Anthony Warner.
Genauso, wie man die Gegenwart verunglimpft, wenn man über Giftstoffe oder Paleo spricht, haben wir die Neigung, die Vergangenheit zu glorifizieren. Wenn wir älter werden, verwechseln wir unseren persönlichen Verfall mit dem der Welt. Außerdem neigen wir dazu, an die Weisheit der Natur zu glauben. Immerhin konnte die Natur so etwas Wundervolles und Wunderbares wie den menschlichen Geist erschaffen, die wahrscheinlich komplexeste Struktur im Universum, die die Möglichkeiten und das Verständnis der begabtesten Ingenieure weit übersteigt. Folglich muss die Natur einfach weise sein und damit besser in der Lage, zu bestimmen, was für uns gesund ist.
Sydney Scott ist eine Wissenschaftlerin, die mit Paul Rozin an der University of Pennsylvania zusammenarbeitet und die Vorteile von natürlichen Produkten untersucht. „Viele Verbraucher denken, die Natur sei gut, heilig, liebevoll und sanftmütig“, sagt sie. „Besonders die Natur wird als sicher wahrgenommen. Einige dieser Überzeugungen mögen eine religiöse Grundlage haben; Natur ist das Werk Gottes und deshalb heilig und gut, und es ist unsere Pflicht, sie zu schützen. Andere Glaubenssätze mögen damit zu tun haben, dass die Natur als ‚vertraut’ wahrgenommen wird – etwas, mit dem die Menschen seit Jahrhunderten Umgang haben – und das deshalb ‚bekannter’ und ‚sicher‘ sei.“
Die Vorstellung, dass die Natur gütig und heilig ist, greift auf die Idealisierung der Natur in der Romantik zurück, als man an ihre Reinheit und Göttlichkeit glaubte. Das war der Grund, warum die Arbeiten von Charles Darwin und Alfred Russel Wallace über die natürliche Auslese so erschütternd waren und Unfrieden stifteten, denn sie offenbarten das wahre Wesen der Natur: voller Schmerz, Hunger und Verzweiflung im Kampf ums Überleben. Es erklärt auch, warum, als der deutsche Chemiker Friedrich Wöhler 1828 zum ersten Mal Harnstoff synthetisch herstellte, sein offensichtlich einfaches Experiment unser Verständnis der Natur veränderte, und unseren Hang zur Religiosität vermutlich für immer störte. Bis dahin hatte man angenommen, dass lebende Organismen von einer natürlichen „Vitalität“ durchdrungen seien, jener mystischen Eigenschaft, die sie von durch den Menschen hergestellten Chemikalien unterschied.
Lebewesen sind eine TüteChemikalien
Wöhler gelang es, aus anorganischem Salz künstlich Harnstoff herzustellen, eine „natürliche“ Substanz, und zeigte damit auf, dass alle Lebewesen im Grunde genommen kaum mehr als eine Tüte Chemikalien sind, die reagieren, sich verändern und Abfall produzieren. Wöhlers Arbeit versprach eine Zukunft, in der alle Reaktionen von Lebewesen in einem Reagenzglas repliziert werden könnten, und eröffnete damit die neue Möglichkeit, dass das einzig mystische am Leben die ungeheure chemische Komplexität sei. Er brachte ans Tageslicht, dass der Unterschied zwischen „natürlich“ und „chemisch“ ein rein begrifflicher war, der nur in unserem Geist erschaffen wurde, um die mechanische und anscheinend zweckfreie Natur des Lebens zu verbergen.
Trotz unseres Fortschrittes seither besteht diese Unterscheidung weiterhin, genau wie die Idealisierung der Natur. Selbst für Menschen ohne religiösen Glauben ist doch etwas Göttliches daran. Sie scheint erschaffen und perfekt, doch in Wirklichkeit existiert sie nur aufgrund von einer Reihe zufälliger Genmutationen. Diese Mutationen mögen zu nützlichen Veränderung der Funktionsweise unserer Körper oder zu Krebs führen – wir sehen nur die Überlebenden in diesem Prozess.
Wir stellen uns natürliche Nahrungsmittel als ‚rein’ vor, doch sind sie alles andere als rein. Die einzigen Dinge, die wir in reiner Form zu uns nehmen, sind Wasser, Zucker und Salz, und diese sind durch unsere Hand gereinigt. Natur ist unrein, unvollkommen und sicherlich glorreich an sich, doch sie wurde nicht für uns geschaffen. Wir begannen in ihr zu existieren, und seit dem Beginn der Menschheit hing unsere Fähigkeit zur Weiterentwicklung davon ab, wie wir die Natur für unsere Ernährungsbedürfnisse verändern konnten. Sydney Scott glaubt, dass das „Gras immer grüner auf der anderen Seite ist. Wenn wir also losgelöst von der Natur leben, so wie das in vielen westlichen Kulturen heute der Fall ist, dann scheint uns die Natur ideal. Wenn wir jeden Tag gegen die Natur ankämpfen müssen, so wie in den vergangenen Jahrhunderten, dann betrachten wir die industrielle Entwicklung als ein Ideal.“
Sydneys Arbeiten untersuchen die Merkmale heiliger und geschützter Werte. Diese Werte werden nicht von wissenschaftlichen Nachweisen beeinflusst, sondern basieren in der Regel auf Abneigung und beziehen sich auf Sex, Essen und den Missbrauch des Körpers. Wenn wir fürchten, dass etwas als unnatürlich Angesehenes mit der Nahrung aufgenommen wird oder diese kontaminiert, läuft das bei vielen ihren tief verwurzelten Werten zuwider. Allein aus diesem Grunde werden gesunde Lebensmittel aus einer ziemlich ungerechtfertigten Angst heraus dämonisiert. Wir glauben, dass eine Fabrik Nahrungsmittel irgendwie mit etwas Unnatürlichem verdirbt, dass eine Fabrik der Weisheit der Natur widerspricht und das eigentlich Gute in der Nahrung zerstört. Wir fürchten den Fortschritt, wie fürchten Chemikalien, und wir verbinden dies mit emotionalen Begriffen wie „Frankenstein-Essen“ oder „Fake Food“ (Falsches Essen), um unsere heiligen Werte in die Welt hinaus zu tragen.
Auszug aus dem Buch Ein Koch packt aus von Anthony Warner. Er hat einen erfolgreichen eigenen Blog: The angry chef.
Die erste Folge dieser Serie finden Sie hier. In der nächsten Folge lesen Sie: Kein Appetit auf Fortschritt
Anthony Warner ist professioneller Koch mit langjähriger Erfahrung. Als Autor des Blogs angry-chef.com befasst er sich damit, schwachsinnige Trends und verbreitete Lügen rund um das Thema Ernährung aufzudecken. Vor seiner Karriere als angesehener Koch hat er Biochemie an der Manchester University studiert. Er lebt mit seiner Frau, seiner Tochter und einem Springer Spaniel in Nottinghamshire, England. „Ein Koch packt aus“ ist sein erstes Buch.