Das Ende der Linksfraktion ist besiegelt. Doch dass deren Abgeordnete im Bundestag nun keine Rolle mehr spielen, ist keineswegs ausgemacht.
Eigentlich ist die Sache klar: Im Bundestag haben nur Fraktionen etwas zu sagen. Sie stellen den Präsidenten und die Vizepräsidenten, entsenden Vertreter in den Ältestenrat und haben entsprechend ihrer Stärke Anspruch auf den Vorsitz in den Ausschüssen. „Fraktionen,“ so legt die Geschäftsordnung des Bundestages fest, „sind Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages.“
Dass im parlamentarischen Betrieb nur Fraktionen eine Rolle spielen, stand schon in der Geschäftsordnung des Reichstages zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Zersplitterung des Parlamentes sollte auf diese Weise verhindert werden. Löst sich eine Fraktion trotzdem auf, verliert sie ihre verbrieften Rechte – was entsprechend abschreckend wirkt.
Genau dieser Fall tritt am 6. Dezember im Deutschen Bundestag ein. Nach dem Übertritt von zehn Abgeordneten zum „Bündnis Sahra Wagenknecht“ hat die Fraktion der Linken ihre Selbstauflösung beschlossen. Dass ihre 38 Mitglieder im Parlamentsbetrieb alsbald keine Rolle mehr spielen, ist allerdings noch nicht entschieden. Paradoxerweise könnte ihr Einfluss sogar zunehmen.
Statt einer Linksfraktion zwei linke Gruppen im Bundestag
Die verbliebenen Linken-Abgeordneten wollen sich nämlich „zügig“ als Gruppe konstituieren, wie Noch-Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch ankündigte. „Wir haben eine wichtige Funktion als die soziale Opposition,“ so der Linken-Politiker in einem Interview, „ob wir dafür nun 38 sind oder 28, ist beinahe zweitrangig.“ Da auch die Abgeordneten um Sahra Wagenknecht einen solchen Zusammenschluss anstreben, könnten in Zukunft statt einer Linksfraktion zwei linke Gruppen im Bundestag mitmischen.
Die Bildung derartiger Gruppen ist laut Geschäftsordnung möglich. Allerdings bedarf sie der Zustimmung des Bundestages. Bartsch drohte vorsorglich schon einmal mit den Konsequenzen, wenn die Anerkennung versagt würde. Da die 38 Einzelabgeordneten dann alle Rederecht im Parlament hätten, würden sich die Debatten vermutlich stark in die Länge ziehen. „Wir müssten eventuell mit diesem Mittel arbeiten, wenn alles ewig verzögert wird,“ erklärte Bartsch, „aber ich gehe erst einmal davon aus, dass man den vernünftigen Weg versucht.“
Wenn es im Bundestag außer fünf Fraktionen auch noch zwei Gruppen gibt, ändert dies am Parlamentsbetrieb zunächst wenig. Folgenreich wird es dann, wenn der Bundestag den Gruppen Rechte einräumt, die sonst nur Fraktionen zustehen. Wie bei einer Zellteilung würden sich dann nämlich viele Einflussmöglichkeiten der Linken-Abgeordneten verdoppeln.
So ist die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse laut Geschäftsordnung „im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen.“ Die Linke wäre demnach ab dem 6. Dezember nicht mehr dort vertreten. Erhalten dagegen auch die aus der Linksfraktion hervorgegangenen Gruppen Zugang, wären plötzlich zwei linke Parteien in den Gremien präsent.
In den Händen des Ältestenrates
Ähnliches gilt für das Präsidium des Bundestages. Nur Fraktionen haben das Recht auf einen Posten an der Parlamentsspitze. Die linke Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau müsste deshalb am 6. Dezember zurücktreten. Vergangene Woche kündigte sie jedoch an: „Ich habe vor, meine Aufgabe weiter zu erfüllen.“ Der Ältestenrat des Bundestages könnte ihren Rücktritt allerdings zur Bedingung machen, wenn der Bundestag die Gruppe anerkennen soll. Andernfalls würde die paradoxe Situation entstehen, dass eine fraktionslose Abgeordnete die Sitzungen leitet, während der AfD-Fraktion ihr verbrieftes Recht auf einen Parlamentsvize verwehrt wird.
Seinen Hut nehmen müsste auch der Wagenknecht-Gefolgsmann Klaus Ernst. Er sitzt derzeit noch für die Linksfraktion dem Ausschuss für Klimaschutz und Energie vor. Mit deren Auflösung geht der Anspruch auf den Posten jedoch verloren. Anders als bei Pau haben die Ausschussmitglieder hier immerhin die Möglichkeit, ihn abzuwählen.
