Alle Versammlungen und Demonstrationen sind vom Staat von vornherein verboten. Die Bürger dürfen nicht mehr in der Öffentlichkeit protestieren. Nicht nur der öffentliche Raum, auch jedweder andere denkbare Versammlungsort, egal ob Vereinshaus oder Kirche, ist verbotenes Terrain. Das ist ein Zustand, den es in einer freiheitlichen Demokratie eigentlich nicht geben darf – allenfalls im Falle eines allgemeinen Notstands. Doch in Deutschland reicht bekanntlich eine zwischen Bundeskanzlerin und Landes-Ministerpräsidenten erfolgte Absprache über die Anwendung des Infektionsschutzgesetzes, um elementare Grundrechte de facto unbefristet außer Kraft zu setzen. Auch wenn die Kanzlerin ihren Bürgern mit beschränkten Bürgerrechten gerade gnädigerweise erklärt hat, wann sie wieder in ein paar Geschäfte mehr gehen können, ihnen jemand die Haare schneiden darf, welche wirtschaftliche Betätigung unter neuen Regeln wieder erlaubt ist und auch Kinder wieder in die Schule gehen dürfen: Einen Zeitpunkt, an dem ihre Regierung den Deutschen die Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, das Recht auf freie Religionsausübung und das Recht auf Freizügigkeit so gewähren will, wie es im Grundgesetz geschrieben steht, hat sie nicht genannt.
Im Zeichen der Corona-Krise Grundrechte unbefristet außer Kraft zu setzen, das ist übrigens der Vorwurf der EU und auch etlicher deutscher Politiker an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban – verbunden mit der Drohung, ihm den europäischen Geldhahn zuzudrehen. Aber das kann man ja nicht miteinander vergleichen, denn Deutschland zahlt ja in die EU ein. Diesen Geldhahn möchte in weiten Teilen der EU verständlicherweise niemand zudrehen. Aber zurück zu den Grundrechten.
Es gab bereits etliche Klagen gegen die Grundrechtseingriffe im Namen des Corona-Virus, doch nur wenige wurden in der Sache entschieden. In einigen Fällen lehnten Verfassungsgerichte Anträge auf Erlass Einstweiliger Verfügungen ab, erkannten die Eilbedürftigkeit mancher Klage nicht an und verwiesen auch gern auf den zuvor zu durchlaufenden Instanzenweg. In der Sache aber gab es noch kein Grundsatzurteil über die Verfassungsmäßigkeit des Notstands durch die Infektionsschutzgesetz-Hintertür. Unabhängig von der juristischen Bewertung ist auch menschlich nachvollziehbar, dass sich wahrscheinlich kein Richter danach drängt, mitten in der sogenannten Corona-Krise durch ein Urteil Mitverantwortung für die Kursbestimmung der Krisenbewältigung zu übernehmen.
„Auflagen statt Totalverbot“
Doch völlig im Regen stehen lassen die deutschen Richter die Bürger auch nicht, die sich ihre Grundrechte zurück erklagen wollen. Wie die Legal Tribune Online (LTO) gestern berichtet, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) bereits am Gründonnerstag entschieden, dass eine kleine Demonstration in München zugelassen werden müsse (BayVGH, Beschl. v. 9.4.2020, Az. 20 CE 20.755). So habe eine kleine Gruppe ganz legal am Isarufer unter dem Motto "Versammlungsfreiheit auch während der Corona-Krise schützen" demonstrieren können – unter Einhaltung der Abstandsregeln.
Die Organisatoren der kleinen Demonstration hatten diese anmelden wollen, doch wurde ihnen dies unter Verweis auf das gegenwärtig verhängte pauschale Versammlungsverbot verwehrt. Auch das Verwaltungsgericht (VG) München sei der Rechtsauffassung der Behörde gefolgt. Über das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs schreibt Legal Tribune Online (LTO):
„In dem vierseitigen Beschluss, der LTO vorliegt, kritisieren die VGH-Richter vor allem, dass die Entscheidung des VG München "ausschließlich auf das Verhalten Dritter und auf infektionsschutzrechtliche Gefahren abstellt", nicht aber auf das Verhalten der Versammlungsteilnehmer selbst. Außerdem spreche für die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG), dass der Antragssteller "die erstrebte Versammlung mit der beabsichtigten Meinungsäußerung in sinnvoller Weise nur während der Geltungsdauer der BayIfSMV [Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung] durchführen kann." Beantragt worden war von vornherein eine statische Versammlung für maximal zehn Personen. Die Richter gaben der Versammlungsbehörde für ihre Ermessensentscheidung mit auf den Weg zu prüfen, ob Infektionsgefahren nicht auch durch Abstandsregelungen, Umzäunungen sowie Polizeibegleitung begegnet werden könne: Auflagen im Einzelfall statt im Zweifel ein Totalverbot.“
Immerhin ist also die Versammlungsfreiheit nach dieser Rechtsauffassung auch mit einem Pauschalverbot durch das Infektionsschutzgesetz nicht völlig außer Kraft zu setzen. Als Nicht-Jurist verstehe ich die bayerischen Verwaltungsrichter so: Man kann vielleicht Demonstrationen für oder gegen all das, wofür oder wogegen auch vor der Corona-Krise demonstriert wurde, schadlos verschieben. Doch wer gegen die Freiheitsbeschränkungen in diesem Ausnahmezustand demonstrieren will, muss das zwingend während es Ausnahmezustands tun dürfen. Danach wäre sein Protest sinnlos.
In Schwerin und Münster haben Verwaltungsgerichte ebenfalls Demonstrationen gegen den Willen der Verwaltung genehmigt, und da ging es nicht nur um den gegenwärtigen Ausnahmezustand. In Münster sorgten die Auflagen für die Demonstranten allerdings für einiges Schmunzeln. Die Teilnehmer wurden zum Tragen von Gesichtsmasken verpflichtet, was der Anmelder mit den Worten kommentierte: "Das ist wahrscheinlich die erste Versammlung mit Vermummungsgebot".
Außerdem sind – darauf weist ein Bericht der Welt hin – Demonstrationen nicht in allen Bundesländern pauschal zusammen mit Veranstaltungen verboten worden. In Bremen sollen Versammlungen nach Artikel 8 des Grundgesetzes demnach vom Veranstaltungsverbot ausgenommen sein. Die zuständige Behörde könne eine Versammlung allerdings „zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Coronavirus verbieten, beschränken oder mit Auflagen versehen“.
Aktuelle Ergänzung:
Bundesverfassungsgericht gibt Eilantrag gegen Versammlungsverbot statt