Peter Grimm / 16.04.2020 / 13:00 / Foto: Pixabay / 50 / Seite ausdrucken

Restbestände eines Grundrechts vor Gericht

Alle Versammlungen und Demonstrationen sind vom Staat von vornherein verboten. Die Bürger dürfen nicht mehr in der Öffentlichkeit protestieren. Nicht nur der öffentliche Raum, auch jedweder andere denkbare Versammlungsort, egal ob Vereinshaus oder Kirche, ist verbotenes Terrain. Das ist ein Zustand, den es in einer freiheitlichen Demokratie eigentlich nicht geben darf – allenfalls im Falle eines allgemeinen Notstands. Doch in Deutschland reicht bekanntlich eine zwischen Bundeskanzlerin und Landes-Ministerpräsidenten erfolgte Absprache über die Anwendung des Infektionsschutzgesetzes, um elementare Grundrechte de facto unbefristet außer Kraft zu setzen. Auch wenn die Kanzlerin ihren Bürgern mit beschränkten Bürgerrechten gerade gnädigerweise erklärt hat, wann sie wieder in ein paar Geschäfte mehr gehen können, ihnen jemand die Haare schneiden darf, welche wirtschaftliche Betätigung unter neuen Regeln wieder erlaubt ist und auch Kinder wieder in die Schule gehen dürfen: Einen Zeitpunkt, an dem ihre Regierung den Deutschen die Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, das Recht auf freie Religionsausübung und das Recht auf Freizügigkeit so gewähren will, wie es im Grundgesetz geschrieben steht, hat sie nicht genannt.

Im Zeichen der Corona-Krise Grundrechte unbefristet außer Kraft zu setzen, das ist übrigens der Vorwurf der EU und auch etlicher deutscher Politiker an Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban – verbunden mit der Drohung, ihm den europäischen Geldhahn zuzudrehen. Aber das kann man ja nicht miteinander vergleichen, denn Deutschland zahlt ja in die EU ein. Diesen Geldhahn möchte in weiten Teilen der EU verständlicherweise niemand zudrehen. Aber zurück zu den Grundrechten.

Es gab bereits etliche Klagen gegen die Grundrechtseingriffe im Namen des Corona-Virus, doch nur wenige wurden in der Sache entschieden. In einigen Fällen lehnten Verfassungsgerichte Anträge auf Erlass Einstweiliger Verfügungen ab, erkannten die Eilbedürftigkeit mancher Klage nicht an und verwiesen auch gern auf den zuvor zu durchlaufenden Instanzenweg. In der Sache aber gab es noch kein Grundsatzurteil über die Verfassungsmäßigkeit des Notstands durch die Infektionsschutzgesetz-Hintertür. Unabhängig von der juristischen Bewertung ist auch menschlich nachvollziehbar, dass sich wahrscheinlich kein Richter danach drängt, mitten in der sogenannten Corona-Krise durch ein Urteil Mitverantwortung für die Kursbestimmung der Krisenbewältigung zu übernehmen.

„Auflagen statt Totalverbot“

Doch völlig im Regen stehen lassen die deutschen Richter die Bürger auch nicht, die sich ihre Grundrechte zurück erklagen wollen. Wie die Legal Tribune Online (LTO) gestern berichtet, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) bereits am Gründonnerstag entschieden, dass eine kleine Demonstration in München zugelassen werden müsse  (BayVGH, Beschl. v. 9.4.2020, Az. 20 CE 20.755). So habe eine kleine Gruppe ganz legal am Isarufer unter dem Motto "Versammlungsfreiheit auch während der Corona-Krise schützen" demonstrieren können – unter Einhaltung der Abstandsregeln.

