Am 26. Juni 2021 fasste die NZZ das Resultat einer Studie der Universität Trier zur politischen Ausrichtung der Mitglieder der Bundespressekonferenz auf ihren Twitter-Interaktionen in einer Aussage zusammen:
„Während die Journalisten grundsätzlich negativ über die Parteien des Landes twittern, stellten die Grünen eine Ausnahme dar.“
Der Journalist Robin Alexander, Stellvertretender Chefredakteur von „Die Welt“, hat vor wenigen Wochen ein neues Buch herausgebracht: „Machtverfall – Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report.“ Alexander scheut sich nicht, Politiker und ihren Politikbetrieb kritisch und lautstark auseinanderzunehmen. Gehört sein Buch damit ebenfalls zu den ausgesprochen seltenen Ausnahmen?
Das Buch ist ein einziges politisches Schlachtfest, bei dem allerdings die Rollen von Metzger und Opfer beständig wechseln. Dieses gegenseitige politische Abschlachten ist ein Fest für diejenigen Politiker, die andere abschlachten, aber nur, bis sie selber unters politische Messer geraten. Viele Jahre schien es bei Frau Merkel so, als bliebe sie der ewige Metzger, jedoch nur bis zu dem Moment, in dem sie den Fehler von Adenauer und Kohl wiederholte, nicht rechtzeitig abzutreten, zudem wird sie, im Unterschied zu diesen beiden, zusätzlich historisch geschlachtet werden, weil sie keine mit ihrem Namen verbundene Leistung hinterlässt.
Wer schon immer der Meinung war, dass Politik nur aus Machtgelüsten, Intrigen und Mordversuchen besteht, wird dieses Buch mit Wonne lesen. Wer meint, dass Merkel unser Heimatland erstens in ein verheerendes Demokratiedefizit und zweitens in ein finanzpolitisches Chaos sowie drittens in die außenpolitische Isolation geführt hat, wird sich durch dieses Buch nachdrücklich bestätigt fühlen. Indessen kann kein Buch der Frage ausweichen, ob es wirklich so einfach ist.
Wie sie ticken, aber nicht, warum sie so ticken
Ja, geschlachtet wird auf jeder der 375 Seiten des Buches. Aber nicht Alexander schlachtet, er stellt die Schlächterei vor, brutal und schonungslos, sogar weitgehend ohne jegliche Anteilnahme, womit sich sein Buch über alle anderen halbjournalistischen und pseudowissenschaftlichen Darstellungen des Berliner Politikbetriebes heraushebt. In der Geschichte der Bundesrepublik ist kein Buch erschienen, dass so wie „Machtverfall“ quasi mit einer riesenstarken Lupe und mit einem rasierklingenscharfen Skalpell die Wege politischer Entscheidungen offenlegt. Für Studenten der Politikwissenschaft sollte das Buch eine Pflichtlektüre sein, aus der mehr zu lernen wäre als aus jedem Lehrbuch.
Alexander fokussiert sich auf den Machtverlust von Frau Merkel sowie den Machtkampf in der Union, derjenige bei den Grünen kommt nur am Rande vor und der grotesk possenhafte Abschied der SPD aus der Politik gar nicht, aber die Union führt ihre Schlächterei in der Öffentlichkeit. Bei den kleineren Parteien vollziehen sie sich zumeist nur im Halbdunkel. Dafür hat er jahrelang die intimsten Interna gesammelt und zahlreiche Zuträger geradezu ausgequetscht. Er seziert die Vorgehensweise der agierenden Personen, aber nur am Rande seziert er ihren Charakter.
Das ist die erste Schwäche des Buches – für manche Leser sogar mehr als nur eine Schwäche, sondern eine herbe Enttäuschung. Nach drei Jahren intensivster Beobachtung müsste Alexander fähig sein, den inneren Antrieben seiner Figuren nachzuspüren, doch das ist offensichtlich nicht sein Metier. Er dringt nicht in die Politiker ein, er schreibt exzellent, wie sie ticken, aber nicht, warum sie so ticken. Trotzdem hebt er sich damit immer noch weit über das Niveau ähnlicher Versuche seiner Kollegen heraus.
