Bundeskanzler Olaf Scholz verhält sich in Sachen Ukraine auffallend wortkarg und zaudernd. Sein Zögern könnte auch mit seiner politischen Vergangenheit zu tun haben.
Dass Vertreter einer Regierungskoalition den eigenen Bundeskanzler öffentlich kritisieren, ist ein No-Go im deutschen Politikbetrieb. Wenn sie dennoch gegen diese ungeschriebene Regel verstoßen, muss der Unmut groß sein. Die FDP-Politikerin und Vorsitzende des Bundesverteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hat sich jetzt kritisch über das Agieren von Olaf Scholz im Ukraine-Krieg geäußert. Der Bundeskanzler sage nicht wirklich, was er wolle. „Das bedauere ich sehr.“ Sie wünsche sich, dass er deutlich erkläre: „Deutschland ist bereit, schwere Waffen zu liefern.“ Ähnlich äußerte sich auch der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, der mit Strack-Zimmermann vor einigen Tagen nach Kiew gereist war.
Warum sich Bundeskanzler Scholz in der Ukraine-Krise so passiv verhält, lässt viele Beobachter rätseln. Im Wahlkampf zu den letzten Bundestagswahlen hatte er erklärt, Helmut Schmidt sei sein Vorbild. Doch von dessen beherztem Agieren in politischen Krisensituationen ist wenig zu sehen. „Führung bestellt, Scholz bekommen,“ kommentierte die Zeitung Die Welt schon im Januar unter Anspielung auf ein Zitat aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister. Damals hatte er erklärt: „Wer Führung bestellt, bekommt sie bei mir.“
Überzeugter Gegner der NATO
Wie bei vielen SPD-Politikern könnte Scholz’ politische Vergangenheit eine Erklärung bieten. Zu Beginn seiner politischen Karriere war er nämlich ein überzeugter Gegner der NATO und der USA. Damals, in den frühen 1980er Jahren, standen sich Moskau und der Westen ähnlich unversöhnlich gegenüber wie heute. Im Dezember 1979 waren sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert, und der Kreml hatte hunderte nukleare Mittelstreckenraketen neu auf Westeuropa gerichtet. Während die NATO, initiiert von Schmidt, mit der Stationierung eigener US-Raketen dagegenhielt, geißelte Scholz in Aufsätzen, Reden und auf Demonstrationen die „aggressiv-imperialistische NATO-Strategie“ und deren „rechte“ Unterstützer in der SPD.
Scholz, der seit 1982 Vizechef der Jungsozialisten war, kämpfte dabei nicht nur auf heimischem Boden gegen die NATO. Er verbündete sich in diesem Kampf vielmehr auch mit hohen Ostblock-Funktionären. Wie erst kürzlich bekannt wurde, reiste er zu diesem Zweck seit 1983 regelmäßig in die DDR – zwischen September 1983 und Juni 1988 insgesamt neunmal. Die DDR-Grenzorgane wurden dabei jeweils vorher angewiesen, ihn vom Zwangsumtausch zu befreien und ihm eine „besonders bevorzugte, höfliche Abfertigung“ zuteilwerden zu lassen.
Dokumente aus dem Bundesarchiv zeigen, dass sich Scholz damals weit stärker mit der Politik des Kremls identifizierte als mit der der USA oder der Bundesregierung. Nachlesen kann man das zum Beispiel in den Unterlagen über eine Reise des Juso-Bundesvorstandes im Januar 1984. Schon im Vorfeld hatten die Funktionäre des DDR-Jugendverbandes FDJ vermerkt, dass Scholz zur marxistisch orientierten Stamokap-Gruppe gehöre, die oft stärker bereit sei, „mit Kommunisten zusammenzuarbeiten.“ Tatsächlich profilierte sich Scholz damals im SPD-Jugendverband als inoffizieller Sprecher der Minderheit radikaler Marxisten, der gegen die Mehrheit der „Reformisten“ wetterte.
