...aber nicht alle Berliner dürfen es noch einmal mit der Bundestagswahl 2021 versuchen. Das rettet den Abgeordneten, die über die Liste der Linken eingezogen sind, ihr Mandat. Ansonsten stellen sich anlässlich des Urteils noch ein paar drängende Fragen.
Voraussichtlich am 11. Februar 2024 wird in Berlin erneut der Bundestag gewählt. In ganz Berlin? Nein, nur in den 455 Wahlkreisen, die vom allgemeinen Versagen der Berliner Verwaltung am stärksten betroffen waren. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einem heute verkündeten Urteil. Etliche Bundestagsabgeordnete dürften erleichtert gewesen sein. Denn die Frage stand ja im Raum, in welchem Umfang in Berlin neu gewählt werden müsse.
Dass die deutsche Hauptstadt bei der Organisation der Landes-Abgeordnetenhaus- wie auch der zeitgleichen Bundestagswahl in einem bis dato hierzulande völlig unvorstellbaren Ausmaß versagt hat, war von Anfang an nicht zu leugnen. Die Geschichten von Wahlwilligen, die nicht wählen durften, fehlenden oder falschen Wahlscheinen und am Ende auch geschätzten statt gezählten Ergebnissen, schockierten das interessierte Publikum schon am Wahlabend. Aber hat das nun das Wahlergebnis in einigen oder fast in allen Wahlbezirken beeinflusst? Sollte man die Wahl nur in einigen oder in allen Teilen Berlins wiederholen?
Bei der Abgeordnetenhauswahl hatte sich das Landesverfassungsgericht in Berlin für eine vollständige Wahlwiederholung entschieden, was bekanntlich einen Regierungswechsel im Roten Rathaus von Rotrotgrün zu Schwarzrot zur Folge hatte. (Das hat man allerdings kaum bemerkt, da der Regierende Bürgermeister von der CDU offenbar glaubt, dass man in Berlin generell nicht allzu weit von grünen Politikleitlinien abweichen dürfe, aber das ist eine andere Geschichte.) Unabhängig davon war die Entscheidung für eine komplette Wahlwiederholung richtig und konsequent. Noch besser wären wahrscheinlich gleich richtige Neuwahlen gewesen, statt die Nachwahl für noch eine halbe Legislaturperiode, doch die standen nie zur Debatte.
Neuwahlen im Bund würden sich derzeit auch viele Bürger wünschen, und die hätten dem Bundesverfassungsgericht auch viel Arbeit erspart. Denn die Bundesrichter hatten die Bundestagsentscheidung aus dem Spätherbst letzten Jahres zu prüfen, wonach die in Berlin vergeigte Bundestagswahl nur in 431 von 2.256 Wahlbezirken zu wiederholen sei. Die CDU/CSU hatte dagegen geklagt und eine umfangreichere Nachwahl gefordert, denn es kamen auch aus weiteren Teilen der Stadt Beschwerden über Wahlpannen.
Legitimation minderer Güte?
Das hätten die Bundesverfassungsrichter zum Anlass nehmen können, wie ihre Kollegen vom Berliner Landesverfassungsgericht, eine Nachwahl in der ganzen Stadt zu verfügen. Doch das hätte zu Verwerfungen im Bundestag führen können. Insbesondere den meisten Abgeordneten der einstigen Linken-Fraktion hätte das parlamentarische Aus gedroht. Auch wenn die Nachwahl nicht zu einer anderen Regierungsmehrheit geführt hätte, eine Frage stünde unübersehbar im Raum: Wie war es eigentlich um die demokratische Legitimation des anders zusammengesetzten Bundestags bestellt, der so nur aufgrund einer teilweise nicht rechtmäßig verlaufenen Wahl bestand? Ist über Deutschlands Schicksal dann nicht zwei Jahre lang von einem Parlament mit einer Legitimation minderer Güte entschieden worden?
Diese Legitimationsfrage sollte man zwar ohnehin stellen, aber wenn die Nachwahl kaum etwas an der gegenwärtigen Bundestags-Zusammensetzung ändern kann, drängt sie sich halt nicht so stark auf.
