Chaim Noll / 13.05.2020 / 06:24 / Foto: Pixabay / 48 / Seite ausdrucken

Epitaph für Johanna

Dieser Tage erreichte mich die Todesnachricht von Johanna G., einer evangelischen Pfarrerswitwe in Kaufbeuren im Allgäu. Sie wurde 92 Jahre alt und ist kurz vor der Corona-Krise gestorben (der Brief mit der Todesanzeige erreichte mich wegen der Langsamkeit unserer Wüstenpost erst jetzt). Ich habe Johanna G. nie gesehen, doch einige Briefe mit ihr gewechselt und einmal mit ihr telefoniert, nachdem sie Bücher von mir gelesen und mir dazu geschrieben hatte.

Johanna G. hat Ende der dreißiger Jahre als Schülerin an einem deutschen Gymnasium meinen gleichaltrigen Vater vor den Schikanen und gewalttätigen Angriffen seiner deutschen Mitschüler in Schutz genommen. Mein Vater galt als sogenannter „jüdischer Mischling“, er hatte einen durch Arier-Nachweis legitimierten Vater, bei dem er leben und das Gymnasium besuchen durfte, während seine jüdische Mutter im Gefängnis, später im KZ Theresienstadt war.

Johanna soll eine Art zivilen Widerstand gegen das verabredete Mobbing des „Halbbluts“ organisiert und eine Gruppe anderer Mädchen, darunter Töchter einflussreicher örtlicher Geschäftsleute und höherer Beamter, dazu bewogen haben, sich bei der Schulleitung zu beschweren. Die Lage meines damals 15-jährigen Vaters, der täglich von einer Gruppe Hitlerjungen verprügelt wurde, hätte sich dadurch erheblich erleichtert, erfuhr ich Jahrzehnte später, zumindest die offenen, durch ihre Spuren sichtbaren Gewalttätigkeiten unterblieben, da sie, wie der Schuldirektor den übereifrigen Hitlerjungen auseinandersetzte, „deutscher Jungen unwürdig“ wären.

Auf meinen Vater hatte das juvenile Erlebnis, von Gleichaltrigen stigmatisiert und verfolgt zu werden, den Effekt eines Traumas. Er kompensierte es später durch besondere Anpassungssucht und Mitläufertum in einem anderen totalitären Regime, womit er dem guten Beispiel seiner Mitschülerin Johanna leider nicht folgte. Er sah sie erst wieder nach dem Zusammenbruch seines Staates, der DDR, bei einem Besuch im Allgäu. Dass er überhaupt dorthin fuhr, in die ihm verhasste Bundesrepublik, war ein Eingeständnis von Johannas moralischer Überlegenheit.

Der kollektiven Gehirnschwäche dieser Tage verfallen

Sie war konservativ, CSU-Wählerin, gläubig, aktiv in der Kirche, sie war genau das, was mein Vater aus tiefster Überzeugung ablehnte. Er besuchte sie dennoch bis zu seinem Tod noch viele Male. Zu meiner Überraschung hat er mir selbst die Geschichte dieser wiederaufgenommenen Freundschaft erzählt und zum ersten Mal – mit Ende Siebzig – über seine Erniedrigungen und Verletzungen in der Nazi-Zeit gesprochen. Er hatte seine jüdische Mutter jahrzehntelang als Makel empfunden und auch in der DDR nach Möglichkeit verschwiegen. Die Begegnungen mit der christlichen Schulfreundin halfen ihm, mit dieser Verwirrung fertig zu werden.

Was die damals 15-jährige Johanna getan hat, war keine Heldentat – so sah sie es selbst. Sie hätte sich verhalten, sagte sie zu mir am Telefon, „wie sich jeder vernünftige Mensch in ihrer Lage verhalten hätte“. Es schien für sie von geringer Bedeutung zu sein, ob die meisten Anderen der kollektiven Gehirnschwäche dieser Tage verfallen waren oder nicht – sie hatte die Zivilcourage, anderer Meinung zu sein. Gerade heute, da man wieder in Verzweiflung geraten möchte angesichts gewisser Archetypen, die dieses Land offenbar nicht los wird, Denunzianten, despotische Beamte, Untertanen und Mitläufer bis in den Untergang, gerade heute tut es wohl, sich an Menschen wie Johanna G. zu erinnern. An Einzelne, die dem Wahnsinn der Mehrheit widerstanden.