Die Juso-Delegation wurde damals vom zweitwichtigsten Funktionär der DDR, dem ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon Krenz, empfangen. In der DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ konnte man sehen, wie Scholz, seinerzeit noch mit rotem Wuschelkopf, Krenz gegenübersaß. In dem fast zweistündigen Gespräch versicherten die Jusos, dass sie „1984 noch aktiver als bisher die Aktion der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa unterstützen“ wollten. Zudem vertraten sie die Ansicht, dass die Sowjetunion „den USA noch viel mehr Atomraketen vor die Haustür stellen“ müsste. Anders als Krenz kürzlich behauptete, forderten sie auch nicht die Freilassung der inhaftierten Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, sondern gaben sich „mit der Erklärung des Genossen Krenz zufrieden, dass in der DDR keiner für seine Gesinnung inhaftiert werde.“
Bei einem Empfang in der Vertretung der Bundesrepublik würdigte der Chef der Jusos, Rudolf Hartung, am nächsten Tag den Aufenthalt „als den bisher erfolgreichsten in den Beziehungen zwischen FDJ und Jungsozialisten.“ Als Scholz gefragt wurde, was die Jusos denn zur Stationierung sowjetischer Raketen in der DDR sagten, antwortete dieser sybillinisch: Es gebe zwar einen Beschluss der SPD gegen die Stationierung amerikanischer Raketen – aber keinen gegen die sowjetischer Raketen, die er eindeutig für einen „Akt der Nachrüstung“ halte. In einer gemeinsamen Presseerklärung forderten FDJ und Jusos am letzten Besuchstag „den sofortigen Stationierungsstopp und den Abzug der bisher aufgestellten US-Erstschlagwaffen“.
„Völlige Übereinstimmung“ mit der FDJ
Im Oktober 1986 war Scholz erneut beim Zentralrat der FDJ. Auch diesmal wurden die Jungsozialisten von Krenz empfangen. Einem Bericht zufolge wurden mit Scholz „auch die meisten Fragen zur Abschlussvereinbarung durchgesprochen“. Die Jusos hatten sich darin erstmals die Forderung der DDR zu eigen gemacht, Ostdeutschland wie einen ausländischen Staat zu behandeln – entgegen dem Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz.
Jusos und FDJ vereinbarten zudem, eine gemeinsame Arbeitsgruppe zu bilden, der auch Scholz angehörte. Im Dezember 1986 reiste er deshalb erneut nach Ost-Berlin. Die FDJ vermeldete anschließend, „dass wir im Grundsatz völlige Übereinstimmung erzielen konnten.“ Die Jusos hätten einem Vorschlag der FDJ zugestimmt, gemeinsam für atom- und chemiewaffenfreie Zonen in Mitteleuropa einzutreten. Auch andere westeuropäische Jugendverbände sollten nun für diese Forderung gewonnen werden. Da der Großteil des sowjetischen Waffenarsenals davon nicht betroffen war, wäre eine Umsetzung in erster Linie zu Lasten der NATO gegangen.
Das Sekretariat des SED-Zentralkomitees segnete die Pläne der FDJ im Januar 1987 ab. Bereits im Februar stellten die Jusos mit den Abgesandten aus der DDR ihre „Übereinkunft“ in Bonn vor. Weil der Weltfrieden heute „gefährdet wie nie zuvor“ sei, so hieß es darin, brauche es eine „neue Phase der Entspannungspolitik“. Insbesondere das Vorhaben des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, einen Abwehrschirm gegen sowjetische Interkontinentalraketen aufzubauen, wurde kritisiert. Scholz, der das Papier mit schwungvollen Lettern unterschrieben hatte, erklärte den FDJ-Vertretern bei dieser Gelegenheit, sein Ziel sei „die Formierung der SPD zu einer linken Massenpartei, die fähig ist, die politischen Machtstrukturen in der BRD zu verschieben.“
Scholz weilte nun regelmäßig in der DDR. Im März 1987 nahm er an einem Internationalen Friedensseminar der FDJ in Ost-Berlin teil. Laut Ablaufplan sollten er oder ein anderer Juso-Vertreter dabei auch SED-Chef Erich Honecker vorgestellt werden. Wie das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ berichtete, nahm Scholz damals auch an einer Pressekonferenz teil, auf der er die Initiative von Jusos und FDJ als „Beispiele für die Machbarkeit konkreter Friedenspolitik“ hervorhob.
Im September 1987 beteiligte sich Scholz sogar offiziell an einer FDJ-Demonstration in der DDR. Auf einem Foto in deren Zentralorgan „Junge Welt“ sieht man, wie er in der ersten Reihe neben FDJ-Chef Eberhard Aurich durch Wittenberg läuft. Vor dem Rathaus hielt er anschließend eine Rede, die im DDR-Radio übertragen wurde. Zwei Monate später wirkte er zudem an einem Seminar mit, das dem Zweck diente, die Forderungen von Jusos und FDJ auch vor Vertretern internationaler Jugendorganisationen zu propagieren. Untergebracht wurden die westlichen Gäste im Hotel „International“ in Magdeburg, nachdem das Reisebüro der DDR bereits vergebene Zimmer für sie hatte freiräumen müssen. Der Zentralrat der FDJ dankte anschließend dem Staatssicherheitsdienst und weiteren DDR-Ministerien „für die sorgfältige und umsichtige politische Unterstützung“.