Viel eher kann man in der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts einen gewissen realsatirischen Unterhaltungswert finden. Die Auswahl der 431 Wahlbezirke, in denen die Wahlpannen so schlimm waren, dass die Nachwahl dort auch nach dem erwähnten Bundestagsbeschluss unvermeidlich war, muss auch von ziemlichen Pannen begleitet gewesen sein. Denn erst das Bundesverfassungsgericht prüfte offenbar die Protokolle der Wahlvorstände. In der Pressemitteilung des Verfassungsgerichts heißt es zwar, dass der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022 im Ergebnis überwiegend rechtmäßig sei, aber:
„Der Bundestag hat das Wahlgeschehen jedoch unzureichend aufgeklärt, da er auf die gebotene Beiziehung und Auswertung der Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke verzichtet hat. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht nachgeholt. Daraus ergibt sich, dass einerseits die Bundestagswahl in weiteren 25 Wahlbezirken des Landes Berlin einschließlich der zugehörigen Briefwahlbezirke für ungültig zu erklären und andererseits die Ungültigerklärung der Wahl in sieben Wahlbezirken und deren Briefwahlbezirken im Beschluss des Deutschen Bundestages aufzuheben ist. Daneben führen erst nach der mündlichen Verhandlung bekanntgewordene Besonderheiten der Auszählung von Briefwahlstimmen zur Ungültigerklärung der Bundestagswahl in weiteren sechs Briefwahlbezirken und den sechs mit diesen verbundenen Urnenwahlbezirken. Die Wiederholungswahl ist als Zweistimmenwahl (d. h. mit Erst- und Zweitstimme) durchzuführen."
So ergibt sich nun statt der 431 Wahlbezirke, in denen die Bundestagsmehrheit wählen lassen wollte, die Zahl von 455 Wahlbezirken, in denen voraussichtlich im Februar abgestimmt wird.
Warten auf die nächste Wahl-Entscheidung aus Karlsruhe
Auf einen politisch interessierten Nichtjuristen wirkt das Urteil wie der Versuch eines Kompromisses. Für die komplette Nachwahl in Berlin fehlte der Mut, aber den Nachwahlbeschluss des Bundestags konnte man auch nicht ohne Korrektur passieren lassen. Zudem ist es ein für die Politik verträgliches Urteil. Allein Kosten und Aufwand eines Wahlkampfs in der ganzen Hauptstadt, in dem es auch tatsächlich um etwas geht, dürften die Parlamentsparteien scheuen. Zumal für eine Wahl, die inzwischen näher an der nächsten Bundestagswahl liegt als an der, die sie wiederholt.
Und die Fragen, die dann diskutiert würden, wären dann ja nicht nur die der Legitimation, sondern vielleicht auch um das undemokratischere neue Wahlrecht, das die Ampel-Mehrheit schon für die nächste Bundestagswahl durchgedrückt hat. Das sorgt bekanntlich dafür, dass beispielsweise Direktmandate nur noch zu einer Art Bonusprogamm für beim Wähler besonders beliebte Abgeordnete degradiert werden. Diese eigentlich gewonnenen Mandate kann man ihnen nämlich einfach aberkennen, wenn sie nicht zum gesamten Parteienergebnis passen. Damit soll die Zahl der Abgeordneten begrenzt werden. Es würde dann Wahlkreise ohne direkt gewählte Abgeordnete geben. Kleinere oder regionale Parteien könnten auch nicht mehr wie bisher mit dem Gewinn dreier Direktmandate in Gruppen- oder Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen, auch wenn sie die Fünf-Prozent-Hürde bundesweit verfehlen.
Dieses Wahlrecht ist nicht nur ein in Gesetzesform gegossener Demokratieabbau, es gilt vielen auch als verfassungswidrig, weshalb dazu selbstverständlich Klagen in Karlsruhe anhängig sind. Darüber muss das Bundesverfassungsgericht noch entscheiden. Und diese Entscheidung ist viel bedeutender und wichtiger als die, die heute verkündet wurde. An diese offene Frage sollte immer wieder erinnert werden, denn hier brauchen die Bürger dringend Verfassungsrichter, die sich zur Verteidigung der Demokratie berufen fühlen. Und wer die Zahl der Abgeordneten begrenzen will, der sollte lieber das Mehrheitswahlrecht einführen. Dann gibt es nur direkt gewählte Abgeordnete, und das sind immer so viele, wie es Wahlkreise gibt.
Doch bevor in Karlsruhe über das Wahlrecht entschieden wird, gibt es noch einen zusätzlichen Wahl-Stimmungstest in 455 Berliner Wahlbezirken. Immerhin ein zusätzlicher Anlass für eine Wahlparty, wenn man sie mag.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.