Im Panorama des Wechsels von Täter und Opfer kommen einige besser weg als andere, was zumindest erstaunlich ist, beispielsweise kann sich der unvoreingenommene Leser hinter Robert Habeck einen im Prinzip anständigen Typen vorstellen und dass sich bei den ach so geschlechtslosen Grünen Frau Baerbock ausschließlich mit ihrem Geschlecht durchsetzen konnte (berufliche Leerstellen und diverse Betrügereien hätten jeden männlichen Wettbewerber abgeschlachtet), gerät ihr nicht zum Nachteil. Bei der Charakterisierung der Persönlichkeit von Armin Laschet taucht die Episode seiner Teilnahme am Versuch Jürgen Rüttgers, der bessere Johannes Rau zu werden, erst gar nicht auf.
Fähigkeiten zu Absprachen in kleiner Runde
Eine gravierende Schwäche von Merkel legt Alexander offen. Mit zunehmender Regierungsdauer waren ihr bei Personalentscheidungen Loyalität und direkte Abhängigkeit wichtiger als fachliche Eignung. Allerdings konnte jeder aufmerksame Beobachter das auch schon vorher sehen, so er denn sehen wollte, aber erst bei der Suche nach einer Nachfolgerin wurde dies auch für eine breite Öffentlichkeit augenscheinlich. Im Unterschied zu Adenauer und Kohl wollte Merkel ihren Nachfolger selber aussuchen, und das sollte eine Frau sein. Sie versuchte es zweimal und scheiterte zweimal. Die eine war eine selbstverliebte und unfähige Verteidigungsministerin, die andere regierte ein Bundesland mit weniger Einwohnern als Köln, wofür sie Intelligenz und Durchsetzungsvermögen nicht benötigte, aber dafür Fähigkeiten zu Absprachen in kleiner Runde.
Beides hätte für Merkel eine Warnung sein können. Das war es jedoch nicht. Alexander stellt nicht die Frage nach dem Warum, und dies ist leider symptomatisch für sein Buch. Zwar zeigt er treffend, wie häufig Merkel ihre politischen Positionen wechselte – politische „Überzeugungen“ hatte sie niemals, denn diese könnte sie nicht innerhalb weniger Atemzüge aufgeben –, aber er lässt unbeachtet, dass sich damit auch das politische Personal um sie herum veränderte, von Personen mit eigenständigen Positionen zu anpassungsfähigen Komplizen.
Einige Behauptungen Alexanders sind erstaunlich: „Es ist Merkels feste Überzeugung: Politiker können sich nicht gegen den Zeitgeist stemmen, sondern ihn nur in halbwegs vernünftige Bahnen lenken.“
Es sei dahingestellt, ob dies tatsächlich Merkels Überzeugung ist, auf jeden Fall ist diese Haltung unzutreffend – hätte Helmut Schmidt wohl sonst am NATO-Doppelbeschluss festhalten können oder Helmut Kohl dem Euro zugestimmt?
Komplizenschaft Merkels
Umfragen sind für Robin Alexander die wichtigste Währung zwischen den Wahlen. Armin Laschet hat ihn glatt widerlegt. Fast schon euphorisch schreibt Alexander über die Zustimmung der Deutschen für Merkel. Bei der Bundestagswahl 2017 erhielt die CDU 26,8 Prozent, ein Minus von 7,3 Prozent, ihr schlechtestes Ergebnis und nahe am Zweifel einer Volkspartei. Seitenweise bemüht er Rankinglisten über die beliebtesten Politiker. Tatsächlich jedoch sind diese reines Blendwerk, sodass fast zu vermuten sei, sie würden von Politikern selber in Auftrag gegeben. Alexander schildert eine Episode im Kanzlerflieger auf dem Weg nach China im September 2019.
Die mitfliegenden Bosse deutscher Konzerne stimmten ab, ob sie die Kanzlerin zur Auseinandersetzung über ungleiche Handelsbeziehungen mit der chinesischen Führung bewegen sollten. Sie lehnten ab. Aber Alexander gibt keine Auskunft über das konkrete Abstimmungsergebnis, und er weist auch nicht darauf hin, dass die Mehrheit von ihnen angestellte Manager waren, die mit einem guten Chinageschäft ihre beträchtlichen Boni zum Jahresabschluss sichern wollten – zumal ihr Wortführer Kaeser von Siemens damals schon wusste, dass der Aufsichtsrat seinen Vertrag nicht mehr verlängern wird. Da Alexander diese Episode nackt im Raum stehen lässt, unterstellt er den Managern blinde Chinafreundlichkeit. Das ist naiv.
