Nach den Erfahrungen des Dritten Reiches und den Erzählungen der Überlebenden in meiner Kindheit und Jugend hätte ich nie gedacht, dass die Bewohner dieses einst wunderbaren und blühenden Landes ihre Freiheiten schneller abgeben als eine Rolle Klopapier an den Nachbarn. Abgesehen von den täglichen Horrormeldungen und Schauergeschichten der Medien hat sich auch in den sozialen Medien eine Grundstimmung breitgemacht, die zwischen Fatalismus und Zorn auf „die Querdenker“ (und das ist jeder, der die Lockdown-Maßnahmen nicht so prall findet und vielleicht andere Ideen hat) schwankt.
Gar manch einem Bürger können die sogenannten „Lockdown“-Vorschriften gar nicht weit genug gehen und er sähe am liebsten leere Straßen und Arbeitsplätze, „damit das Virus endlich besiegt wird“. Der Denkfehler – und das ist das eigentlich Überraschende – ist, dass ein Virus „unbesiegbar“ ist. Selbst wenn 99 Prozent der Bevölkerung dauerhaft und nachhaltig durchgeimpft wären (was, wie wir wissen, schier unmöglich ist), so würde dies bedeuten, dass immer noch 800.000 Leute als potenzielle Virenmutterschiffe herumlaufen würden. Und dann mutiert das Virus vielleicht auch noch, die Sau.
Aber gut, spielen wir es durch: Denn die Kernfrage lautet doch, wie sich unser soziales Zusammenleben in Zukunft gestalten würde. Und das fernab der Überlegungen um Waren, Dienstleistungen und Lieferketten. Irgendeiner wird den Online-Einkauf beim Supermarkt schon in seinem Elektromobil ausfahren.
Etwas kritisch könnte die Partnersuche werden
Dinge, bei denen wir bisher gewohnt waren, einem Menschen gegenüber zu sitzen, werden jetzt auf die Elektronik verlagert. Online-Unterricht, Online-Meetings und Online-Beratungen werden die Präsenz von Menschen ersetzen. Da, wo es geht, wird künftig aus dem Home-Office gearbeitet. Hübscher Nebeneffekt: Der Arbeitgeber kann nicht mehr so genau kontrollieren, ob jetzt sein Mitarbeiter oder dessen Hund vor dem Monitor sitzt, während sich Mutti entscheiden kann, ob sie jetzt gleich fakturiert oder erst Björn-Sören bei den Schularbeiten hilft.
Die „Homes“ werden smarter werden. Die Kühlschränke melden sich, wenn in der Milch zu wenig Inhalt ist, bei ihrem Besitzer, wenn sie nicht gleich online die Bestellung (bei genügender Kontodeckung, versteht sich) an den Supermarkt schicken. Das Gleiche trifft auch auf Kleiderschränke zu, die im Spiegel ein Display mit Bekleidungsvorschlägen und praktischerweise auch Bezugsquellen für jene einblenden. Alternativ wird es Nahrungsmitteldrucker geben, da braucht der Verbraucher nur noch die Paste und den Geschmack zu bestellen. Wie bei Katzenfutter.
Etwas kritisch könnte die Partnersuche werden, denn Tinder und andere Plattformen ersetzen nun einmal kein persönliches Kennenlernen, aber mit virtuellen Brillen und virtuellen Treffpunkten lässt sich hier sicher eine Art Ersatz schaffen. Hübscher Nebeneffekt: Die Romantiker werden ihre Avatare selbst gestalten können, und durch „smart suits“ könnten sogar Berührungen simuliert werden. Praktisch: Der so gefundene Partner sieht immer gut aus, schmutzt nicht und riecht morgens nicht aus dem Hals. All die Unannehmlichkeiten des partnerschaftlichen Zusammenlebens fallen weg, und wer an einem Tag brummig ist, der betritt einfach nicht seinen virtuellen Raum. Ein ebenfalls hübscher Nebeneffekt dürfte die Verkleinerung des realen Wohnraumes sein.
Reales Umfeld viel zu kompliziert
Auf 20 bis 30 Quadratmetern lassen sich locker ein Bett, eine Toilette und wenigstens zwei Kochplatten und eine Mikrowelle unterbringen. Da, wo früher vier Personen lebten, lassen sich jetzt prima acht Leute unterbringen, und sowohl Wohnraum- als auch Parkplatzprobleme sind gelöst. Hat eh so gut wie niemand mehr Autos. Braucht er ja auch nicht mehr. Er geht sowieso nie raus. Wozu auch. Außer Natur gibt es da nichts, und die darf er wegen der Infektionsgefahr eh nicht betreten. Aber er kann sich mit seiner VR-Ausrüstung in die Südsee oder zu den Pyramiden beamen, ohne je dort gewesen zu sein. Reisen gibt es jetzt nur noch für VR-Programmierer, die ja irgendwoher ihre Vorlagen nehmen müssen.
Auch die Fortpflanzung (wozu eigentlich? Es gibt ja Pornos und mechanische Hilfsmittel) wird sich ändern. Wer meint, unbedingt ein Kind mit seiner virtuellen Partnerin haben zu müssen, der erschafft sich entweder über die Software eines (Vorteil: Es wird immer ein nettes und charmantes Kind bleiben – oder über ein Alterungsfeature „erwachsen“ werden. Zur Not kann man das Tamagotchi ja wieder löschen), oder schickt seine Körpersäfte in irgendein Labor, aus dem dann in vitro nach einigen Monaten ein echtes Kind nach Hause kommt (das kann man allerdings nicht löschen, zumindest nicht nach der Geburt). Hygienischer und keimfreier geht es nicht.
„Freie, gleiche und geheime Wahlen“ haben sich übrigens erledigt. Allerdings sind diese auch unnötig geworden. Es gibt keine Diskriminierten oder Benachteiligten mehr – schlicht, weil sich nun jeder in seiner bevorzugten virtuellen Blase tummeln kann, ohne Angst haben zu müssen, auf irgendjemanden zu treffen, mit dem er sich streiten müsste. Ansonsten gibt es die „Lösch“-Taste, und ich kann jeden, der mir nicht passt, aus meinem virtuellen Umfeld bannen. Reales Umfeld habe ich ja keines mehr, und das ist auch viel zu kompliziert.
Natürlich wird es Dissidenten geben. Die gibt es immer. Das sind die, die sich auf verschlungenen, illegalen Pfaden vielleicht doch einen echten, lebendigen Partner oder, schlimmer, ein Haustier oder ein Kind besorgt haben. Und da sich eh 90 Prozent aller Zeitgenossen mehr in der Virtualität als im echten Leben aufhalten, wird es eine Zeit lang dauern, bis diese Verräter enttarnt sind. Daher wird es auch hier Sicherheitskräfte geben müssen, die vielleicht doch einmal ausrücken und die bösen Buben, Mädchen und Diversen einfangen müssen, die diesen Gleichklang stören.
Es ist eine schöne, neue und heile Welt, die uns da Corona bescheren wird. Und die wir dann endlich so gestalten können, wie sie jedem einzelnen gefällt. Nur mit Leben hat das nicht mehr viel zu tun. Obwohl – wir ändern einfach die Definition von Leben und nennen es „Perfect Life“. Wie immer ist alles nur eine Frage des Marketings und der Ansprache. Covid-19 sei Dank.
(Weitere Hygieneartikel des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro