Von Anthony Warner.
Unter industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln versteht man im allgemeinen Lebensmittel, die, um ihren Geschmack, ihre Zusammensetzung oder ihre Haltbarkeit zu verändern, bearbeitet wurden. Damit gehören zu den industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln auch eine Vielzahl von Lebensmitteln, von denen auch der selbstgerechteste Blogger nicht behaupten würde, wir sollten sie vermeiden: Hülsenfrüchte, Bohnen, Linsen, Quinoa, Reis, Mehl, glutenfreies Mehl, glutenfreies Bio-Mehl, Milch, Joghurt, Nudeln, Olivenöl, Kokosöl, Gewürze, getrocknete Kräuter, Schokolade und Couscous. Sie sind alle auf die eine oder andere Art industriell behandelt.
Und alle diese Nahrungsmittel fallen aus Pollans Maßstäben heraus, denn sie sind in einer „Fabrik“ entstanden. Für alle – außer für die verrücktesten Fanatiker – ist es weder vernünftig noch praktikabel, jedes einzelne industriell hergestellte Lebensmittel zu vermeiden. Wir müssten unsere Zeit damit verbringen, Öl zu pressen, Mehl zu mahlen und verzweifelt Zutaten zu trocknen und haltbar zu machen, um eine einigermaßen ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Um das zu erreichen, müssten Sie Lebensmittel „verarbeiten“, und da Sie ja gegen verarbeitete Nahrungsmittel sind, wäre das inakzeptabel.
Schneiden ist Verarbeiten, Kochen ist Verarbeiten. Erhitzen, Abkühlen, Trocknen und Einlegen sind alles Formen von Verarbeitung. Und man könnte auch argumentieren, dass selbst Kauen eine Art Verarbeiten ist. Wenn man eine grundlegende Abneigung gegen den Verzehr von verarbeiteten Nahrungsmitteln hat, müsste man Nahrungsmittel finden, die man roh schlucken kann. Ich würde vorschlagen, dass Wasser die beste Lösung ist, doch wenn Sie unbearbeitetes Wasser trinken, dann viel Glück, denn die Reinigung von Wasser ist vielleicht eine der größten lebensrettenden Innovationen in der Geschichte der Menschheit (und vielleicht eine nützliche Erinnerung daran, dass nicht jede Verarbeitung schlecht ist).
Ah, ich höre die Leute schon aufschreien. Das ist doch nur Wortklauberei, wenn die Menschen sagen, dass man industriell verarbeitete Lebensmittel vermeiden soll, meinen sie nicht Linsen und Kokosöl, sondern sie meinen den industriell gefertigten Mist. Den sollte man vermeiden. Das mag stimmen und ich denke auch nicht, dass der durchschnittliche Food-Blogger den Genuss von kontaminiertem Teichwasser empfiehlt, aber irgendwo muss die Linie ja gezogen werden. Wir essen alle verarbeitete Lebensmittel, also ist es sicherlich nur eine Frage dessen, welche erlaubt sind und welche nicht.
Frohgemut Dosentomaten
Wie sieht es mit Dosen aus? Sind die okay? Moralisch akzeptabel? Dosentomaten wurden erhitzt (etwas, das in der Branche als „kochen“ bekannt ist), um Mikroben abzutöten, die sie kontaminieren und verderblich werden lassen würden. Das verlängert die Haltbarkeit und verändert ihren Geschmack, doch es geht nur um das Erhitzen also ist das sicherlich in Ordnung. Die Konservierung von Tomaten ermöglicht die Lagerung, den weltweiten Transport und dass sie außerhalb der Saison von Menschen verzehrt werden können, die sonst keine Tomaten genießen könnten.
Sie sind voller Spurenelemente, enthalten nur ein geringes Maß an natürlichem Zucker, sind fettfrei und – was am wichtigsten ist – super lecker. Bei einigen Rezepten passt der Geschmack von Dosentomaten sogar noch besser als von frischen. Sicher bestehen Dosentomaten den Test, sie wären also etwas, was die Gegner von industriell gefertigten Lebensmitteln gutheißen würden. Etwas, das in einer Fabrik hergestellt wurde und das wir frohgemut und ohne schlechte Gewissen verzehren können.
Doch was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass die Hersteller den meisten Dosentomaten für eine längere Haltbarkeit etwas, das man Säureregulator nennt, 2-Hydroxypropan-1,2,3-tricarbonsäure, zusetzen, ein chemischer Zusatzstoff, den die meisten Drittklässler wohl kaum aussprechen können werden. Sind sie dann immer noch okay? Ist es in Ordnung, wenn die Hersteller einen wunderbaren natürlichen Rohstoff nehmen, chemische Stoffe zuführen, giftige Kontaminierung riskieren, indem sie ihn in eine Dose füllen und ihn dann so weit verarbeiten, dass er 18 bis 24 Monate haltbar ist? So gesehen sind Dosentomaten ein widerwärtiges, nutzloses Frankenstein-Essen, das auf unserem Speisezettel nichts zu suchen hat.
Geht es in der Diskussion vielleicht um „ultra-verarbeitete“ Lebensmittel? Sind das jene, die wir vermeiden sollten? Unter ultra-verarbeiteten Lebensmitteln versteht man alle verpackten Lebensmittel die aus verschiedenen Inhaltsstoffen bestehen, insbesondere Substanzen, die man gemeinhin nicht zum Kochen verwendet. Aber auch diese Definition ist ziemlich vage und umfasst eine Vielzahl von Produkten von geringem Nährwert. Doch ist es wirklich vernünftig, alle Nahrungsmittel dieser Kategorie als unakzeptabel abzuschreiben?