Das Buch ist eine Abrechnung mit der Politik von Frau Merkel, aber hatte sie nicht bei jeder ihrer einzelnen Entscheidungen Personen an ihrer Seite, Politiker, Unternehmer, Professoren und Journalisten? Die Spitzen der SPD haben widerspruchslos ihre Entscheidungen mitgetragen, später auch die Grünen mit der Begründung, Merkel hätte ja „Grüne Positionen“ übernommen, was Alexander auch anführt, aber er stellt nicht die Frage, wie die Grünen mit einer solch eigenartigen Begründung ihren Kanzleranspruch legitimieren wollen.
Die Führungen von SPD und Grünen gehörten zur Komplizenschaft Merkels. Ohne umfangreiche und willfährige Komplizen hätte sie keine einzige ihrer für unser Land verheerenden Entscheidungen durchsetzen können. So packend sich die Sezierung von Alexander liest, ohne ihre Komplizen gleichrangig zu behandeln, ist sein Buch nur halbwertig. Über die Jahre hinweg hat sich Merkel darauf konzentriert, Komplizen zu finden, und später sind sie ihr gleich massenhaft zugeströmt. Diese enorme Komplizenschaft, bis in weite Teile der deutschen Eliten hinein, ist das bis jetzt nicht untersuchte „Geheimnis“ ihrer langen Zeit an der Macht.
„Entpolitisiert und risikoscheu“
In einem Zitat fasst Alexander seine Sicht auf Merkel zusammen: „Angela Merkel war der kleinste gemeinsame Nenner einer entpolitisierten, risikoscheuen Gesellschaft.“
„Entpolitisiert und risikoscheu“, ja, das trifft es, aber der „kleinste gemeinsame Nenner“ ist die Zusammenfassung der sich durch das Buch hindurchziehenden Schwächen. Merkel hat diese beiden Grundcharakterzüge der deutschen Gesellschaft vorgefunden, aber sie hat sich ihnen nicht entgegengestellt, sondern hat diese für ihren Machterhalt benutzt, indem sie beide einschneidend geformt und vertieft hat, deshalb konnte sie sich 16 Jahre an der Macht halten. Das verkennt Alexander.
Bei zahlreichen ihrer Entscheidungen wirkt sie wie eine Getriebene, so wird sie auch in diesem Buch dargestellt. Diese Einschätzung kam ihr stets entgegen, denn damit konnte sie sich mit ihrer „Alternativlosigkeit“ behaupten, weil es für jede ihrer Entscheidungen eine Alternative gegeben hätte. Dazu hätte es einen Sturm der Entrüstung in den Medien geben müssen, hätte, wären linksgrüne Journalisten Demokratie-affin, sind sie aber nicht, sie sind Sozialismus-affin. Armin Laschet hatte noch öffentlich darauf aufmerksam gemacht, dass Alternativen eine inhärente Eigenschaft von Demokratie sind, jedoch zu spät. Das führt Alexander auch an, aber er macht keinen Punkt, denn er wagt nicht, die einzig mögliche Folge daraus zu ziehen: Die Demokratie ist für Merkel bloß ein alter Hut. Mit dieser geistigen Einstellung konnte sie ohne jegliche Skrupel verfassungsmäßige Freiheitsrechte aufheben. Indessen nur zusammen mit ihren ähnlich diktaturaffinen Komplizen von Grün bis Linksextrem.
Besser lavieren, als gegen den Strom navigieren
Die Hälfte des Buches beschäftigt sich mit der Corona-Krise. Akribisch legt Alexander die eklatanten Schwächen der Regierung an ihren unentwegt aufeinanderfolgenden Fehlentscheidungen bloß. Hier erweitert Alexander das Wissen des Lesers nicht, er wiederholt nur.
Am Ende des Buches fällt das Fazit ernüchternd aus. Zwar hat Alexander von der Aureole um Merkel auch noch den allerletzten blassen Schein entfernt, aber Kritik am linksgrünen Mehrheitsjournalismus, der ja wesentlich Merkel gestützt hat? Zaghaft, zurückhaltend, zögerlich. Entlarvung der Komplizen Merkels und damit der Haltung breiter Teile der deutschen Eliten, die ihre Macht erst ermöglichten? Fehlanzeige. Widerspruch ja, aber bitte sich nicht zu weit von der alles beherrschenden Mehrheit entfernen. Damit ist er immer noch ein herausragender Journalist in Deutschland. Mehr ist offenbar nicht mehr drin.
„Machtverfall – Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report“ von Robin Alexander, 2021, München: Siedler. Hier bestellbar.