Foto: Pixabay

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Rainer Hanisch / 13.05.2020

„wie sich jeder vernünftige Mensch in ihrer Lage verhalten hätte“: Wo sind denn heute die “vernünftigen Menschen”? Der Großteil versumpft in seiner Wohlfühlblase, unempfänglich für alles, was um ihn herum passiert. Und leider auch extrem empfänglich für alle Arten von Manipulationen! Jeder Dünnsch…  wird für der Weisheit letzter Schluss hingenommen, die Courage, eine eigene, vom Mainstream abweichende Meinung zu haben, hat die Masse wohl höchstens noch in den eigenen 4 Wänden. schlimmer, als zu DDR-Zeiten. Da gab es immer noch Menschen, die sich trauten, eine eigene Meinung zu haben und diese auch öffentlich zu vertreten. Ohne die oft zitierten “Repressalien” durch die Stasi. Ich spreche aus eigener Erfahrung! Ich selbst habe nicht immer das gesagt, was “gehört werden wollte” und kenne auch einige Leute, die gleiches getan hatten. Ohne “Einweisung in Bautzen” o. ä.! Nicht einmal berufliche Konsequenzen hatte das für mich. Im Gegensatz zu den heutigen Zuständen (Steimle, Naidoo und andere). Nein, auf diese “Freiheit” pfeife ich! Leider glaubte auch mein Vater, der Westen sei das Paradies, er erlebte diesen Irrtum leider nicht mehr. Übrigens war er zeitlebens bekennender Katholik, ohne (!) Nachteile hinnehmen zu müssen (z. B. keine Aufstiegsmöglichkeiten, kein Studium und ähnlichen Blödsinn). @Herr Kief: “vielleicht sogar vom Regime Getötete könnte eine Christin in der DDR gewesen sein.” Christen wurden auch in der DDR nicht “getötet”, wohl im Land geirrt?

giesemann gerhard / 13.05.2020

Diese junge Mädchen ist eine Jeanne d’Arc, eine Johanna der Zeit damals, die auf ihre Selbstwirksamkeit vertraut hat: Immerhin sind ihre viele gefolgt, haben sich sogar dazu verstiegen, das Verhalten der Jungrabauken als “undeutsch” zu brandmarken. So wie der Gebrauch des Wortes “unislamisch”, wenn wieder mal unter “Heil Islam” (“Islam u al hal” - der Islam ist die Lösung, das Heil - Hauptspruch der Moslembrüder) etwas Anderes durchbricht. Am Ende hat sich allerdings der mainstream Bahn gebrochen. Und heute? Was ist aus der jüdischen Ehefrau Ihres Vaters geworden? Ihrer Großmutter? Wer oder was bringt eigentlich heute weite Teile der Politik dazu, alles, was uns ausmacht über Bord zu werfen, nur um uns bei Moslemmännern an zu biedern? Auf Kosten nicht zuletzt der muslimischen Mädchen und Frauen? Stichwort Kinderehen. Wann wird es den Roths, den Kaddors, den Göring-Eckhardts, den Merkels und Co. und zahlreichen Anderen mal so peinlich, dass sie auch sagen: Islam ist “undeutsch” - ganz im damaligen - positiven - Sinne der Begebenheit zu Johanna G. seinerzeit? Die Geschichte ist sehr berührend und sie sagt uns gerade heute sehr viel. Man kann schon etwas bewegen, aber es ist anstrengend, es ist riskant - und es geht sich nicht immer gut aus. Johanna G. hat sich einen Platz im Paradies verdient. Sofern es eins gibt.

Dr. jur. Hannelore Weimar / 13.05.2020

Tränen flossen, auch bei meinem lieben Mann. Wir sind Beide um die Achtzig. Ja, ja, Frau Merkel und die ganzen Linksgrünen haben uns deformiert. Was waren wir doch einst eine glückliche formierte Gesellschaft. Oder etwa nicht? Immerhin hat Hannah Arendt erkannt, dass Heidegger ein in der Wolle gefärbter Nazi war und blieb. Aber das ist eine andere Story.

