Cora Stephan / 08.07.2021 / 06:00 / Foto: Imago / 36 / Seite ausdrucken

Cora Stephan: Die Stimme der Provinz – heute aus Bonn

Bonn war Provinz und trotzdem lange Hauptstadt. Und vielleicht näher dran am wirklichen Leben, während man in Berlin aus der Blase von Politik und Medien womöglich gar nicht heraus will.

 

Ich habe nicht immer in der Provinz gelebt, aber ich habe in der „Provinz“ nächtelang herumgesessen, gequatscht, zu viel getrunken und anderen beim Intrigieren zugehört und zugesehen. Bonn war Provinz und die „Provinz“ und ihre Wirtin Heike Stollenwerk waren eine bedeutende Institution. Nicht weit entfernt vom Häuschen mit der Kneipe lagen Bundestag und Abgeordnetenbüros, alles kleinteilig und übersichtlich. Provinz halt.

Nun, das ist lange her, damals war ich Korrespondentin im Bonner Büro des „Spiegel“ und die Grünen waren noch nicht lange im Bundestag, repräsentierten nach dem Rotationsprinzip und hatten vieles nicht begriffen, nicht die Sache mit dem „Gewaltmonopol des Staates“, nicht, und das sprach nicht für ihr Demokratieverständnis, den Unterschied zwischen Partei und unabhängigen Abgeordneten. Doch all das sahen die meisten Journalisten ihnen gnädig nach, die Grünen waren doch so schön frisch und unverbraucht. Das finden sie nicht nur heute, bei Annalena, einfach unwiderstehlich.

In der „Provinz“ traf man auf Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die den Machtwechsel planten und, zunächst nur theoretisch, am Zaun des Kanzlerbungalows rüttelten, nach einigen Bier wurde Schröder auch praktisch. Hier polierte schon mal Heide „Was wird aus mir“ Simonis hinter der Theke die Gläser, begegnete man Otto Schily, Waltraud Schoppe oder Doris Köpf. Linksgrün, halt, aber noch nicht ganz so ausgelatscht wie heute.

Dass Bonn immerhin 41 Jahre lang Hauptstadt und die Republik „Bonner Republik“ hieß, verdankte das Land Konrad Adenauer, der seinen Garten ganz in der Nähe, in Rhöndorf, nicht zurücklassen wollte, in den er sich während der Nazizeit zurückgezogen hatte. „Il faut cultiver le jardin“, das ist für Candide in Voltaires gleichnamigem Roman das Naheliegende nach einem Leben voller Katastrophen, und so dürfte es auch für Adenauer gewesen sein.

Wer ist näher dran am wirklichen Leben: Bonn oder Berlin?

War der Journalismus bodenständiger damals? Naja. Für eine Einladung zum Mittagessen brachten Parlamentarier ihren journalistischen Spezis eine Armvoll Akten vorbei – das nannte sich dann „Recherchieren“. Auch wurde in der morgendlichen Konferenz schon mal beschlossen, den einen hoch-, einen anderen runterzuschreiben. Oder auch, eine Ministerin betrunken zu machen, wie es das Gerücht will – Rita Süssmuth erwies sich jedoch als trinkfest.

Die „Provinz“ war nicht das, was heute das „Borchardt“ oder das „Einstein“ Unter den Linden für die Blase aus Politik und Medien sein mag – und „Gruners Nachtcafé“ oder die „Schumannklause“ sind kaum mit der die heutigen „StäV“ in Berlin zu vergleichen. In Bonn war halt alles ein wenig – genau: provinzieller.

Lang ist’s her. Natürlich musste nach der Vereinigung Berlin Hauptstadt werden, alles andere wäre absurd gewesen – und die Entfernung Bonns zu den „neuen Ländern“ viel zu groß. Und doch – war man in Bonn nicht vielleicht doch näher dran am wirklichen Leben? Am Leben des hart arbeitenden Steuerzahlers – während man in Berlin aus der Blase von Politik und Medien und dem Zuarbeitermilieu, das sie umgibt, weder heraus muss noch womöglich heraus will?

Wir in der Provinz sind für uns selbst verantwortlich

Oder woher sonst kommt das Gefühl, das Juli Zeh, die übrigens in Bonn aufgewachsen ist, kürzlich so wiedergab: „Die aktuelle Politik wird in den Städten für die Städte gemacht. Da herrscht keine klare Sicht für die Lebensverhältnisse sechzig Kilometer weiter draußen.“ Und: „Im urbanen Leben gibt es Großzuständigkeiten. Wer räumt den Müll weg, wer repariert die Straßenlampe, wer betreut meine Kinder, da gibt es immer einen, der zuständig ist und sich kümmert. Wenn man da, auch im geografischen Sinne, raustritt, stellt man fest: Hier gibt es niemanden, den ich anrufen, bei dem ich mich beschweren kann. Plötzlich bin ich zuständig für mich selbst. Das gilt übrigens auch fürs Menschliche. Die menschlichen Beziehungen in Städten sind sehr eingebettet in Machbarkeitsmaschinen. Wenn da etwas nicht passt, gibt es immer einen Beauftragten für das Zwischenmenschliche. Auf dem Dorf ist das völlig anders. Da muss man Konflikte selbst austragen, man kann auch nicht weg – außer man verkauft sein Haus.“

Vielleicht ist das der entscheidende Punkt: Wir in der Provinz sind für uns selbst verantwortlich, wir legen eher wenig Wert auf staatliche Rundumbetreuung und haben erst recht keinen Bedarf für all die „Beauftragten“, die nach einer Ausbildung in Geschwätzwissenschaften beim Staat unterkriechen, um ständig neuen Beratungsbedarf zu kreieren. Streit trägt man hier entweder aus – oder man lässt ihn ruhen, bis er sich von selbst erledigt hat.

