Es gibt Themen, bei deren Abhandlung man nur verlieren kann. Nehmen wir meinen Nachruf auf Ennio Morricone vor einigen Tagen hier auf der Achse. Egal, wie viele Musikbeispiele man auch verlinkt, man kann niemals alle Leser zufriedenstellen; des einen und anderen Lieblingsstück muss unerwähnt bleiben. Morricone hat pro (!) Schaffensjahr für rund 15 Filme den Soundtrack geschrieben, und so bleiben gut 90 Prozent aller Kompositionen in einem kurzen Artikel zu seinem Lebenswerk zwangsläufig außen vor. Traurig, aber nicht zu vermeiden.
Dennoch wage ich mich heute erneut an ein Thema, durch das es sich bestens mit vielen Lesern verderben lässt. Was sagen Sie? „Corona?“ Grundgütiger nein! Niemals würde ich mich an dieses Thema wagen. Dazu fehlen mir alle Voraussetzungen. Mir fehlen die fehlende Kinderstube und die mangelhafte Erziehung ebenso wie das notwendige Vokabular, um alle, die anderer Meinung zu Covid-19 sind, zu beleidigen und zu schmähen. Auch leide ich in viel zu geringem Maße an Selbstüberschätzung, und mein Drang, zu allem einen Leserbrief – gerade das Sujet Leserbriefe ist es ja, in dem das wahre ExpertInnentum zum Ausdruck kommt – zu verfassen, ist ausgesprochen unausgeprägt.
Nein, das heutige Thema ist eine notwendige Ergänzung zu meinem Text „Den Frauen ein Ohr“ vor kurzem, nur diesmal mit dem Claim „Ein Herz für Frauen“. Damit meine ich nicht schreibende Frauen (auch wenn es unter denen einige gibt, denen mein Herz offen steht), sondern singende. Genauer gesagt: richtig singende. Von Leona Anderson oder Mrs. Miller haben Sie vermutlich für alle Zeiten genug, und das ist auch gut so.
Da es sehr viele richtig singende Frauen gibt, wird es unvermeidlich sein, im bescheidenen Rahmen meiner Kolumne viele, allzu viele zu übersehen, zu vergessen oder nicht zu kennen. Damit muss ich leben, so wie auch Sie. Meine Hoffnung ist, dass unter denen, die ich heute vorstelle, für einige von Ihnen eine Entdeckung dabei ist. Denn ich möchte hier eher keine Künstlerinnen vorzustellen, die ohnehin jeder kennt. Wohlan.
Was kann man mit einem Namen wie Trijntje Oosterhuis werden?
Mal ehrlich: was kann man wohl im weltumspannenden Musikgeschehen mit einem Namen wie Trijntje Oosterhuis werden? Man kann einen niederländischen Preis namens Gouden Harp gewinnen, ein paar bekannte Musiker begleiten, die gerade in Amsterdam sind und mit dem Barbara Dex Award für den am schlechtesten gekleideten Wettbewerbsteilnehmer ausgezeichnet werden. An ihrer Stimme kann es nicht liegen, dass sie nicht schon längst ein Weltstar ist, in einer Liga mit Barbra Streisand, Dionne Warwick oder Céline Dion. Auch am Aussehen und der Bühnenpräsenz kann es nicht liegen. Bleibt nur noch der Name als Erklärung. Die Frage, warum Trijntje Oosterhuis über ihre Heimat hinaus kaum bekannt ist, stellen sich auch viele Kommentatoren bei Youtube und zeigen ihre Begeisterung für die Künstlerin. „Ich hatte keine Ahnung von dieser schönen und talentierten Sängerin!“ „Wann kommt sie in die USA? Sie ist großartig!“ „Ich kannte sie gar nicht, jetzt bin ich hin und weg!“ Immerhin hat sie inzwischen einen Eintrag in der deutschen Wikipedia, aber den haben selbst Sawsan und Margarete, und die singen nicht einmal.
Wenigstens auf Youtube findet man zahlreiche Clips mit Musik von Trijntje (versuchen Sie mal diesen Namen flott und fehlerfrei zu tippen. Es MUSS am Namen liegen), die eine erstaunliche Bandbreite beweisen. Hier noch zwei schöne Beispiele: Burt Bacharachs Klassiker „Alfie“ sowie ein poppiger Song, „Happiness“, denn das kann sie auch!