Die Organisatoren der kleinen Demonstration hatten diese anmelden wollen, doch wurde ihnen dies unter Verweis auf das gegenwärtig verhängte pauschale Versammlungsverbot verwehrt. Auch das Verwaltungsgericht (VG) München sei der Rechtsauffassung der Behörde gefolgt. Über das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs schreibt Legal Tribune Online (LTO):

„In dem vierseitigen Beschluss, der LTO vorliegt, kritisieren die VGH-Richter vor allem, dass die Entscheidung des VG München "ausschließlich auf das Verhalten Dritter und auf infektionsschutzrechtliche Gefahren abstellt", nicht aber auf das Verhalten der Versammlungsteilnehmer selbst. Außerdem spreche für die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG), dass der Antragssteller "die erstrebte Versammlung mit der beabsichtigten Meinungsäußerung in sinnvoller Weise nur während der Geltungsdauer der BayIfSMV [Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung] durchführen kann." Beantragt worden war von vornherein eine statische Versammlung für maximal zehn Personen. Die Richter gaben der Versammlungsbehörde für ihre Ermessensentscheidung mit auf den Weg zu prüfen, ob Infektionsgefahren nicht auch durch Abstandsregelungen, Umzäunungen sowie Polizeibegleitung begegnet werden könne: Auflagen im Einzelfall statt im Zweifel ein Totalverbot.“

Immerhin ist also die Versammlungsfreiheit nach dieser Rechtsauffassung auch mit einem Pauschalverbot durch das Infektionsschutzgesetz nicht völlig außer Kraft zu setzen. Als Nicht-Jurist verstehe ich die bayerischen Verwaltungsrichter so: Man kann vielleicht Demonstrationen für oder gegen all das, wofür oder wogegen auch vor der Corona-Krise demonstriert wurde, schadlos verschieben. Doch wer gegen die Freiheitsbeschränkungen in diesem Ausnahmezustand demonstrieren will, muss das zwingend während es Ausnahmezustands tun dürfen. Danach wäre sein Protest sinnlos.

In Schwerin und Münster haben Verwaltungsgerichte ebenfalls Demonstrationen gegen den Willen der Verwaltung genehmigt, und da ging es nicht nur um den gegenwärtigen Ausnahmezustand. In Münster sorgten die Auflagen für die Demonstranten allerdings für einiges Schmunzeln. Die Teilnehmer wurden zum Tragen von Gesichtsmasken verpflichtet, was der Anmelder mit den Worten kommentierte: "Das ist wahrscheinlich die erste Versammlung mit Vermummungsgebot".

Außerdem sind – darauf weist ein Bericht der Welt hin – Demonstrationen nicht in allen Bundesländern pauschal zusammen mit Veranstaltungen verboten worden. In Bremen sollen Versammlungen nach Artikel 8 des Grundgesetzes demnach vom Veranstaltungsverbot ausgenommen sein. Die zuständige Behörde könne eine Versammlung allerdings „zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung des Coronavirus verbieten, beschränken oder mit Auflagen versehen“.

Aktuelle Ergänzung:

Bundesverfassungsgericht gibt Eilantrag gegen Versammlungsverbot statt

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Christiana Hofmann / 16.04.2020

Wenn wir Bürger nicht alle so treu den Anweisungen der Bundeskanzlerin folgen würden und mit unserer ganz persönlichen Corona Angst beschäftigt wären, ja dann könnten wir einen Mangel an Freiheit bemerken. Eine Form der Demonstration steht doch noch zur Verfügung: ein Auto Korso mit fröhlichem Hupkonzert in den Innenstädten, in Berlin gerne am Bundestag. Aber, wird nicht wahr werden, der Untertan lässt grüssen.

Hjalmar Kreutzer / 16.04.2020

Jochen Lindt: Von einer Massenveranstaltung kann bei 10 Leuten mit Mundschutz und Sicherheitsabstand wohl keine Rede sein. Die Wirksamkeit der Distanzierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint ja durchaus nicht bewiesen zu sein. Die Regierenden selbst machen sich durch Doppelstandards unglaubwürdig. In Berlin wurde eine Versammlung von 40 Leuten mit Mundschutz und Sicherheitsabstand rigoros aufgelöst, eine ältere Dame, die sich Äußerungen dagegen erlaubte, körperlich relativ hart angegangen, wo blieb da der angebliche Infektionsschutz?  Gegen alle Teilnehmer erstattete die Polizei Strafanzeige. Demgegenüber wurde öffentliches Kampfbeten von 300 Muslimen in Neukölln nicht angezeigt, der liebe Imam freundlich gebeten, die lieben Betenden doch jetzt bitte, bitte nach Hause zu schicken. Wenn die Ansteckungsgefahr angeblich so hoch ist, wird sie hier wohl, ähnlich wie beim weiterlaufenden „Flüchtlings“-Import aus ideologischen Gründen und einschl. erneuter Clusterbildung billigend in Kauf genommen? Ähnlicher Doppelstandards dürfte man sich mit Beginn des Ramadan bedienen, man hat wahrscheinlich einfach nicht genug Polizeikräfte, um evtl. die zornigen „Brüdahs“ im Zaum zu halten? Da fühlt man sich als Staatsmacht doch einfach mächtiger, eine Omi vom Platz zu zerren, mit dem Bürger herumzupolizeien, der allein auf einer Bank sitzt oder eine aufmüpfige Anwältin durch Verschleppung in die Psychiatrie so einzuschüchtern, dass sie erzählt, sie sei besoffen vom Fahrrad gefallen. Die Stasihäftlinge haben ja auch unterschrieben, dass sie die Treppe heruntergefallen seien.