Man nennt das lebenspraktisch. Hier herrscht klare Sicht, nicht das Miasma aus den städtischen Blasen.

Die Provinz leuchtet. Ich mein ja nur.

 

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Leserpost

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m. neland / 08.07.2021

Land und Dorf heute ist nicht gleich Land und Dorf zu Zeiten der ,Bonner Rebublik’. Auch in den Dörfern scheinen die Menschen ,urbaner’ geworden zu sein. Zwar bestehen die dörflichen sozialen Institutionen weiter, aber parallel haben sich urbane Strukturen gebildet. Nicht zuletzt durch eine mediale Dauerbeschallung und Druckbetankung mittels neuer Medien wie Internet und Smartfone.

Volker Kleinophorst / 08.07.2021

@ Dr. R. Moeller Lassen Sie doch mal den Adolf außen vor. Die “Hauptstadt der Bewegung” war auch eher München. Berlin war Hauptstadt von 1871 bis 1945 und danach “Hauptstadt der DDR” bis 1990 und ist es wieder. Wer hätte das nur ahnen können.

Dr.Jäger / 08.07.2021

Teile von Bonn sind so bunt, dass es manchen schon länger hier Lebenden schon zu bunt wird, und Abwanderungsgedanken aufkommen. Wenn den Leuten in der grossen , weltoffenen Stadt die Decke auf den Kopf fällt,oder es manchem richtig dreckig geht , dann erinnern sich so manche an ihre Verwandtschaft in der zurückgebliebenen Provinz. Vor fast 80 Jahren tauchten ganz weitschichtig Verwandte aus FFM bei meinen Vorfahren auf,die Decke war noch da, aber eine Wand nicht, so wie die Nachbarwohnung. Und sie sollten nicht die Einzigen sein, die das primitive Landleben auf einmal so zu schätzen wussten, Ein alter Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Schweinen.. war mehr wert, als Aktien und das feine Haus in der Stadt. Es könnte sich wiederholen,auch ohne Weltkrieg,der Feind bombt nicht, nein, er wird eingeladen, und macht sich den “Kartoffel” zum Untertan. Heute reicht ein langes Messer. Mobbing schlägt Atombombe, die Stadt muss nicht aufgebaut werden, es wohnen nur andere Leute dort.  Nur diesmal,liebe “Citizens” ,Pech gehabt, der Hof ist weg.Vielleicht ist in der “Containersiedlung” im Nachbardorf noch ein Bett frei.Die “eingeladenen Gäste” dort warten auf ein Domizil in der Stadt, also eine win-win Situation.Ob es Taschengeld,Kost und Logie gratis, auch für die Stadtflüchter gibt , eher nicht, ausser der Pass ist weg und das Zauberwort “A..l” wirkt bei den Behörden.

Klaus-Dieter Zeidler / 08.07.2021

Die Leute in der Provinz sind davon überzeugt, daß die Spinner in Berlin einen an der Klatsche haben. Und ja, dem stimme ich unumwunden zu. Es ist äußerst schwierig weltfremdere Menschen zu finden, die gegen ihre Überzeugung, jedoch für viel Geld, all diesen Unsinn verzapfen. Sich damit eine Bevölkerung zu formen, die das auch noch ungeprüft akzeptiert, das nimmt groteske Züge an.

giesemann gerhard / 08.07.2021

Tja, die Sehnsucht nach dem einfachen, überschaubaren Leben ... . Manche mögens heiß, manchen ists zu heiß.

Wilfried Cremer / 08.07.2021

Liebe Frau Stephan, Bonn ist immer noch die größte deutsche Stadt, die ohne Fußball-Bundesliga auskam. Das allein reicht dicke schon zur Qualifikation als Hauptstadt.

Bernhard Maxara / 08.07.2021

Welche Entscheidung über die Hauptstadtfrage die absurdere war, das sehen wir ja wohl heute…

Rolf Mainz / 08.07.2021

Der Umzug von Bonn nach Berlin war und ist symptomatisch für die jüngste Dekade deutscher Politik. Der Versuch, das Dritte Reich und die DDR vergessen zu machen, um vermeintlich direkt wieder an die Weimarer Republik (mit Regierung in Berlin) anknüpfen zu können. Ausserdem Ausdruck der neuen Grossmannssucht (Grossfrausucht) deutscher “Spitzen"politik. Nobel renovierte oder neu errichtete Politikpaläste für die anschwellende Zahl der Abgeordneten und die geltungssüchtige Elite der deutschen Regierung. Schein statt Sein. Geradezu symbolträchtig auch die mit dem Umzug verbundene Ostorientierung der Republik. Hier wackelte seitdem bereits viel zu oft der Schwanz mit dem Hund, ob finanziell oder ideologisch. All dies begleitet von verheerenden Fehlplanungen zur teilweise immer noch andauernden “Zweigleisigkeit” von Behördenstandorten in Berlin und Bonn, resultierend in unzähligen Hin- und Herflügen und -fahrten zu horrenden Kosten, unnötigem Verbrauch effektiver Arbeitszeit - und vermeidbarem CO2-Effekt… Bonn mag “provinziell” erscheinen, im Vergleich mit der Regierungsfestung in Berlin jedoch geradezu sympathisch und bürgernah. Man denke allein an die Regierungssitzungen im ehemaligen Wasserwerk - eine andere Republik. Eine bessere Republik, in fast jeder Hinsicht.

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