Die Stasi begann in dieser Zeit, verstärkt gegen die aufkeimende Opposition in der DDR vorzugehen. Mitte Januar 1988 wurden über 100 Bürgerrechtler verhaftet und teilweise ausgebürgert. Der damalige Juso-Vorsitzende schrieb zwar nach einiger Zeit einen mahnenden Brief an Aurich, veröffentlichte diesen aber nicht, wie die FDJ-Führung feststellte; nur der Bundesausschuss gab eine öffentliche Erklärung ab. Als sich der kommunistische Jugendverband trotzdem über diese „Einmischungsversuche“ beschwerte, betonte Scholz die „moderate Behandlung der jüngsten Ereignisse in der DDR durch die Jusos“. Zugleich bekräftigte er seinen Wunsch, die Beziehungen zur FDJ weiterzuentwickeln – „möglichst ohne konjunkturelle Belastungen.“
1988 zog die FDJ Bilanz. „Die Jusos wurden Partner der FDJ im Friedenskampf,“ heißt es in einer als Vertrauliche Verschlusssache eingestuften Analyse. Auch mit anderen kommunistischen Jugendverbänden des Ostblocks würden diese zusammenarbeiten. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass Scholz auch Vizepräsident des Weltverbandes sozialistischer Jugendorganisationen IUSY sei. Tatsächlich wurden, wie aus mehreren Dokumenten hervorgeht, die Forderungen von FDJ und Jusos zur Zufriedenheit der SED nicht nur in Deutschland, sondern auch international verbreitet und unterstützt. Unter „Schlussfolgerungen“ hieß es in der Analyse: „Es ist so auf die Jusos einzuwirken, dass sie die von ihnen mitgetragenen Friedensvorschläge der Sowjetunion, der DDR und der anderen sozialistischen Staaten in ihrem Bündnisbereich in der BRD und in der Internationalen Union der Sozialistischen Jugend verankern und stabil vertreten.“
Die „wahren Feinde des Friedens“ in den USA
Im Mai 1988 war Scholz ein weiteres Mal in der DDR. Diesmal nahm er an einem Seminar der FDJ über „Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zusammenarbeit junger Kommunisten und junger Sozialdemokraten“ bei der Friedenssicherung teil. „Das Auftreten der Delegation“, heißt es in einem anschließend gefertigten Bericht, „war geprägt vom offensichtlichen Willen, den erreichten Stand der Beziehungen zur FDJ konstruktiv fortzusetzen.“ „Auffällig“ nannten es die FDJ-Funktionäre, dass die innere Situation in der DDR keine große Rolle gespielt hätte. An der „Buhmann-Diskussion gegen die DDR“ hätten sich die Jusos nicht beteiligt. Die „Friedensoffensive der sozialistischen Länder“ hätte laut Jusos vielmehr zu einem „Aufbrechen des antikommunistischen Feindbildes“ in der Bundesrepublik geführt. Die „wahren Feinde des Friedens“ befänden sich im „Militär-Industrie-Komplex der USA“ und in der „Stahlhelm-Fraktion“ von CDU/CSU.
Bei dem Seminar erklärte Scholz auch seine Bereitschaft, an einem „Internationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen“ in Ost-Berlin teilzunehmen. Bei der Veranstaltung setzte sich die hochmilitarisierte DDR im Juni 1988 vor mehr als tausend Teilnehmern aus 113 Ländern als Friedensstaat in Szene. Scholz wurde diesmal schon fast wie ein Staatsgast behandelt, denn ein ZK-Mitarbeiter holte ihn persönlich mit dem Auto am Grenzübergang ab. Den Unterlagen zufolge war dies Scholz‘ letzte Reise in die DDR.
Das alles ist über 30 Jahre her. Nicht nur äußerlich hat sich Scholz seitdem erheblich verändert. Gleich geblieben ist hingegen das Großmachtdenken im Kreml, das den umliegenden Staaten das Recht auf Selbstbestimmung abspricht – und die Bereitschaft vieler Sozialdemokraten, die daraus folgende Politik zu akzeptieren. Wie kein anderer steht dafür der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder, der Aufsichtsratschef zweier russischer Staatskonzerne ist und am 30. Juni in den Aufsichtsrat von Gazprom einziehen soll.
Er war es, der als Juso-Vorsitzender 1980 die Zusammenarbeit mit der FDJ begann.