Michael Stoll / 13.05.2020

Werter Herr Noll, ich habe Ihren bewegenden Artikel zweimal gelesen. Tolle Frau, “konservativ, CSU-Wählerin, gläubig, aktiv in der Kirche, ...” und ein Beispiel mehr, dass Thilo Schneider irrt, wenn er behauptet: “Sie waren alle dabei. Mal mehr, mal weniger.” Zuerst habe ich, statt “kollektiver Gehirnschwäche”, kollektive GehirnWÄSCHE gelesen. Ich denke, den damals Älteren kann man eventuell kognitive Schwäche vorwerfen, bei den 15jährigen Hitlerjungen trifft eher mein “Freudscher Verleser” zu. Es gibt starke Menschen, die auch in jungen Jahren bereits relativ immun gegen Agitation und Propaganda sind, aber die Masse der Jugend war es leider weder damals, noch heute.

Walter Knoch / 13.05.2020

Sehr geehrter Herr Chaim Noll, es ist keine “schöne” Geschichte, die Sie erzählen. Es ist eine ergreifenden Geschichte, die anrührt. Die zum Nachdenken bringt. Die mich in meinem Nachdenken bestätigt: Dass ich nämlich dankbar sein muss, für die Gnade, der späten Geburt. Ich weiß nicht, wie ich mich in diesen Zeiten als “arischer” Junge und später als Heranwachsender, junger Erwachsener verhalten, mich schuldig gemacht hätte. Dieses damals 15-jährige Mädchen verdient unsere Achtung, unsere Anerkennung. Sie hat ihren christlichen Glauben gelebt schreiben Sie. Möge dem Mädchen Johanna, das in einem gesegneten Alter verstorben ist, dort drüben ein Ehrenplatz werden. Ich werde heute zu knabbern haben an dieser Geschichte eines mutigen Lebens.

J. Schad / 13.05.2020

Dieser schöne Bericht über einen couragierten Menschen, der nicht viel Aufhebens um sein der Selbstverantwortung verpflichtetes Handeln macht, erinnert mich an das Milgram-Experiment, genauer: an die 1985 durchgeführte österreichische, modifizierte Version der Psychologin Grete Schurz, die das Experiment mit ausführlichen Vorgesprächen mit den (tatsächlichen) Probanden begann und mit Schlussgesprächen beendete. Zwei ihrer Resümees sind: “Die Selbsteinschätzung von Personen hinsichtlich ihrer Autoritätsgläubigkeit, die ebenfalls durch das Schlußinterview erfaßt worden sind, stimmten nicht mit dem Verhalten im Experiment überein. Personen, die sich als rebellisch und widerspenstig beschrieben, drückten alle Hebel voll durch [das waren die “Gehorsamen”], andere hingegen, die sich als angepasst und gehorsam beurteilten, brachen den Versuch ab [das waren die “Ungehorsamen”].” Und: “Ganz deutlich waren die Ungehorsamen in höherem Ausmaß bereit, die Eigenverantwortung für ihr Tun in der Versuchsdurchführung zu übernehmen, als es die Gehorsamen waren. Letztere schrieben die Verantwortung für das Geschehen vorwiegend der Versuchsleitung zu.” (Grete Schurz, Die innere Stimme der Unterwerfung, in: psychologie heute, 12. Jahrgang, Nr. 11, November 1985, S. 20ff.)

Rolf Lindner / 13.05.2020

In meinem Heimatstädtchen wurde ein Handwerker in den Konkurs gemobbt, weil er Mitglied der AfD ist. Ich weiß nicht, ob sich Bürger über das Mobbing beim Bürgermeister beschwert haben. Aber nichtsdestotrotz hätte er einen Appell an die Bürger richten können unter der Überschrift: Das ist eines deutschen Demokraten unwürdig. Daran, dass in Deutschland im ganzen Land das Gegenteil geschieht, kann man erkennen, in welch einem Land wir leben. In Deutschland eben, dem Land, aus dessen Schoß wieder der Totalitarismus kriecht.

Michael Wilde / 13.05.2020

Herzlichen Dank Herr Noll, ich schätze jeden Ihrer Beiträge. Dieser ist eine weitere Perle, die einen beim Lesen sehr berührt. Ihnen weiterhin alles Gute, herzlichst, Michael Wilde.

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