den Menschen ihre Existenz genommen oder sie in Panik versetzt hat, will ich erst gar nicht anfangen ...) gehören dieses Personen vor ein ordentliches Gericht.

Rainer Hanisch / 22.04.2022

Was soll der ganze Rummel um “Rücktritte”? Hätten “die Wähler” vorher nachgedacht, wären manche Elite-Politiker gar nicht erst zum Zug gekommen. Irgendwelche Konsequenzen haben “Rücktritte” oder “Übernahmen politischer Verantwortung” sowieso nicht; schon gar keine strafrechtlichen oder gar finanziellen. Frau Merkel hat in ihren 16 Jahren Monarchie ganze Arbeit geleistet, jegliche Konkurrenz auszuschalten. Und das auf viele Jahre. Alles, was irgendwie noch nach Kadern mit fachlicher und politischer Kompetenz aussah, wurde plattgemacht. Selbst “Quereinsteiger”, die den ganzen Scherbenhaufen wieder einigermaßen flott kriegen würden, findet man heutzutage kaum. Dschland ade, auf Nimmerwiedersehen!

Reinmar von Bielau / 22.04.2022

Verantwortung zu übernehmen, für das eigene Fehlverhalten, fällt der heutigen Politikergeneration extrem schwer. Koberern vom Schlage einer Manuela Schwesig umso mehr. Sie, die ihre halbe Familie (oder sogar mehr?), beim Land Mecklenburg-Vorpommern in gut dotierten Ämtern untergebracht hat, wird sich mit Zähnen und Klauen gegen einen Rücktritt wehren. Selbst, wenn sie dabei der eigenen Partei weiteren Schaden zufügt. Aber in dieser Position befindet sie sich ja nicht alleine, da ist sie in trauter Runde mit vielen hohen Herren und Damen der SPD. Einschließlich unseres Bundespräsidenten und des Kanzlers.

lutzgerke / 22.04.2022

Irgendwie geht alles so weiter wie gewohnt. Die Chance, die Linkspartei in die Tonne zu treten, wird wieder vertan. Die Geschichte des Widerstands ist eine Geschichte vertaner Chancen.

H. Krautner / 22.04.2022

Niemand ist hier zurückgetreten, Ausnahme die Frau von den Linken. Alle anderen sind zurückgetreten worden. So weit, dass Versager eigenständig die Konsequenzen ziehen und zurücktreten sind wir hier in Deutschland noch lange nicht. Wenn das so wäre, dann wäre aber etwas los in der deutschen politischen Landschaft. Dann kämen wir ja nicht mehr nach, sich die vielen neuen Namen zu merken.

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