Klaus-Dieter Humpich, Gastautor / 12.02.2020 / 14:00 / Foto: Pixabay / 19 / Seite ausdrucken

Die Pilze von Tschernobyl

Strahlung ist ganz, ganz gefährlich. Einige Gramm Plutonium sollten ausreichen, um die ganze Menschheit zu vergiften – so erzählte man sich einst an den Lagerfeuern von Gorleben. Wer etwas nachdenkt, kann diesen Unsinn sofort erkennen: Wurden doch allein zig Tonnen Plutonium bei den Kernwaffentests in die Atmosphäre freigesetzt. Aber dieser Irrglaube hält bis heute an. So ist doch inzwischen das Hauptargument gegen die Kernenergie der böse „Atommüll“, vor dem die Menschheit für Millionen Jahre geschützt werden muss. Genau dieses Scheinargument wird aus der Halbwertszeit von Plutonium – ganz nebenbei, ein willkommener Energiespender, viel zu schade zum Verbuddeln – hergeleitet.

Es gibt aber noch einen weiteren Einwand gegen eine übertriebene Strahlenangst. Wäre die Natur so empfindlich, gäbe es uns gar nicht. Radioaktiver Zerfall geht immer nur in eine Richtung. Mit jedem Zerfall, bei dem Strahlung ausgesendet wird, ist dieses Atom unwiederbringlich verschwunden. Deshalb war in grauer Vorzeit die Strahlenbelastung wesentlich höher als heute (zum Beispiel der Anteil an U235 im Natururan und seine Zerfallsketten). Das Leben auf der Erde musste deshalb von Anbeginn an „Selbstheilungsstrategien“ entwickeln, um sich überhaupt auf eine höhere Stufe entwickeln zu können. Erdgeschichtlich standen am Anfang die Pilze (sie sind weder Pflanzen noch Tiere), die das noch völlig karge Land vor Milliarden Jahren eroberten. Sie konnten lebenswichtige Mineralien gewinnen. Eine Eigenschaft, die sie bis heute auszeichnet. Allerdings wurden dadurch auch radioaktive Stoffe aufgenommen, mit denen sie umgehen mussten.

Pilze und Bakterien

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass schon 2008 in dem Trümmerfeld des Reaktors von Tschernobyl Pilze gefunden wurden. Sie siedelten teilweise auf den mit Brennstoffresten verschmutzten Graphitblöcken. Wohlgemerkt, mitten im Atommüll. Man hat schon lange den Verdacht, dass Pilze enorm widerstandsfähig gegenüber ionisierender Strahlung sind. So findet man in den Schichten der frühen Kreidezeit viele melaninhaltige Pilzsporen. In einer erdgeschichtlichen Periode, in der viele Pflanzen- und Tierarten schlagartig verschwunden sind. Man führt dies auf starke kosmische Strahlung durch ein astronomisches Ereignis beziehungsweise einen Nulldurchgang des Erdmagnetfeldes zurück. Es gab auch Überlegungen, Pilze zur Renaturierung stark verseuchter Gebiete einzusetzen, da sie auch radioaktive Stoffe begierig aufnehmen und aus ihrer Umgebung herauslösen.

In einer Studie von Dadachova und Casadevall ergibt sich noch ein ganz anderer Effekt: Alles deutet darauf hin, dass manche Pilze durch ihr Melanin ionisierende Strahlung zur Energieumwandlung nutzen können, analog dem Chlorophyll bei Pflanzen. Die Studien gehen auf Untersuchungen über den Pilz Aspergillus Niger aus dem „Evolution Canyon“ in Israel zurück. Dort hat man auf der Südseite eine 200 bis 800 Prozent höhere Sonneneinstrahlung als auf dessen Nordseite. Folglich ist der Melaningehalt bei den Pilzen auf der Südseite entsprechend höher. Diese Pilze wuchsen bei intensiver UV-Bestrahlung wesentlich besser. Wenn man diese Pilze einer Strahlung aus einer Co60-Quelle von bis zu 4.000 Gy aussetzte, wuchsen sie ebenfalls schneller.

Dies deutet daraufhin, dass sie nicht nur nicht geschädigt werden durch so hohe Strahlung, sondern vielmehr diese Strahlungsenergie nutzbringend über ihr Melanin umwandeln können. Inzwischen hat man nicht nur Bakterien und Pilze in der Reaktorruine in Tschernobyl gefunden, sondern auch im Kühlwasser von Reaktoren. Dort sind sie ebenfalls extremer Strahlung ausgesetzt. Bisheriger Spitzenreiter bei den Bakterien ist Deinococcus radiodurans mit einer Todesrate von 10 Prozent (letale Dosis, LD10) erst bei einer Dosis von 15.000 Gy. Zum Glück ist dies bei Bakterien eine Ausnahme. Üblicherweise setzt man zur Haltbarmachung von Lebensmitteln γ-Strahlen mit einer Dosis von 1.000 Gy ein. Escherichia coli-Bakterien haben beispielsweise eine LD10 schon bei 700 Gy. Ganz anders sieht es bei melaninhaltigen Pilzen aus. Viele dieser Hefe- oder Schimmelpilze haben eine LD10 erst bei 5.000 Gy.