Bleiben wir in den Niederlanden. Dorona Alberti. Sagt Ihnen nichts? Kein Wunder, mir auch lange nichts. Dorona ist Sängerin der Band „Gare du Nord“. Die machen eine jazzig angehauchte Loungemusik mit viel guter Laune und sind in Benelux recht populär. Aber damit hat es sich leider auch schon. Völlig zu unrecht. Seit fast 20 Jahren gibt es die Band, die fleißig tourt, nur kaum außerhalb der heimischen Gefilde. Dabei haben sie sogar ein wunderbares Stück mit dem Titel „Berlin Beat“ im Repertoire …
Nicht, weil sie eine liebe, persönliche Freundin ist, sondern weil sie in diese kleine Auswahl von großartigen Sängerinnen gehört, sei Ulla Haesen präsentiert. Ulla, mit finnischen Wurzeln in der Eifel lebend, hat ihr musikalisches Leben ganz der brasilianischen Música Popular gewidmet, deren hierzulande bekannteste Spielarten der Samba und die Bossa Nova sind. Sie tourt unermüdlich und hat mehrere CDs in Deutschland produziert. Und ich erinnere mich lebhaft, wie aufgeregt Ulla war, als sie 2017 – zum ersten Mal überhaupt – nach Brasilien reiste, um dort mit bekannten brasilianischen Musikern das durch und durch authentische Album „Rio“ aufzunehmen. Lassen Sie sich beschwingen!
Eine Frau, in die man sich auf der Stelle verliebt
Cyrille Aimée stammt aus Frankreich und ist aufgewachsen in Samois-sur-Seine nahe Fontainebleau, dem kleinen Städtchen, in welchem Django Reinhardt zuletzt lebte. Dessen Musik, der Gypsy Swing, hat sie von klein auf musikalisch geprägt. Cyrille Aimée ist eine Frau, in die man sich auf der Stelle verliebt, und das nicht nur wegen ihrer Stimme, und ich bin ihr ernsthaft böse, weil sie schon vor mehr als zehn Jahren nach New York entschwunden ist, was die Wahrscheinlichkeit, sie in Europa zu sehen, stark verringert. 2014 trat sie meines Wissens zuletzt in der Alten Welt auf, beim jährlich stattfindenden Django-Festival in Samois, ihrer alten Heimat.
Noch einmal in die Niederlande und zugleich eine weitere Erinnerung an den in dieser Woche verstorbenen Ennio Morricone. Amira Willighagen ist in Nijmegen geboren und lebt inzwischen im südafrikanischen Potchefstroom; sie war mir bis gestern kein Begriff. Hier singt sie „Your Love“ aus „Spiel mir das Lied vom Tod“. Das Lied haben vor Amira schon viele brillante Sängerinnen interpretiert, aber meines Wissens war noch keine von ihnen gerade einmal 13 Jahre alt.
Dass ich noch nie etwas von ihr gehört hatte liegt daran, dass ich seit vielen Jahren nicht mehr fernsehe und Amira durch eine TV-Talentshow bekannt wurde. Wenn Sie sehen möchten, was dieses unglaubliche Talent bereits mit 9 Jahren zu bieten hatte – ohne jemals zuvor Gesangsunterricht gehabt zu haben (sie sagt, sie hat sich alles durch das Zuhören bei Youtube angeeignet) – folgen Sie diesem Link ab Minute 2:38. Ich teile ihn ungern; der um ihren Auftritt herum stattfindende Klamauk und die Respektlosigkeit der Jury, die mehrfach dazwischen quatscht, ist schwer zu ertragen, aber Amiras Gesang (Puccinis Arie „O mio babbino caro“) ist es wert, das unsägliche Drumherum in Kauf zu nehmen. Und verkneifen Sie sich besser das Lesen der Kommentare – es singt bei allem Wohlklang ein kleines Mädchen und kein „Engel“.
Nebenbei: Sie finden bei Youtube eine Interpretation von „Nessun Dorma“ mit Amira; damit gewann sie diese Talentshow. Es gefällt mir nicht besonders. Das liegt jedoch weniger an der Kleinen als vielmehr daran, dass „Nessun Dorma“ a) nicht von Frauen und b) nur und ausschließlich von Pavarotti gesungen werden darf. Doch hey, Amira war da 9 Jahre alt, und wie sie die Fermate der Arie über gut 8 Sekunden hält... Grundgütiger!
Zum Schluss für heute (es gibt kommende Woche „Ein Herz für Frauen 2.0“) eine echte Sensation! „Was macht denn der Broder da hinter dem Schlagzeug?“, werden Sie vermutlich ungläubig fragen, so jedenfalls erging es mir. Dazu trägt er eine getönte Brille und spricht französisch, was die Verwirrung noch größer macht, womöglich so groß, dass Sie darüber die bildschöne Sängerin gar nicht bemerken, die im Mittelpunkt des Clips steht, der vor allem eins vermittelt: Beste Laune, denn ohne Musik – das wusste schon Nietzsche – ist die Welt ein Irrtum.
Broder ist natürlich nicht Broder, sondern ein sehr gelungener Lookalike, den die Älteren unter uns vermutlich noch aus den guten alten Discomusik-Zeiten kennen. Die Sängerin heißt Adjäna, die Aufnahme stammt vom Montreux Jazz Festival 2012, und warum man danach von Adjäna nie mehr etwas gehört hat, fragen sich viele Youtube Zuseher, darunter ich. Dabei weiß das Internet doch sonst alles. In diesem Falle aber offenbar nicht.
Es gibt von dem Titel auch ein nettes Musikvideo, zwar fast komplett ohne Henryk Broder (bis auf Minute 0:28), aber dafür viel Adjäna.
P.S. Aus hoch aktuellem Anlass hier.