Walter Weimar / 16.04.2020

@Jochen Lindt: Massenverblödung ist auch eine Massenveranstaltung!

Günter Schaumburg / 16.04.2020

@Herr Lindt: “Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren” Benjamin Franklin.

Thomas Brox / 16.04.2020

Im hochgelobten deutschen GG gibt es keinen Artikel, der abstrakt einen Notstand definiert, dabei die Aushebelung von Grundrechten legitimiert (insbesondere welche Grundrechte) und einen Verantwortlichen definiert, der den Notstand ausruft. In Artikel 35 geht es ausschließlich nur um den operativen Einsatz von Polizeikräften, weswegen bleibt vollkommen offen. In Artikel 91 geht es um den Bestand der “demokratischen Grundordnung” und wieder um den Einsatz von Polizeikräften. Der Artikel 81 ist irrelevant, und der langatmige Artikel 115 bezieht sich auf den Verteidigungsfall. Die Rechtslage des GG zum Thema Notstand ist konfus und vage, und für Seuchen und ähnliches nicht anwendbar. Das ein simples Gesetz wie etwa das Seuchengesetz, das mit einfacher Mehrheit verabschiedet wurde, viele Grundrechte der viel höher stehenden Verfassung aushebeln kann, ist unlogisch - milde ausgedrückt. Die sogenannte “einfache Mehrheit” bedeutet eine ganz schwache Mehrheit, viel weniger als die meisten Menschen vermuten (bitte googeln). Das kein Verantwortlicher festgelegt wird ist typisch für den deutschen Obrigkeitsstaat. Das aktuelle Vorgehen ist ein Präzedenzfall für die Zukunft: Ein Blankoscheck zum Ruhigstellen und Unterdrücken der Bevölkerung aufgrund eines beliebigen Anlasses, etwa Proteste oder Rebellion gegen das politische System.

beat schaller / 16.04.2020

Genau so wie man ins Autokino gehen kann, könnte man auch den Bundestag in Berlin mit den Autos einkreisen und als Protest ein dauerndes Hupkonzert veranstalten. Das was man sagen will, kann man über Lautsprecher sagen.  Wer und auf Grund von was könnte sowas verboten werden. Wenn das nichts nützt, dann ist das Steuern bezahlen und die TV-Gebühren zu verweigern, bis man Gehör bekommt. Natürlich muss sowas grossflächig erfolgen. Es gibt auch Bauern mit grossen Traktoren, es gibt LKW Fahrer, die selber schon auf dem “Zahnfleisch” laufen und es wird bald weitere Leute geben, die schlichtweg gar nichts mehr zu verlieren haben.  Bei Allem kann man die Abstandsregeln einhalten,  den keiner will ja eine Schlägerei haben. Noch nicht. b.schaller

Wolfgang Kaufmann / 16.04.2020

Aber Sie können doch diesen Faschisten Orbán nicht vergleichen mit der Gottkanzlerin in Übermenschistan!

Bernd Weber / 16.04.2020

@jochen lindt vom 20. bis 24.2. waren Tausende auf Massenveranstaltungen ( Fasching genannt), da wurde geschunkelt, getanzt u. geküsst - und ? wieviele sind daran gestorben ? ist der Virus heute gefährlicher als vor zwei Monaten ? Vorsichtig sein - selbstverständlich, sich schützen na klar - aber auch selber denken !

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