Pilze wachsen Richtung Strahlung

Mit den „Tschernobyl-Pilzen“ wurden weitere, verblüffende Experimente durchgeführt. Sie wurden unterschiedlichen ionisierenden Strahlen durch Quellen aus P32 und Cd109 ausgesetzt. Bei all diesen Experimenten konnte festgestellt werden, dass sie bei gerichteten Quellen zumeist bevorzugt in diese Richtungen wuchsen – ähnlich wie Pflanzen, die sich nach dem Licht ausrichten. Harte Strahler (Cs137) wirkten positiver als weiche (Sn121). Pilze, die aus einer stark strahlenden Umgebung stammen, reagierten stärker als Pilze aus unbelasteten Regionen. Man kann also von einer Gewöhnung an die Strahlung ausgehen („radioadaptive response“).

In und auf der internationalen Raumstation (ISS) gibt es zahlreiche eingeschleppte Pilze. Die kosmische Strahlung ist dort natürlich sehr viel geringer (etwa 0,04 Gy pro Jahr), aber gleichwohl sind Pilze mit höherem Melaningehalt überproportional vertreten. Keinesfalls jedoch sind sie durch die jahrelange kosmische Strahlung abgetötet worden.

Eine Hypothese geht davon aus, dass das Melanin selbst auf ionisierende Strahlung reagiert und sich anpasst. Dies würde auch den „Lerneffekt“ durch längere Bestrahlung erklären. Es sind jedenfalls eindeutige Veränderungen nach der Bestrahlung in den ESR (electron spin resonance signal) und HPLC (high performance liquid chromatographie) Messwerten feststellbar. Dies betrifft zum Beispiel vierfach höhere Werte an NADH (Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid-Hydrogen), einem besonders starken Antioxidationsmittel. Ohne hier weiter auf Details einzugehen, kann man festhalten, dass bei einer 500-fachen Strahlendosis gegenüber der Hintergrundstrahlung bei verschiedenen Pilzen ein wesentlich schnelleres Wachstum mit mehr Kolonien und größerer Trockenmasse eintrat. Stark vereinfacht gesagt, scheint das Melanin ionisierende Strahlung zu nutzen, um CO2 in Biomasse zu verwandeln. Ferner schützt das Melanin die anderen Bauteile einer Zelle vor Strahlenschäden.

Der Kampf mit den Einheiten

Diese Untersuchungen und Erkenntnisse sind für einen Kerntechniker eher ein Randgebiet. Sie sind mit Sicherheit wichtiger für Biologen und Strahlenmediziner. Allerdings kann man sich damit eine gewisse Skepsis gegenüber dem Zahlenkrieg von „Atomkraftgegnern“ bezüglich „Atommüll“ und so weiter erhalten. Abschließend deshalb noch ein paar Worte zu den Einheiten und den Größenordnungen. Die Einheit Gray [Gy] beschreibt die pro Masse absorbierte Energie. 1 Gy entspricht einem Joule pro kg in SI-Einheiten. Früher verwendete man die Einheit [rad]. Wobei 100 rad einem Gy entsprechen. Eine sehr geringe Menge Energie. Sind doch rund 4.200 J nötig, um 1 kg Wasser um 1°C zu erwärmen.

Will man die biologische Wirksamkeit unterschiedlicher Strahlung erfassen (zum Beispiel Alphateilchen werden mit einem Strahlungs-Wichtungsfaktor von 20 multipliziert), geht man auf die Einheit Sievert [Sv] über. Die Energie von 1 J/kg bleibt bei beiden Einheiten gleich. Nun zu einigen Eckwerten: Eine Ganzkörperdosis von 5 Sv führt bei 50 Prozent der Menschen innerhalb von 30 Tagen zum Tod (ohne medizinische Versorgung). Beruflich strahlenexponierte Menschen dürfen einer jährliche Dosis von 0,020 Sv ausgesetzt sein. Maximal in einem einzelnen Jahr von 0,050 Sv. Eine in Deutschland lebende Person erhält eine mittlere effektive Dosis von 0,0021 Sv pro Jahr.

In diesem Artikel wurden bewusst alle Ziffern einmal ausgeschrieben und auf die üblichen Dezimalvorsätze verzichtet. Damit soll die in der Natur vorkommende Bandbreite von „Strahlengefahr“ deutlich gemacht werden. Möge dies ein Hinweis sein, warum es in Tschernobyl nicht „Millionen Tote“, ausgestorbene Wälder und eine „Mutanten-Show“ gibt. Ganz im Gegenteil: Die Natur erobert sich bereits sogar die Reaktortrümmer zurück. Die reale Welt hat halt wenig mit der Phantasie – oder sollte man besser dem Wunschdenken sagen – von „Atomkraftgegnern“ gemein.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Klaus-Dieter Humpichs Blog NukeKlaus.

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Thorsten Pallmauer / 12.02.2020

Wir dürfen gespannt sein, wann die Pilze auf dem Markt in Wuhan als Delikatesse gehandelt werden.

Dirk Göske / 12.02.2020

Vielen Dank für den sehr interessanten Artikel der sehr erhellend ist . Leider werden in diesem Land Entscheidungen nach Ideologie und politischem Machterhalt getroffen .

Holger Schönstein / 12.02.2020

HILFE: Das Problem sitzt 60cm vor dem Bildschirm und ist zu blöde… Was ist ein Nulldurchgang des Erdmagnetfeldes? Ich wäre um eine Antwort dankbar….

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