Noch wichtiger ist, welche anderen Rechte den beiden Gruppen zuerkannt werden. Einen Anspruch, Gesetzentwürfe, Anträge oder Anfragen einbringen zu dürfen, haben sie nicht. Auch Aktuelle Stunden können nur Fraktionen beantragen. Bislang geht die Linke aber offenbar davon aus, wie bisher weiter machen zu können. „Wir sind in den Bundestag gewählt worden,“ so Bartsch, „um die linke Opposition zur Ampel zu sein. Das ist und bleibt unsere Aufgabe.“
Ob die Linke diese Rolle spielen darf, liegt jetzt in den Händen des Ältestenrates. Er muss dem Bundestag einen Vorschlag machen, welche Rechte die Gruppe bekommen soll. Aus Gründen der Gleichbehandlung müssten diese dann auch der Wagenknecht-Abspaltung eingeräumt werden. Da es dazu keine Vorschriften gibt, dürfte sich das Gremium vor allem an früheren Verfahrensweisen orientieren.
Erinnerung an die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung
Als sich die Fraktion der Deutschen Partei (DP) 1960 auflöste, zeigte sich der Ältestenrat äußerst zurückhaltend. Die Abgeordneten durften zwar in ihren Ausschüssen verbleiben, allerdings nur noch mit beratender Stimme. Auch im Vorstand, dem Vorläufer des heutigen Präsidiums, besaß der DP-Vertreter kein Stimmrecht. Darüber hinaus durfte die Gruppe einen Abgeordneten in den Ältestenrat entsenden – andere Rechte besaß sie nicht.
Die damalige Situation ist mit der heutigen in vielerlei Hinsicht vergleichbar. Auch die DP rutschte damals durch Austritte unter das für eine Fraktionsbildung vorgeschriebene Quorum. Die übrig gebliebenen Abgeordneten beantragten daraufhin, als Gruppe anerkannt zu werden und erhielten dafür eher widerwillig die Zustimmung des Plenums.
Die Linke spekuliert indes darauf, dass eine andere Periode zum Vorbild genommen wird: die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Weil es bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 ausreichte, in Ost- oder Westdeutschland die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen, entsandte die die damals noch als PDS firmierende Partei nur eine Handvoll Abgeordnete ins Parlament. Bei der nächsten Wahl rutschte sie dann nur durch vier Direktmandate ins Parlament. Beide Male bildete sie eine Gruppe – die ungleich größere Rechte erhielt als bis dahin üblich.
Die PDS wurde damals praktisch einer Fraktion gleichgestellt. „In Erwägung der Einmaligkeit dieser Lage bei der Einigung Deutschlands“, so heißt es in dem Beschluss von 1991, durfte sie in jeden Ausschuss ein Mitglied und einen Stellvertreter entsenden, die dort Antrags-, Rede- und Stimmrecht hatten. Die Gruppe erhielt auch das Recht, Gesetzentwürfe, Anträge und Anfragen einzubringen. Selbst Aktuelle Stunden und Zwischenberichte durfte sie verlangen, zudem erhielt sie umfangreiche Zuschüsse. Auf diese Weise sollte den ostdeutschen Abgeordneten das Gefühl der Gleichberechtigung vermittelt werden, zumal auch mehrere ehemalige DDR-Bürgerrechtler in den Bundestag gelangt waren und dort eine Gruppe bildeten.
Ausgang der Verhandlungen völlig ungewiss
1995 wurden diese Rechte für die PDS kurzerhand fortgeschrieben. Bei einer Arbeitslosenquote von 14,8 Prozent waren damals viele Ostdeutsche verbittert über den Verlauf des Einigungsprozesses, der Stimmenanteil der PDS hatte sich fast verdoppelt. Der Ältestenrat wagte es deshalb nicht, der Partei die zuvor gewährten Befugnisse zu entziehen. Während 1960 der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier das Plenum noch davor warnte, ein der Geschäftsordnung widersprechendes Präjudiz zu schaffen, sucht man solche Bedenken im Beschluss von 1995 vergebens.
Das alles ist jetzt fast 30 Jahre her. In den kommenden Wochen wird sich der Ältestenrat erneut mit der Frage zu befassen haben, ob sich die Abgeordneten aufgelösten Linksfraktion in Gruppen zusammenschließen dürfen und welche Rechte diese bekommen sollen. Der Ausgang der Verhandlungen ist völlig ungewiss.
Die Linke und das Wagenknecht-Lager spekulieren darauf, dass sie dieselben Rechte erhalten werden wie die PDS in den frühen 1990er-Jahren. Dabei übersehen sie, dass die damaligen Beschlüsse den besonderen Umständen nach der Wiedervereinigung und dem Wahlsystem von 1990 geschuldet waren. Dass der Bundestag den zerstrittenen Linken-Abgeordneten diesmal in ähnlicher Weise entgegenkommt, ist deshalb zweifelhaft. Denn eigentlich ist die Sache klar: Im Bundestag haben nur Fraktionen etwas zu sagen.
Hubertus Knabe, geb. 1959, ist ein deutscher Historiker. Er war Direktor der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ab ihrer Gründung im Jahr 2000 bis zum September 2018. Knabes Veröffentlichungen widmen sich der Westarbeit der DDR-Staatssicherheit, den Oppositionsbewegungen im Ostblock, der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte sowie der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Erunterhält den Blog hubertus-knabe.de