Was drücken wir mit dieser weitgefassten Klassifizierung eigentlich aus? Dass ein Glas mit Pasta-Sauce unserer Gesundheit schadet? Dass wir niemals einen Schokoriegel oder eine Tüte Chips essen sollten, weil sie irgendwie „unnatürlich“ sind? Dass wir nicht im Restaurant essen sollten? Dass wir kein Brot kaufen sollten? Im Laufe eines Tages nehmen wir tausende verschiedener Chemikalien in Form von Nahrung auf. Alle Lebensmittel bestehen aus chemischen Stoffen und die meisten davon werden für einen Drittklässler unaussprechlich sein. Und nur, weil diese Chemikalien in ihrer Kombination natürlichen Ursprungs sind, bedeutet dies nicht, dass sie über magische gesundheitsfördernde Kräfte verfügen oder absolut sicher sind.
Es gibt keinen Feenstaub der Natürlichkeit
Schwirren sie erst einmal in unserem Verdauungssystem herum, hat unser Körper keine Chance zu erkennen, ob die 2-Hydroxypropan-1,2,3-tricarbonsäure-Moleküle in einer Fabrikanlage als Säureregulator zur Verlängerung der Haltbarkeit von Pasta-Soße hinzugefügt wurden oder von einem Schuss Limettensaft stammen, dessen chemische Zusammensetzung landläufig mit dem Namen Zitronensäure bezeichnet wird. Die gesundheitsfördernden Eigenschaften der von uns verzehrten Nahrungsmittel werden durch ihre chemische Zusammensetzung bestimmt, nicht durch irgendeine magische Ursprungsgeschichte. Es gibt keinen Feenstaub der Natürlichkeit, der selbstgekochtes (oder „zu Hause verarbeitetes“) Essen gesünder macht als industriell hergestelltes. In ihrer grundlegenden Definition sind Obst, Gemüse und Fleisch eine komplexe Verbindung verschiedener chemischer Substanzen.
Diese Kombination ist das Ergebnis der zufälligen Wege der Evolution, nicht irgendeine magische Gestaltung der Natur. Natur hat keine Weisheit. Sie ist zufällig, merkwürdig und ungelenkt. Die Mehrzahl der Gifte, denen wir wahrscheinlich begegnen – einschließlich der gefährlichsten –, ist durch natürliche Prozesse entstanden. Wir mögen moralische Bedenken gegenüber industriell gefertigten Lebensmitteln haben, doch der Nährwert und die Gesundheitsfaktoren hängen nicht von dem Gebäude ab, in dem die Lebensmittel hergestellt wurden und auch nicht von der Größe der Firma, die sie entwickelt hat. Indem wir willkürliche Regeln aufgrund der Entstehung von Lebensmitteln aufstellen, betreiben wir Prinzipienreiterei über die schlechte Wahl von Lebensmitteln. In dem Moment, in dem wir das tun, riskieren wir Scham, Entfremdung und Schaden.
In Wahrheit sind unsere Lebensmittel sicherer als sie es je waren. Es gibt weniger Verunreinigungen, weniger Fälle von Vergiftungen und weniger durch falsche Ernährung hervorgerufene Gesundheitsprobleme als je zuvor in der Geschichte. Würden wir unsere Urgroßmütter zum Essen besuchen, träfen wir vermutlich Menschen an, die mit nährstoffarmen, unausgewogenen Mahlzeiten gerade so über die Runden kommen und Lebensmittel-Skandale erleben, die eine Verunreinigung durch untergemischtes Pferdefleisch wie eine Pyjamaparty wirken ließen. Und die meisten unserer Urgroßmütter verbrachten den größten Teil ihres Lebens vermutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zu dieser Zeit beruhte die Ernährung in den Vereinigten Staaten und Großbritannien vor allem auf Stärke und Fleisch, wobei fünfzig Prozent der Kalorien aus Brot stammten. Es gab noch wenig Wissen über Vitamine, was bedeutete, dass Mangelerscheinungen grassierten. Das Fehlen von Lebensmittel-Sicherheitsprüfungen und Bewusstsein bedeutete, dass Magen-Darm-Erkrankungen weiter verbreitet waren als heute und weit häufiger ernsthafte Folgen hatten Es gab keine Kühlkette für die Lagerung und während der Lieferung von Lebensmitteln, was hieß, dass frisches Obst, Gemüse, Milch und Eier rar waren und zu bestimmten Zeiten im Jahr einfach nicht erhältlich. Unsere Urgroßmütter hatten nur etwa zwei Drittel unserer Lebenserwartung und das vor allem deshalb, weil wir uns eines höheren Bewusstseins für gesunde Ernährung, verbesserter Sicherheit und Vollständigkeit unseres Nahrungsmittelangebots erfreuen und industrieller Prozesse, die unser Leben einfacher, gesünder und reicher machen. Nach fast jedem erdenklichen Standard ist das Goldene Zeitalter genau jetzt und doch sind wir überzeugt davon, dass wir verdorben sind.
Auszug aus dem Buch Ein Koch packt aus von Anthony Warner. Er hat einen erfolgreichen eigenen Blog: The angry chef.
Die 2. Folge hier.
Anthony Warner ist professioneller Koch mit langjähriger Erfahrung. Als Autor des Blogs angry-chef.com befasst er sich damit, schwachsinnige Trends und verbreitete Lügen rund um das Thema Ernährung aufzudecken. Vor seiner Karriere als angesehener Koch hat er Biochemie an der Manchester University studiert. Er lebt mit seiner Frau, seiner Tochter und einem Springer Spaniel in Nottinghamshire, England. „Ein Koch packt aus“ ist sein erstes Buch.